Interview

Expertin fordert internationale Untersuchung der deutschen Russland-Connection

Die Geopolitik-Expertin Jessica Berlin erklärt, warum Deutschlands Russland-Politik nicht aufgearbeitet wird und wieso die Ukraine in die Nato gehört.

Jessica Berlin in der Redaktion der Berliner Zeitung
Jessica Berlin in der Redaktion der Berliner ZeitungBenjamin Pritzkuleit

Bis zum 24. Februar war Jessica Berlin eine von vielen Expertinnen für Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Doch kurz nachdem Russland die Ukraine überfiel, legte sie ihre Arbeit auf Eis, um sich ganz der Unterstützung der Ukraine zu widmen. Sie wirbt lautstark und pointiert für eine massive Unterstützung des Landes. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung fordert sie eine internationale Untersuchungskommission, um Korruption deutscher Politiker in der Energie-Politik aufzuklären. Sie spricht über Angela Merkels Russland-Ehrfurcht und unsere Unfähigkeit, die Logik von Diktatoren zu verstehen.

Berliner Zeitung: Frau Berlin, Sie sind der weiteren deutschen Öffentlichkeit erst mit Beginn des Ukrainekrieges bekannt geworden – mit ganz eindeutigen Positionen. Woher nehmen Sie diese Gewissheit, dass Ihre Einschätzung genau die richtige ist?

Jessica Berlin: Vor allem aus meinen Erfahrungen in vielen Diktaturen dieser Welt. Ich habe in vier davon selbst gelebt und gearbeitet und war in Dutzenden anderen unterwegs. Ich habe mit eigenen Augen gesehen und erlebt, was das Leben und die Machtstrukturen in einer Diktatur ausmachen. Diese Erfahrungen bringe ich zusammen mit meinen Kenntnissen als Fachfrau im Bereich Internationale Sicherheit und Außenpolitik. Ich sehe und verstehe, dass wir gerade in sehr gefährlichen Zeiten leben. Und auch, dass Deutschland, dass die deutsche Bundesregierung über die letzten 20 Jahre hinweg viele gravierende Fehler gemacht hat.

Was verbindet denn die Diktaturen, die Sie erlebt haben, miteinander? Was müssen Menschen, die in Demokratien leben, an diesen Systemen verstehen?

Diktaturen leben von der Angst: Ihre Macht gründet sich auf der Angst der Bevölkerung vor Gewalt. Gleichzeitig leben sie aber auch selbst in permanenter Angst vor Bedrohungen – von außen und von innen. Was auch wichtig zu verstehen ist: Der Planungshorizont einer Diktatur ist viel, viel länger als der einer Demokratie. In einer Demokratie haben wir eine reaktive politische Kultur, öffentliche Meinung bedeutet etwas. Unsere Regierungen planen meistens nicht für die nächste Generation, sondern für die nächste Wahl. Diktaturen aber, wo eine Partei oder sogar eine Person jahrzehntelang an der Macht bleibt, planen für ihre geopolitische Position, aber auch gegenüber innenpolitischen Feinden über Generationen hinweg. Die Kommunistische Partei Chinas macht das, seit es die Volksrepublik China gibt. Auch der Kreml tut das seit Generationen.

Denken Sie, der bevorstehende deutsche Wahltag führt dazu, dass wir die Gefahren unterschätzen, die von Russland ausgehen?

Ja, das ist diese Quick-Win-Mentalität. Wenn Russland oder auch China uns etwas Günstiges anbieten, was ein kurzfristiges Problem für uns scheinbar löst, sind wir geneigt, auf diese Angebote einzugehen – und zwar auch, wenn sie uns langfristig schaden können. Diese Kurzfristigkeit ist für Diktaturen eine Waffe, die gegen uns verwendet werden kann.

Lassen Sie uns in die Vergangenheit schauen. Angela Merkel hat kürzlich erklärt, Sie habe nie an Wandel durch Handel geglaubt, aber erhöhte dennoch Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas. War eine andere Politik unter unseren demokratischen Umständen schlicht nicht durchsetzbar, quasi alternativlos?

Das ist schwer zu sagen. Sicher ist aber: Man hätte schon sehr viel früher erkennen können und müssen, dass Wladimir Putin einen Mafiastaat führt und kein sicheres Partnerland. Aber anstatt das zu tun und Konsequenzen zu ziehen, haben wir Menschenrechte und Werte gegen billiges Gas getauscht. Wenn Merkel und Scholz heute sagen, sie hätten nicht gewusst, was in Russland los war, ist das falsch. Wir wurden gewarnt, sehr konkret und direkt, aus Osteuropa und aus den USA. Wir haben uns bewusst dazu entschieden, diese Warnungen zu ignorieren, und leben jetzt mit den Folgen.

Sie fordern von Deutschland eine viel entschiedenere Unterstützung der Ukraine. Auf das Risiko eines Atomschlags angesprochen, argumentieren Sie, dass es für Putin taktisch nicht klug sei, Atomwaffen einzusetzen. Aber seine Entscheidung für den Angriffskrieg selbst hat nach unseren Maßstäben doch bereits etwas Irrationales. Könnten nicht weitere „irrationale“ Schritte folgen?

Niemand kann sich hundertprozentig sicher sein, was Putin tun wird. Aber wie ich vorhin gesagt habe: Diktatoren arbeiten immer mit Angst. Das russische Militär ist – entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise – am Arsch und ängstigt niemanden mehr. Putin spielt also den einzigen Trumpf aus, den er noch hat: Atomwaffen. Er erhofft sich Druck aus der Bevölkerung gegen die europäischen Regierungen, die in der Folge die Ukraine weniger unterstützen. So will er die Niederlage hinauszögern.

Infobox image
Benjamin Pritzkuleit
Jessica Berlin
ist deutsch-amerikanische Politologin und geopolitische Expertin. Seit 15 Jahren arbeitet sie mit Regierungsbehörden, gemeinnützigen Organisationen und Start-up-Unternehmen in Afrika, Asien, Europa, dem Nahen Osten und Nordamerika zusammen. Ihre Spezialgebiete sind Sicherheitspolitik, transatlantische Beziehungen, nachhaltige Wirtschaft und Technologie sowie die Reform der Entwicklungshilfebranche. Sie hat internationale Beziehungen (BA, Tufts Universität) und politische Ökonomie (MSc, King's College London) studiert. Seit Anfang Februar unterstützt sie Hilfs- und Spendenaktionen für die Ukraine und nimmt verstärkt eine kommentierende Rolle zum Ukraine-Krieg ein. Sie spricht regelmäßig bei Deutsche Welle News und trat zuletzt bei Sandra Maischberger und Markus Lanz auf. Berlin ist auch Visiting Fellow beim German Marshall Fund. Neben Deutsch und Englisch spricht sie Französisch, Chinesisch und Dari.

Sie nehmen die Drohungen also nicht ernst?

Doch, und das müssen wir auch. Aber wir müssen es als das sehen, was es ist: eine Drohung und keine sichere Abfolge von Ereignissen. Blicken wir doch in die Geschichte: Wladimir Putin reagiert nur auf Stärke. Wenn man verhandeln will und klein beigibt, sieht er das als Schwäche und fühlt sich bestätigt. Er ist ein klassischer Bully und hat gelernt, unsere Ängste zu nutzen. Wir aber trauen uns nicht genug, auch seine Ängste zu nutzen. Diese zugegebenermaßen brutal klingende Realität wirkt auf die Deutschen gefährlich und nicht nachvollziehbar. Aber nur so kann man diesen Regimen entgegentreten. Wir müssen jetzt wieder lernen, mit solchen Situationen umzugehen. Wir sollten keine Angst vor dem Bully zeigen, sondern ihm Angst vor uns machen.

Bei Merkel ist die Ehrfurcht vor Russland aus der DDR hängengeblieben

Dass die Bevölkerung nicht versteht, wie man mit Regimen wie Russland umgehen muss, kann man sich vorstellen. Aber gestandene Politiker wie Scholz und Merkel sind doch geopolitisch bewandert. Denken Sie, Scholz liefert wenig Waffen, weil er glaubt, der Bevölkerung nicht zumuten zu können, noch mehr zu liefern? Oder um Putin nicht aufzubringen?

Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass Scholz geopolitisch besonders bewandert ist. Er hat keine wesentliche Auslandserfahrung außer Delegationsreisen, trifft immer wieder Fehlentscheidungen, hält sich aber scheinbar für einen kühnen Strategen. Bei Merkel wirkte das anders. Sie ist hochintelligent und kannte sich mit Russland besser aus. Aber aus dem Aufwachsen in der sowjetischen Machtwelt ist etwas bei ihr hängengeblieben, etwas, das Russland als selbstverständlich relevant und mächtig erscheinen lässt. So eine automatische Ehrfurcht vor Russland, die auch in der SPD häufig auftaucht und die Jahrzehnte der deutschen Außenpolitik schädlich geprägt hat.

Wie viel Korruption war bei den Geschäften Ihrer Meinung nach im Spiel?

Das muss nun geklärt werden. Wir müssen dringend aufarbeiten: An welchen Stellen war unsere Politik gegenüber Russland durch Korruption, wo durch Inkompetenz und wo durch zu kurzfristiges oder zynisches Selbstinteresse geprägt? Wir müssen verstehen, wie es so weit kommen konnte. Wir haben über die letzten zwanzig Jahre Geschäfte gemacht, die zuließen, dass wir von Russland und China infiltriert wurden und von ihnen abhängig geworden sind. Das war sicher nicht nur Korruption, aber wir müssen herausfinden, wo es sie gab. In geheimdienstlichen Kreisen im Ausland ist bekannt, dass Korruption und Inkompetenz in Deutschland eine Rolle dabei gespielt haben. Blicken wir allein auf Nordstream: Ein ehemaliger Stasimann (Matthias Warnig, Anm. d. Red.) bestimmt gemeinsam mit einem russischen Staatskonzern die deutsche Energiepolitik. Das ist eigentlich unfassbar.

Bisher gibt es einen Untersuchungsausschuss im mecklenburg-vorpommerischen Landtag, der die Arbeit der Fake-Klimastiftung und die Verantwortung von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig untersucht. Auf Bundesebene aber hört man nur ab und an Entschuldigungen aus der SPD. Von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen ist bisher nie die Rede gewesen.

Das liegt daran, dass die Parteien sich dann auch selbst untersuchen müssten. Wir bräuchten dazu eine internationale, unabhängige Kommission mit investigativen Journalisten, Antikorruptionsforschern und Cybersicherheitsanalysten. Übrigens nicht nur für Deutschland. Das ist ein Nato-weites Problem. Denken wir nur an Trump, der mit Hilfe russischer Einmischung an die Macht kam.

„Wir könnten ein Datum nennen, ab dem die Ukraine NATO-Sicherheitsgarantien bekäme – mit voller Wirkung des fünften Artikels.“

Denken Sie eigentlich, die Amerikaner haben wegen der Einmischung Russlands in die Präsidentschaftswahl 2016 noch eine Rechnung mit Moskau offen und unterstützen die Ukraine auch deswegen so stark?

Ich würde eher sagen, die Amerikaner haben verstanden, dass Russland mit ihnen noch eine offene Rechnung aus dem Kalten Krieg hat, die die nationale Sicherheit der USA bedroht. Auch wir müssen jetzt wach werden und handeln, für weinerliche Selbstbeschäftigung fehlt uns die Zeit.

Sie meinen, es fehlt die Zeit für Debatten?

Nein. Aber wir müssen lösungsorientiert debattieren und darüber sprechen, wie wir die Russen stoppen – nicht, ob wir sie stoppen. Stattdessen wird immer am Problem herumdefiniert und herumdiskutiert und so getan, als sei unklar, wer überhaupt der Feind ist. Wenn immer noch Leute der Meinung sind, es seien die Amerikaner, fehlen mir die Worte. Dasselbe gilt für die Kapitulationsforderungen an die Ukraine.

Was ist denn Ihre Lösung? Waffen liefert der Westen ja bereits. Sollten wir die Ukraine in die Nato aufnehmen?

Ja. Das geht durch die Statuten nicht von heute auf morgen. Die Ukraine hat letzten Monat offiziell einen Antrag auf Nato--Mitgliedschaft gestellt; die Nato sollte ihr den Kandidatenstatus gewähren und Putin so eine Grenze aufzeigen. Bisher verfolgt Putin die Taktik, dem Westen zehn Schritte voraus zu sein. Selbst wenn wir reagieren und er fünf Schritte zurück machen muss, ist er immerhin fünf Schritte vorangekommen. So handelt er, seit er im Amt ist. Ich will nur an Tschetschenien, Georgien und Syrien erinnern. Dann kamen die Krim und der Donbass. Jedesmal geht er sehr weit und muss nur ein bisschen zurückrudern. Damit muss endlich Schluss sein. Wir selbst müssen strategisch proaktiv werden. Wir könnten ein Datum nennen, ab dem die Ukraine Nato-Sicherheitsgarantien bekäme – mit voller Wirkung von Artikel 5. Wir sagen damit: „Bis dahin haben Sie Zeit, Ihre Truppen vom ukrainischen Boden zurückzuziehen, Herr Putin.“

Ein ziemlicher Kollisionskurs. Die russische Verfassung verbietet, dass er die annektierten Gebiete wieder hergibt. Was machen wir, wenn Putin seine Truppen nicht abzieht? Er will schließlich nicht als Verlierer dastehen. Viele glauben, dass er, um das zu verhindern, auch eine weitere Eskalation in Kauf nimmt.

Das russische Verfassungsrecht ist hier nicht das Thema. Putin hat diesen rechtswidrigen Krieg auf Lügen und Täuschung aufgebaut. Er kann sich auch weitere Lügen und Geschichten ausdenken und den Krieg damit beenden. Er steht bereits jetzt schon als Verlierer da – seine Drei-Tage-Spezialoperation ist inzwischen acht Monate alt! Es ist sinnlos, sein Verhalten und seine Empfindlichkeiten aus unserer „rationalen“ westlichen Perspektive zu analysieren. Er folgt der Logik der Gewalt und der Macht. Noch sinnloser ist es, unsere Entscheidungen auf die Bedürfnisse des Egos eines mörderischen Diktators zu stützen. Er droht mit einer Eskalation, um die Nato-Mitgliedstaaten einzuschüchtern, ihre Hilfe für die Ukraine zu reduzieren. Wir müssen seinen Drohungen mit Gelassenheit begegnen und die Unterstützung für die Ukraine verstärken. Taktisch gesehen kann Russland diesen Krieg nicht gewinnen. Je schneller wir der Ukraine helfen, die russischen Invasoren von ukrainischem Boden zu vertreiben, desto eher wird das Töten beendet werden.

Verstehen wir Sie richtig: Mit der Bereitschaft zur Kollision wird ebendiese unwahrscheinlicher oder sogar verhindert?

Lassen Sie es mich so erklären: Wenn die bisherige deutsche Sicherheitspolitik eine Fußballmannschaft wäre, dann wären wir Griechenland in der EM 2004. Alle standen praktisch nur vor dem Tor und haben verteidigt. Wir haben damals gesehen: Mit viel Glück kann man manchmal irgendwie durchkommen. Aber Glück ist für die Sicherheitspolitik keine Strategie. Oder ein anderes Beispiel aus dem Sport: Stellen Sie sich einen Boxkampf vor. Kann man einen Kampf gewinnen, indem man sich mit einer hohen Deckung in die Ringecke stellt, nie zurückschlägt und hofft, dass der Gegner einen nicht zu sehr verprügelt? Nein. Der Gegner muss auch Angst haben, verprügelt zu werden, wenn man überhaupt eine Chance haben will.

Aber dazu ist man ja offensichtlich nicht bereit. Warum widerstrebt uns Deutschen das so? Ist es Angst vor der Verantwortung an der Eskalation?

Das hat sicherlich auch mit der deutschen Rolle im Zweiten Weltkrieg zu tun. Es ist richtig, sich daran zu erinnern und richtig, militärische Verantwortung Deutschlands genau abzuwägen. Aber man muss sich auch in Erinnerung rufen: Wir leben hier nur in Freiheit und Demokratie, weil andere uns von den Faschisten befreit haben, weil sie gekämpft haben, weil sie dafür gestorben sind. Deswegen fällt es mir manchmal so schwer, diese Mentalität in Deutschland mitanzusehen. Eigentlich sollten wir es doch von allen am besten wissen.

Ist es das, was Sie antreibt? Die historische Verantwortung der Deutschen?

Ja, unter anderem. Meine Familiengeschichte hat mich in einem sehr jungen Alter in die Richtung der internationalen Außenpolitik gedrängt. Ich wollte dafür sorgen, dass es keine Kriege mehr gibt. Als Deutsche fühle ich mich persönlich verpflichtet, alles zu tun, um den europäischen Frieden zu verteidigen. Das treibt mich an. Ich habe meine normale Arbeit seit April eingestellt und setze mich ehrenamtlich in Vollzeit dafür ein, dass die Ukraine mehr Unterstützung bekommt.

Entschuldigen Sie die persönliche Frage, aber wie schaffen Sie das denn finanziell?

Bis vor kurzem von meinen Ersparnissen. Jetzt kommen Spenden dazu, weil eine Freundin mich überredet hat, ein Crowdfunding-buy-me-a-coffee-Konto einzurichten. Das deckt gerade so die Lebenskosten. Aber jedes Mal, wenn es schwierig wird, denke ich an die Menschen in der Ukraine, die gerade alles aufgeben – im Zweifel auch ihr Leben. Alles, was wir hier aufgeben, ist nichts im Vergleich zu dem, was sie dort opfern. Ich denke auch an meine Großeltern. Auch sie haben Krieg, Hunger und Vertreibung überlebt und mussten viel opfern.

Haben Sie sich auch zuvor schon so eingesetzt oder erst mit Beginn des Krieges in der Ukraine?

Ja, das ging eigentlich mit Afghanistan los. Ich habe dort von 2011 bis 2012 gearbeitet, und im Sommer 2021 habe ich meine normal Arbeit bereits drei Monate unterbrochen, um bei der Evakuierung zu helfen. Das war eine extrem stressige, traurige Zeit. Die Bundesregierung hat sich schwer blamiert und tausende Afghanen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, den Taliban überlassen.

Wir haben viel über Russland gesprochen, doch auch China wird immer stärker als Bedrohung erkannt. Vor allem auf Drängen des Bundeskanzlers hin wird der chinesische Staatskonzern Cosco nun beim Hamburger Hafen einsteigen, obwohl alle Fachminister der Bundesregierung sich dagegen ausgesprochen haben.

Im besten Fall ist das Dummheit. Aber Scholz ist kein dummer Mann und deswegen frage ich mich, wie er zu dieser Entscheidung kommt. Vielleicht will er als ehemaliger Hamburger Bürgermeister seinen Ex-Kollegen einen Gefallen tun. Vielleicht will er einfach nicht zugeben, dass er falsch lag. Wir wissen es nicht genau. Jedenfalls hätte das nicht passieren dürfen. Es ist brandgefährlich, jetzt weitere kritische europäische Infrastruktur an China zu verkaufen. Scholz hätte da gestoppt werden müssen. Jetzt senden wir nach Peking, Moskau, Riad und Teheran die Botschaft, dass deutsche Zeitenwende-Ankündigungen nichts wert sind. Dass kurzfristige und wirtschaftliche Interessen immer noch mehr zählen als unsere langfristige Sicherheit und demokratische Werte. Wenn ich sein Koalitionspartner wäre, wäre das für mich Anlass für ein Misstrauensvotum.

Könnte es nicht sein, dass Scholz gar keine Wahl mehr hat, dass wir von China schon so abhängig sind, dass Scholz erpressbar ist? China könnte Fabriken deutscher Autobauer schließen und noch viel mehr dicht machen. Bei Antibiotika-Medikamenten sind wir bereits zu 100 Prozent von China abhängig.

Das wäre doch nur ein weiterer Grund, sich nicht noch abhängiger zu machen. Die Bundesregierung muss ein sicherheitsstrategisches Ziel ausarbeiten: Mit wem wollen wir handeln? Wohin verlagern wir Produktion, die jetzt in China ist? Wie kommunizieren wir der Bevölkerung die Entbehrungen, die auf uns zukommen? Denn es kommen harte Zeiten. Aber wenn wir ehrlich mit uns selbst und miteinander sind und zusammenhalten, dann kommen wir da durch.

„Wer jetzt nicht in Afrika investiert, wird das in 20 Jahren bereuen“

Was sind denn unsere Optionen für verlässliche Partner, mit denen wir in der Zukunft zusammenarbeiten?

Um nur ein Beispiel zu nennen: Afrika. Der panafrikanische Markt ist im Kommen. Er ist massiv und wird von der EU enorm unterschätzt. Wir haben viel mehr Möglichkeiten, Geschäfte mit afrikanischen Partnern zu machen, als die meisten Unternehmen und Politiker in Deutschland wahrnehmen. Ich habe vor 15 Jahren in Ruanda gelebt und war seitdem beruflich sowie privat in vielen afrikanischen Ländern unterwegs. Es ist erstaunlich, wie weit die führenden afrikanischen Märkte allein in den letzten zehn bis 15 Jahren gekommen sind. Wer jetzt in Afrika nicht investiert, wird das in zwanzig Jahren bereuen. Das sind junge Länder voller talentierter junger Leute und mit einer stets wachsenden Mittelschicht mit steigender Verbrauchernachfrage. Da können deutsche Exporte und Wertschöpfungsketten auch hin. Länder wie Namibia und Mauretanien investieren ebenfalls stark in die Wasserstoffproduktion; sie werden saubere Energie nach Europa exportieren können. Mehr afrikanisch-europäischer Handel ist ein Win-Win sowohl für die afrikanische als auch für die europäische Wirtschaft und Sicherheit.

Aleksander Solschenizyn hat in seinem „Archipel Gulag“ über den stalinistischen Terror geschrieben: „Wir haben die Freiheit nicht genug geliebt. Und noch mehr – wir hatten kein Bewusstsein für die reale Situation. Alles, was danach geschah, haben wir schlicht und einfach verdient.“ Lieben die Deutschen die Freiheit nicht genug, Frau Berlin?

Wir lieben sie. Aber wir haben vergessen, dass die Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist. Wenn wir nicht bereit sind, für unsere eigene Freiheit und die Freiheit unserer Freunde zu kämpfen, müssen wir bereit sein, sie zu verlieren.