Essay

Nach Melnyk-Eklat: Die Deutschen haben auch ihre Mythen, etwa über die Wehrmacht

Andrij Melnyk hat Stepan Bandera nicht klar als Antisemiten und Faschisten bezeichnet. Dafür erntet er zu Recht Kritik. Die Deutschen drücken aber auch gern mal ein Auge zu, wenn es um ihre Geschichte geht.

Botschafter Andrij Melnyk
Botschafter Andrij MelnykBerliner Zeitung/Paulus Ponizak

Im dritten Anlauf hat es nun geklappt, den nun bald ehemaligen ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk wegen seiner Haltung zu Stepan Bandera ins Stolpern zu bringen. Sein Auftritt bei Tilo Jung, wo er den Nationalistenführer als „Inbegriff des Freiheitskämpfers“ charakterisierte, löste eine intensive Auseinandersetzung mit Bandera aus und weckte erhebliche Zweifel an Melnyks Integrität.

Schließlich leugnete er dessen von Antisemitismus und faschistischen Anschauungen durchzogene Ideologie ebenso vehement wie Banderas Kollaboration mit den Deutschen im Zweiten Weltkrieg und die Beteiligung zahlreicher Mitglieder der von ihm geführten Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN) an Mordaktionen gegen Juden und Polen.

Melnyk redete sich um Kopf und Kragen

Anders als 2015, als Melnyk einen Kranz am Münchner Grab des 1959 dort ermordeten Bandera niederlegte und anders als im April dieses Jahres, als Heribert Prantl Melnyks Haltung zu Bandera in der Süddeutschen aufgriff, folgte auf die 19 Minuten „Jung & Naiv“ eine Debatte.

Melnyk, der seine Bekanntheit vor allem seiner polternd vorgetragenen Kritik an der zögerlichen und oft lauwarmen Unterstützung der Bundesregierung für die angegriffene Ukraine verdankt, redete sich hier um Kopf und Kragen. Selbst die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann konnte ihre Schadenfreude darüber nicht verhehlen, dass Melnyk vor laufender Kamera auch selbst einmal zur beleidigten Leberwurst wurde, und empfahl das Video auf Twitter als „sehenswert“.

„Bald wissen Deutsche mehr über Bandera als über ihre Großväter“

Zahlreiche Medienbeiträge zeigten seitdem auf, welche Fakten Melnyk ausblendete – etwa an welchen Verbrechen Bandera direkt beteiligt und für welche er zumindest ideologisch haftbar zu machen war. An berechtigter Kritik an und Empörung über den Botschafter, der einen Faschisten und Nazi-Kollaborateur in Schutz nimmt, fehlte es ebenfalls nicht. Auch nicht an scharfen Urteilen darüber, was das über die Person Melnyk oder auch über die heutige Ukraine aussagt: Dort ziehen viele die mythische Verklärung Banderas zum tadellosen Freiheitskämpfer einer ehrlichen Auseinandersetzung mit dessen Verbrechen vor.

Was aber sagt diese Debatte über unsere Gesellschaft aus? Filipp Piatov, Redakteur bei Bild, fasste es auf Twitter in nur einem Satz zusammen: „Bald wissen viele Deutsche mehr über Bandera als über ihre eigenen Großväter.“ Zwar gelten Bild-Journalisten landläufig nicht als die naheliegendsten Experten zur Einordnung historischer Debatten, doch trifft Piatov hier einen wunden Punkt. Denn wir Deutschen tragen den von Péter Esterházy verliehenen Titel als Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung gern, wenn es darum geht, scharfe Urteile über ost- und ostmitteleuropäische Nazihelfer und Antisemiten zu fällen. Bei den deutschen Tätern schauen wir ungern genauer hin. Wozu auch, wenn alles so schön bewältigt ist?

„Deutsche Herrschaft, ukrainischer Nationalismus, antijüdische Gewalt“

Dieser deutsche Habitus zeigt sich schon in der Formulierung von Jungs Fragen an Melnyk, wenn er davon spricht, dass „Nazis und Bandera-Leute 800.000 Juden umgebracht“ haben. Damit verwischt Jung auf mehreren Ebenen die Verantwortlichkeiten in unzulässiger Weise. Bandera-treue OUN-Einheiten haben im Sommer 1941 in der Westukraine mehrere Tausend Menschen, überwiegend Juden ermordet. Für den hunderttausendfachen Mord an Juden in der besetzten Sowjetunion zeichnen aber nicht amorphe „Nazis“, sondern aus deutschen Waffen-SS- und Polizeieinheiten rekrutierte Einsatzgruppen verantwortlich.

Beispielsweise waren in Babyn Jar auch Wehrmachtssoldaten an Erschießungsaktionen beteiligt. Moniert wurde Jungs unbekümmerter Umgang mit den Fakten etwa vom Historiker Kai Struve. Der hat in seiner Studie „Deutsche Herrschaft, ukrainischer Nationalismus, antijüdische Gewalt“ das Zusammenspiel zwischen deutschen Stellen und der OUN im Sommer 1941 detailliert und kenntnisreich analysiert und wurde vom Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) als Experte befragt. Im daraus resultierenden Online-Beitrag fand seine Kritik an Jung allerdings keinen Platz, eine redaktionelle Anmerkung darunter schob sie nach.

Ein bitterer Beigeschmack bleibt

Nicht erst in dieser Auseinandersetzung scheint es, als examinieren Deutsche die NS-Verbrechen öffentlich besonders genau, wenn nichtdeutsche Täter daran beteiligt sind. Erinnert sei etwa daran, dass die deutsche Justiz erst im Prozess gegen einen ukrainischen „Hilfswilligen“ zur Auffassung gelangte, dass Wachmannschaften von Konzentrations- und Vernichtungslagern auch ohne den Nachweis konkreter Tatbeteiligung an den dort verübten Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden können.

Das Urteil gegen Ivan Demjanjuk schrieb 2011 deutsche Rechtsgeschichte – nachdem zuvor deutsches Wachpersonal ungestraft davonkam. Kaum gewürdigt wurde dabei die Tatsache, dass Demjanjuk sich als ehemaliger Rotarmist in einem Kriegsgefangenenlager für diese Tätigkeit rekrutieren ließ, in dem zuvor tausende Gefangene an Hunger, Kälte und Krankheiten gestorben waren. Dass die Ludwigsburger Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen das Urteil nutzt, um auch gegen die wenigen noch lebenden deutschen Täter vorzugehen, verdient Anerkennung. Ein bitterer Beigeschmack bleibt dennoch.

Alle waren sie Widerstandskämpfer

Selbst da, wo von Kollaboration mit den Nazis keine Rede sein kann, schlägt das deutsche Chefbewältigerbewusstsein durch. Als das ZDF 2013 im Mehrteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ die fiktive Geschichte von fünf Freunden im Zweiten Weltkrieg erzählte, tauchte individuelle Schuld an NS-Verbrechen höchstens am Rande auf. Polnische Zivilisten und die Partisanen der Heimatarmee kamen hingegen als tumbe Antisemiten daher. Viktor, das jüdische Mitglied des Freundeskreises, muss sein Jüdischsein vor ihnen verbergen, während ihn am Ende sein deutscher Freund rettet.

Im Jahr 2018 gaben 18 Prozent der Befragten in einer von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ in Auftrag gegebenen Studie an, sie glauben, dass ihre Familie in der NS-Zeit Verfolgten geholfen habe. Wie aber kann trotz der vermeintlich so erfolgreichen Vergangenheitsbewältigung so ein Ergebnis zustande kommen? Filme, wie „Unsere Mütter, unsere Väter“ sind Teil der Antwort.

Mythos der „sauberen Wehrmacht“

Bei der Bewertung konkreter, individueller Verstrickung von „normalen Deutschen“ in NS-Verbrechen sind wir selten so klar und schnell, wie wir es von Ukrainern oder Polen zu erwarten scheinen. So dauerte es bis zum Jahr 2014, dass sich der schleswig-holsteinische Landtag offiziell von seinem ehemaligen Abgeordneten Heinz Reinefahrt distanzierte. Dieser hatte die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes geleitet, bei der mehr als 100.000 Aufständische und Zivilisten getötet wurden.

Der letzte umfassende Versuch, die deutsche Bevölkerung ohne Weichzeichner damit zu konfrontieren, dass viele „unserer Väter“ direkt an NS-Verbrechen beteiligt waren, dürfte die vor über 25 Jahren eröffnete Ausstellung „Vernichtungskrieg. Die Verbrechen der deutschen Wehrmacht“ gewesen sein. Die am Hamburger Institut für Sozialforschung erstellte Ausstellung war in zahlreichen deutschen Städten zu sehen und hatte hitzige Auseinandersetzungen ausgelöst.

Keineswegs nur Neonazis nahmen sie als Anschlag auf den lang gepflegten Mythos der „sauberen Wehrmacht“ wahr. Auch der CSU-Politiker Peter Gauweiler, einer der schärfsten Kritiker der Ausstellung, hing diesem Mythos offensichtlich an. Er unterstrich dies, indem er zeitgleich mit der Ausstellungseröffnung in München Blumen am Grab des unbekannten Soldaten niedergelegte.

Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber stellte sich hinter Gauweilers Kritik. Der ehemalige Wehrmachtsoffizier und SPD-Altbundeskanzler Helmut Schmidt erklärte, sich diese Ausstellung „nicht antun“ zu wollen und mied so die persönliche Vergangenheitsbewältigung. Inzwischen ist der Mythos der „sauberen Wehrmacht“ wissenschaftlich dekonstruiert. In vielen Familien hält er sich dennoch.

Ein weiterer schwieriger Punkt der deutschen Vergangenheitsbewältigung

Gerade vor diesem Hintergrund stünde es uns Deutschen gut zu Gesicht, zwar nicht die Kritik in der Sache, aber doch den Empörungseifer über Melnyks Bandera-Äußerungen zu zügeln. Nicht nur, weil man in Deutschland wissen sollte, wie schwer es ist, einen weitgehend von historischen Fakten gelösten Mythos zu entzaubern, sondern auch, weil die erst seit 1991 in einem demokratischen Staat lebende und sich seit 2014 im Kriegszustand befindende ukrainische Gesellschaft deutlich weniger Zeit und Ressourcen für die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit hatte als Deutschland heute oder in den 1990ern.

Ein weiterer schwieriger Punkt der deutschen Vergangenheitsbewältigung wird im Kontext des Ukrainekriegs deutlich. Wir teilen zwar großzügig die Verantwortung für Naziverbrechen mit anderen, reagieren aber empfindlich, wenn andere dabei mitreden möchten, was daraus zu lernen sei. So etwa in einem Interview mit dem Historiker Ulrich Herbert, das im Schatten der Melnyk-Bandera-Debatte in der taz erschien.

Verbrechen als geschichtlicher Sonderfall

Herbert ist zwar unverdächtig, die deutsche Täterschaft verschleiern zu wollen, hat er sich doch große Verdienste um die Erforschung von Nationalsozialismus und Holocaust erworben. Dagegen, wie etwa der laut Herbert vom Historiker zum Aktivisten gewandelte Timothy Snyder beides in Bezug zum Ukrainekrieg setzt, verwahrt er sich auf fast schon eifersüchtige Weise. Mit „Faschismus“ und „Hitler“ habe der nichts zu tun.

Die Verwendung der Begriffe Vernichtungskrieg und Völkermord hält er für ungeeignet. Für Ersteren sei das Ausmaß des Krieges nicht ausreichend, begründet er, vorrangig mit Opferzahlen und nicht mit der Art der Kriegsführung. Völkermord definiert er so eng, dass das Massaker von Srebrenica dies kaum erfüllen würde. Dies alles, so schulmeistert Herbert, würde nur herangezogen, „um die Deutschen bei der Ehre oder der historischen Moral zu packen“.

Es sei eine Aufforderung an „Linksliberale“ zu zeigen, dass sie es mit der Vergangenheitsbewältigung ernst meinen. Bei Herbert und manch anderem deutschen NS-Forscher scheint es so, als müsse man die historische Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus als geschichtlichen Sonderfall von Bezügen in Raum und Zeit abschirmen – oder doch nur von fremden Deutungen?

„Herr Melnyk, informieren Sie sich über meine wissenschaftliche Arbeit“

Wie sich solche Selbstbezogenheit mit Überheblichkeit gegenüber Osteuropäern kombinieren lässt, führte Harald Welzer ausgerechnet am 8. Mai bei Anne Will vor. Dort schwadronierte Welzer, immerhin Co-Autor eines 20 Jahre alten Buches über Nationalsozialismus und Holocaust im deutschen Familiengedächtnis, über die „ganz präsente Kriegserfahrung“ des Zweiten Weltkriegs.

Als Melnyk, Boschafter eines Landes im Krieg, ihn unter Verweis auf Millionen ukrainische Kriegsopfer darauf aufmerksam machen wollte, dass der Zweite Weltkrieg nicht nur Deutschland betraf, wollte Welzer das Argument nicht gelten lassen und empfahl: „Herr Melnyk, informieren Sie sich über meine wissenschaftliche Arbeit!“

Stephan Stach ist Historiker mit einem Schwerpunkt für ostmitteleuropäische Geschichte. Er promovierte 2015 an der Martin Luther Universität in Halle über polnische Nationalitätenpolitik 1918–1939 und arbeitete u.a. am Prager Institut für Zeitgeschichte und dem POLIN Museum für die Geschichte der polnischen Juden in Warschau.

Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de