Das Szenario ist gut bekannt und bestens durchexerziert. Die Regierung will eine „radikale Migrationswende“, das heißt die Einwanderung begrenzen, kann das aber nicht erreichen, weil sie von internationalen Konventionen, Verträgen, der eigenen Verfassung und Richtern, die diese anwenden, abgeblockt wird. In dieser Situation gibt es drei Auswege, von denen einer so unpopulär geworden ist, dass er im wirklichen Leben kaum noch vorkommt: Die Regierung hält sich ans geltende Recht, respektiert Gerichtsentscheidungen und verzichtet auf ihre „radikale Migrationswende“.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, die Richter zu beschimpfen und ihre Urteile zu ignorieren, so wie Trump und seine Gefolgsleute das seit Monaten in den USA tun. Die dritte beruht darauf, Maßnahmen, die verfassungswidrig sind, EU-Recht oder der europäischen Menschenrechtskonvention und der Genfer Flüchtlingskonvention widersprechen, durch nationale Gesetzesänderungen zu legalisieren und dafür zu sorgen, dass die eigenen Beamten dem Gesetz und ihren Befehlen folgen und die höherrangigen Vorschriften ignorieren. So machte es die PiS-Regierung in Polen, so macht es ihre Nachfolgerin, die Regierung Tusk.
Man könnte es das „polnische Szenario“ nennen, käme es nicht auch in Finnland zur Anwendung. Und jetzt, mit kleinen Änderungen, auch in Deutschland. Dort hat Innenminister Alexander Dobrindt die Bundespolizei angewiesen, Personen ohne gültige Aufenthaltstitel auch dann an den Grenzen zu den Nachbarländern zurückzuweisen, wenn sie Asyl beantragen. Die Sache ging vor Gericht und so aus, wie fast alle Juristen, die sich mit Asyl- und EU-Recht auskennen, das vorhergesagt haben: Das Gericht erklärte diese Praxis zu einem Verstoß gegen die Dublin-3-Verordnung, die jeden Mitgliedstaat verpflichtet, festzustellen, wer für einen Asylantrag zuständig ist.
Dobrindt tat das, in dem er eine Anweisung aus der Merkel-Zeit aufhob. Das entspricht ziemlich genau dem, was vor ihm die PiS-Regierung unter Mateusz Morawiecki tat: Sie unterlief mit Verordnungen höherrangiges internationales und EU-Recht. Aber Dobrindt tat noch etwas anderes: Vor Gericht berief er sich auf einen Notstand und mixte so schöpferisch die Methode Morawiecki mit der Methode Trump. Letzterer erfindet zurzeit einen nationalen Notstand nach dem anderen, um unter Berufung auf uralte Gesetze, die für uralte Notstände gemacht wurden, die aktuellen Gesetze und die Verfassung zu umgehen. Die Gerichte folgen ihm kaum, aber bis so ein „nationaler Notstand“ beim Obersten Gerichtshof landet, werden die entsprechenden Vorschriften erst einmal angewendet und Fakten geschaffen. So werden zurzeit in den verschiedensten Ländern der Welt Demokratie und Rechtsstaat unterlaufen: durch Attacken auf die Unabhängigkeit der Justiz und die Berufung auf angebliche Notstände.

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