Kolumne

Thilo Mischke in Indien: Unser Wohlstand ist das Verderben der Menschen hier

Die Pharmaindustrie verseucht die Luft, macht die Kinder krank. Unser Kolumnist recherchiert in Hyderabad, Indien. Und bringt einem Kollegen das Schwimmen bei.

Indien: Gemüseverkäufer in Hyderabad warten auf Kunden.
Indien: Gemüseverkäufer in Hyderabad warten auf Kunden.NOAH SEELAM/AFP

Ravi japst und kämpft sich mutig durch das Wasser, die Hände bewegen sich wild, die Füße stoßen im Pool umher. Panik treibt ihn an, verhindert, dass er ertrinkt. „Ruhig und konzentriert!“, rufe ich Ravi zu. Aber es hilft nichts, Ravi geht unter.

Ich stoße mich an der Poolwand ab, schiebe meine Hände unter seinen Bauch und hebe seinen Kopf über das Wasser. Prustend und angsterfüllt sieht er mich an. „Schon gut“, sage ich. „Wir kriegen das schon hin.“

Ravi ist kein Kind, nein, er ist ein 32 Jahre alter Mann, ein Kollege aus Indien, der mich während einer Recherche hier in Hyderabad unterstützt.

Irgendwann, während eines Abendessens, habe ich ihm von meiner großen Freude am Schwimmen erzählt, von meiner Sehnsucht nach der einzig guten Sache in West-Berlin: dem Prinzenbad, dem selbstgemachten Quark mit Honig und Walnüssen dort, dem immer zu kalten Schwimmerbereich, und dass ich mich, seit Corona, am Beckenrand ganz ohne Scheu umziehe, dem Ahorn, der seine Nasenblüten fallen lässt, der Ahorn, den ich jahrelang für eine Linde hielt.

Das Schwimmen nimmt mir die Angst

Davon erzähle ich Ravi. „Ich kann nicht schwimmen“, sagt er. Und ich, sehr selbstbewusst: „Ich bringe es dir bei!“

Seit diesem Gespräch treffen wir uns jeden Morgen um 7.30 Uhr am Hotelpool. Zuerst ziehe ich meine Bahnen, verarbeite, was ich sehe; lerne, die Welt durch konzentrierte Züge besser zu verstehen. Was andere im Traum machen, das Organisieren und Ablegen von Erinnerungen, mache ich mit dem Kopf unter Wasser, im Schwimmbecken. Ich muss das tun, sonst werde ich wahnsinnig.

Gelernt habe ich das noch in der DDR, als Kind, schwimmend, mit schwarz-weiß geringeltem Stock getriezt. Hinten, am Volkspark Friedrichshain, im Schatten großer Häuser, habe ich gelernt, das Schwimmen zu hassen; aber jetzt, 30 Jahre später, liebe ich es. Ich will es Ravi beibringen, damit auch er diese Ruhe spüren kann.

„Ich habe Angst“, sagt er. Wir stehen beide am Beckenrand, er bis zum Kinn im Wasser, ich bis zur Brust. Aber das gemeinsame Schwimmen nimmt ihm nach und nach die Angst, er wird besser; erst irrt er im Wasser umher, dann ist er konzentriert, es dauert nicht lange, da fürchtet er sich nicht mehr vor den 1,40 Metern Wassertiefe. Er sieht mich an, glücklich, lacht wieder wie ein Kind, das nicht die Freude am Leben oder am Schwimmen verloren hat. „Look!“, ruft er. Und ich lobe ihn. Weil er auf dem Rücken treibt und viele Haare am Bauch hat, erinnert er mich an einen schlafenden Otter im Wasser. Ich sage ihm das.

„Ich bin kein Otter“, antwortet er. Wir beide sind zwei glückliche Männer, und Ravi versteht nun auch, warum ich stoisch jeden Morgen hier schwimmen gehe.

Die Luft ist sauer, das Atmen fällt schwer

„Man vergisst, was draußen ist, weil man so konzentriert ist, nicht unterzugehen.“ Ich nicke. Wie viele Sportarten gibt es, die einen bei Falschausübung mit dem Tod bestrafen? Nicht viele. Wer nicht konzentriert ist, geht unter. Und diese ständige Bedrohung, die spürt das Hirn. Mein Hirn.

Ravi übt Beinschlag, ich übe Vergessen. Denn das, was ich hier in Indien erlebe, das benötigt viele Bahnen, um es zu verarbeiten. Ich bin hier, weil ich zu Antibiotika-Resistenzen recherchiere. Und ich sehe diese Industrie. Ich denke, heute, im Becken, nach 500 Metern, an die Mütter in den deutschen Nachrichten, die sich um den Hustensaft für ihre Kinder sorgen. Die sich um ihre Kinder sorgen. Wir wurden in diesem Winter daran erinnert, wie schnell alles vorbei sein kann. Dieser sogenannte Wohlstand.

Nach 1000 Metern denke ich an die Mutter, die ich gestern traf. Mit ihrem Kind in einem Haus in Indien lebt sie. Nahe der Fabriken. Die Luft ist sauer, der Regen färbt die Kleidung, Atmen fällt schwer. Im Dunklen eines kleinen Hauses, aus losen Ziegeln gebaut, ein Zimmer, die Frau sitzt dort, hält ihr Kind, ein Bündel. Eines von vielen Bündeln hier in Indien. Zwölf Jahre alt, so groß wie ein fünfjähriges Kind. Ein Junge, kann kein Essen schlucken, er stößt auf, die Augen im Wahnsinn verdreht, die Beine dünn, von sich gestreckt, wie ein Meeresbewohner verloren an Land, liegt er im Schoß seiner erschöpften Mutter. Er wimmert, die Mutter ganz ohne Tränen, ausgeweint, erzählt von der giftigen Luft, die ihr Kind krank gemacht hat.

Mein Wohlstand erzeugt dieses Leid

1500 Meter, und ich versuche zu verstehen, was dort passiert, und erlebe es so oft. Unser Wohlstand ist ihr Verderben. Und ich werde müde, langsam, nach Jahren, nach den gleichen Schicksalen, ausgelöst durch unterschiedliche Industrien. Ob Pharma, Waffen, Plastik, Autos, Computer, ob Öl oder Kokain, ob Heroin oder Batterien: Am Ende sitze ich in dunklen Häusern und rede mit Müttern über ihre Kinder. Ihre toten Söhne, ihre kranken Töchter, ihre verschwunden Kinder, ihre vergewaltigten Kinder.

2000 Meter, und Ravi hält mich an der Schulter. „Ist alles okay“, fragt er mich, und ich sehe ihn an. Unter dem Wasser sind meine Tränen unsichtbar. Gestern noch saß ich neben dieser Frau, musste weinen, habe mich nicht getraut aufzustehen, habe mich nicht getraut, sie zurückzulassen in diesem Haus, habe mich nicht getraut zuzugeben, dass mein Hustensaft, mein Paracetamol, mein Aspirin dieses Leid erzeugen. Mein Wohlstand.

„Alles okay“, sage ich zu Ravi. Und dann will er mir zeigen, wie er brustschwimmt. „Wie ein Frosch, hast du gesagt“, und er stößt sich ab. Gleitet durch das Becken, lässt mich verstehen, aber nicht vergessen, was wir dieser Welt antun.

Aber immerhin schwimmt nun ein Mensch mehr. Wer schwimmt, kann nichts Schlechtes tun, denke ich. „Das bringe ich meiner Tochter bei“, sagt Ravi. Und er ist glücklich.