Krieg

Raketen-Terror in Kiew: Ukrainer hoffen auf Demoralisierung der russischen Armee

In der Nacht zum Samstag erreichen die Nachrichten vom Aufstand Prigoschins in Russland die ukrainische Hauptstadt. Dann schlagen Raketen ein. Bericht aus Kiew.

Kiew, Ukraine: Blick auf ein im Krieg beschädigtes Hochhaus
Kiew, Ukraine: Blick auf ein im Krieg beschädigtes HochhausAndrew Kravchenko/dpa

Die Ärztin Natalya Hozbasenko läuft an ihren Rosenbeeten vorbei. Betonschutt ragt aus der Erde hervor. Von ihrer Gartenlaube ist nur noch ein Haufen Holzbretter übrig. Hochhäuser überragen Hozbasenkos einstöckiges Wohnhaus mit großzügigem Garten im Kiewer Distrikt Solomjanskyj wie Riesen. Im Turm hinter ihrem Haus klafft ein riesiges Loch. Trümmer einer von der ukrainischen Luftverteidigung abgeschossenen Rakete fegten durch eines der oberen Stockwerke und rissen mit, was sich darin befand: Zwischenwände, Möbel, Menschen.

Die Detonation riss die 67-Jährige und ihren Ehemann um 3 Uhr morgens aus dem Schlaf. Sie habe durch das Fenster einen riesigen Feuerball gesehen, erzählt sie. Ihr Mann und sie griffen sofort nach der Detonation zum Besen und kehrten noch in der Dunkelheit Trümmer von der Einfahrt. Sie fanden angebrannte Gardinen, Möbel und einen Teddybären, dem ein Bein fehlte.

Während das Wohngebäude hinter ihnen in Flammen stand und Rettungsteams in dem Hochhaus nach Verschütteten suchten, zeigte sich den Nachbarn in der aufziehenden Morgendämmerung das ganze Grauen. „Da hing ein toter Mann im Baum und eine Frau hat es mit dem Sofa auf das Dach der Fabrik gegenüber geschleudert. Sie trug noch ihre Hausschuhe“, sagt Hozbasenko.

Die Ärztin kämpft mit den Tränen. „Wer tötet Menschen im Schlaf?“, fragt sie.

Kiew und Charkiw: Schwere Angriffe mit Raketen und Drohnen

Die Russen feuerten mehr als 20 Raketen und Drohnen auf die ukrainische Hauptstadt ab. Geschosse schlugen auch in Charkiw und anderen Städten der Ukraine ein. Ein heißer Sommertag und ein lauer Abend gingen der Angriffswelle voraus. Die Ausgangssperre beginnt in Kiew seit März erst um 0 Uhr. Bis 22.30 Uhr sind Bars, Restaurants und Kneipen offen. Die Nachtschwärmer machten sich im Zentrum Kiews gerade auf den Heimweg, als die Nachrichtenticker die Meldungen über eine Meuterei in Russland verbreiteten. Viele hatten noch das letzte Bier in der Hand, als sie durch ihre Nachrichten scrollten.

Am Morgen nach dem Luftangriff drückt die Schwüle aus grauen Wolken auf Kiew. Während die Innenstadt am Tag zuvor noch voll war mit Flaneuren, sind nur einzelne Menschen unterwegs. Alle starren auf die Bildschirme ihrer Smartphones. Es liegt etwas Unheilvolles in der Luft.

Der Rechtsanwalt Dmytro Nazarets lebt im Distrikt Solomanskyj. Seine Tochter und er hätten den Angriff verschlafen, sagt er. Sein Entsetzen ist dennoch zu spüren. „Ich habe entschieden, dass meine Tochter wieder zu ihrer Mutter in die Schweiz geht. Hier gibt es keine Zukunft“, sagt er.

Nazarets Frau und Tochter flohen zu Kriegsbeginn in die Schweiz. Die Tochter litt furchtbar unter Heimweh und vermisste ihren Vater. Die Eltern entschieden sich mit einigen Bauchschmerzen im vergangenen Herbst dazu, der Tochter die Rückkehr nach Kiew zu erlauben.

Wer wird die Atomwaffen kontrollieren?

Einen Tag später ist der Aufstand in Russland beendet. Die offen zutage getretenen Risse im System des Feindes ändern an seiner Entscheidung nichts, sagt Dmytro Nazerets. Selbst wenn Russland im Bürgerkrieg zerfalle, wie nicht wenige Ukrainer hoffen, wären die Folgen verheerend. „Wir wüssten doch gar nicht, welche Fraktion dann die Atomwaffen kontrolliert und ob sie sie einsetzt“, sagt Nazarets. Er fürchtet außerdem eine Flüchtlingswelle, sollte der russische Staat zusammenbrechen.

Viele Ukrainer äußern die Befürchtung, dass Russen bei einer Eskalation der Lage in ihrem Land ausgerechnet in die von Russland überfallene Ukraine flüchteten. Die Angst ist groß, dass ein künftiges Russland dann noch mehr Gründe hätte, Landsleute vor einer angeblichen Unterdrückung durch die Ukrainer zu schützen.

Im Laufe des Tages machen in Kiew immer wildere Gerüchte die Runde. Putin sei aus Moskau geflohen, heißt es auf Telegram-Kanälen am Nachmittag. Der Aktivist Pavlo Kaliuk aus dem Kiewer Szeneviertel Podil warnt seine Follower auf Facebook davor, auf eine Revolution in Russland zu hoffen. „Das ist vielleicht nur eine Inszenierung des Aikido-Typs, um Verräter aufzuspüren“, schreibt er. Mit „Aikido-Typen“ meint er den russischen Präsidenten, dessen Namen Ukrainer nur ungern in den Mund nehmen.

Die vor zu viel Hoffnung warnenden Skeptiker sollten am Samstagabend recht behalten. Prigoschin bläst seinen Marsch auf Moskau ab. Der belarussische Diktator Lukaschenko verkündet eine erfolgreiche Vermittlung.

Auch die am linken Ufer des Flusses Dnipro lebende Menschenrechtlerin Anna Lenchovska verweigert sich irgendeiner Gefühlshaltung, solange die Fakten unklar sind. Auf die Frage, wie sich der Krieg nach der Einigung zwischen Prigoschin und Putin weiter entwickeln werde, sagt sie: „Wir werden sehen.“

Memes und Gifs zum Aufstand der Wagner-Söldner

In den sozialen Netzwerken machen neben Spekulationen und Gerüchten auch viele Gifs und Memes die Runde. Sie zeigen etwa eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt und an sich selbst erstickt. Viele Kiewer betonen, dass sie den Anführer der aufständischen Wagner-Gruppe, Jewgeni Prigoschin, mindestens so sehr verabscheuen wie Wladimir Putin. Manche sprechen von einem Operetten-Coup, einer Gangsterscharade. Präsident Selenskyj wendet sich in einer Botschaft auf Russisch an die Menschen im Nachbarland. Jeder könne nun die Schwäche des Regimes erkennen, und solange Putin an der Macht bleibe, blühten Russland weitere Katastrophen, erklärte Selenskyj.

Die Wagner-Gruppe gilt als berüchtigte Einheit, in der verurteilte Schwerverbrecher dienen. Sie wird zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt. „Es ist doch typisch, dass es in Russland keinen Aufstand gibt, um den Krieg zu beenden, sondern weil manchen das Töten noch nicht effizient genug ist“, sagt die Übersetzerin Anhelina Sardarian.

Einen Tag lang sah es so aus, als fänden die Wagner-Truppen mit ihrem Aufstand gegen den Kreml nun ein anderes Betätigungsfeld als die Ukraine. Und auch die russische Armee könnte in der Folge der Rebellion gezwungen sein, Kräfte von der Ukraine nach Russland zu verlegen. Für die bisher eher zäh verlaufende Gegenoffensive seien das gute Nachrichten, sagen ukrainische Militäranalysten. Die Ukraine erklärt noch am Abend, einen Gegenschlag an mehreren Fronten gestartet zu haben. Am Sonntag setzen ukrainische Militärblogger nicht mehr auf einen Rückzug russischer Kräfte, sondern auf ihre Demoralisierung. Ausgerechnet der als beinhart geltende Prigoschin hatte am Freitag Putins Beweggründe für den Angriff auf die Ukraine in der Luft zerrissen. Russische Soldaten stürben nicht im Kampf gegen eine Bedrohung aus der Ukraine, sondern für die Orden ihrer Generäle, tobte Prigoschin.

Der Präsident ist ein Monster, sagt die Ärztin

Die Ärztin Natalya Hozbasenko hat am Sonntag weitere Trümmer aus ihren Rosenbeeten entfernt. Sie hatte auf einen Sturz Putins gehofft. „Er ist besessen von unserem Land. Er redet von der Ukraine, als wären wir seine Geliebte, die ihn verlassen hat“, sagt sie. Der russische Präsident sei geisteskrank – und ein Monster, fügt sie hinzu.

Wladimir Putin gab den Befehl zum Einmarsch in der Ukraine. Jewgeni Prigoschin hat ihn maßgeblich mit umgesetzt. Hunderttausende russische Kämpfer folgten ihnen. Nun scheinen die beiden in der Ukraine verhasstesten Männer Russlands nach einem Tag des Bruderkampfs wieder auf einer Seite zu stehen. „Das ganze Land ist ein Sumpf“, sagt die Ärztin. Hozbasenko kämpft wieder mit den Tränen. Einen Tag lang hatte sie Hoffnung, dass nicht noch mehr Menschen im Schlaf sterben.