Kolumne

Thilo Mischke: Womit haben die Menschen in Nigeria diesen Hass verdient?

In Nigeria könnten bald mehr Menschen leben als in ganz Europa. In den sozialen Netzen kocht die Angst davor hoch. Unser Kolumnist reist in die Stadt Lagos.

Auf einem Markt in Lagos im Juni 2022
Auf einem Markt in Lagos im Juni 2022Shengolpixs/imago

Während ich in einem kleinen Holzboot in Lagos, Nigeria, sitze und versuche, das Gleichgewicht zu halten, muss ich an Twitter denken. An diesen Nachrichtendienst im Internet; ich bedauere das in diesem Moment. Ich bedauere, dass ich mich nicht auf die Situation konzentrieren kann.

Ein Kind steuert mit einem langen Stab das Boot durch das schwarze Wasser, um mich herum Holzhäuser auf Stelzen. Es riecht furchtbar. „Fall bloß nicht rein“, ruft mein nigerianischer Sicherheitsmann mir zu. Angsterfüllt halte ich mich fest, das Boot schaukelt, ich sehe hoch, durch die Häuser, vorbei an allem, in den bewölkten Himmel über der Stadt. Es sind 37 Grad, die Luftfeuchtigkeit unerträglich hoch. Die Häuser, verbunden durch tödlichen Morast, Straßen aus Wasser. Es ist wie Venedig, nur aus der Hölle.

Ich wollte hier hin. Ich bin das zweite Mal in meinem Leben in Nigeria. Beim ersten Mal stand ich fast drei Stunden neben dieser Wasserstadt, an der Küste von Lagos, im Stau. Auf einem Highway, gebaut, damit der Verkehr über die Armut dieser Stadt geleitet werden kann. Habe sie beobachtet, die kleinen Schiffe, die aus dem undurchsichtigen Gewirr aus Häusern kommen. Und ich habe mich gefragt: Wie ist dieses Leben wohl dort? Wie ist es dort drinnen?

„Ihr habt 20 Minuten“, sagt unser Sicherheitsmann. Ein riesiger Mensch, oft stellt er sich schützend vor mich, wenn Beamte mich an Kontrollpunkten anbrüllen; wenn ich auf Marktplätzen verloren gehe, findet er mich, nimmt mit seiner riesigen Hand meine Hand und zieht mich aus der Menschenmenge. Er passt auf mich auf, damit ich nicht verloren gehe. Manchmal hält er meine Hand auch einfach nur so, ich fühle mich nicht nur sicher mit ihm, sondern auch wohl.

Anwohner und Kleinhändler in einem Kanu verkaufen Waren in der Fischergemeinde Makoko in der Lagune von Lagos.
Anwohner und Kleinhändler in einem Kanu verkaufen Waren in der Fischergemeinde Makoko in der Lagune von Lagos.Emmanuel Osodi/imago

Ich schäme mich, wenn ich an Twitter denke

„Dass du nicht gekidnappt wirst“, sagt er. Zwanzig Minuten würden hier, an diesem Ort reichen, es würde sich herumsprechen, dass Menschen hier sind, die Millionen wert sind, aus Ländern, die erpresst werden können. Und trotzdem, ich habe hier keine Angst. Ich muss an Twitter denken.

Daran, wie Menschen vor wenigen Tagen Statistiken getwittert haben, zu Nigeria. Das hier 2040 mehr Menschen leben werden als in Europa. Dann wurde in der gesammelten Hässlichkeit jener, die nicht wissen, wie die Welt funktioniert, aber Angst vor ihr haben, geätzt. Gegen den Schwarzen Mann, gegen die Menschen, die alles wollen, aber nichts geben. Menschen aus Deutschland, Journalisten, die sich in Hass ergehen, als gäbe es keine Alternative. Sie schreiben Artikel und behaupten zu wissen, wer „der Nigerianer“ ist. Und wie schlimm es wäre, wenn „diese Menschen“ nach Deutschland kämen.

Und ich sitze auf diesem Boot und schäme mich, muss daran denken, was sie bei Twitter über Menschen wie diese hier denken. Es gehört nicht viel Bildung dazu, zu verstehen, warum diese Menschen in dieser Situation sind, in der sie sich befinden.

Der Sicherheitsmann, er hat Tränen in den Augen, als er die Armut seiner Landsleute sieht. Männer, die nur durch den warmen Schimmer einer Opioidsucht die Wirklichkeit ertragen, sitzen und warten darauf, dass sie sterben. Kinder, die berauscht von der Unschuld der Kindheit spielen. Alte Frauen, die keine Kraft mehr haben, aber für ihre Familie weitermachen. Der Sicherheitsmann kann nicht mehr.

Diese Menschen waren mal Fischer, bevor ihnen europäische Konzerne die Gründe zerstörten. Jetzt sind sie nur noch Überlebende.

„Die Ärmsten der Armen“, sagt der Sicherheitsmann, Schweiß rinnt, dann nimmt er meine Hand und zieht mich aus der Stelzenstadt, die sich mit der unverhohlenen Armut in mein Erinnerungsvermögen gebrannt hat.

Ich denke an diese Twitterer, sie machen mich wütend, denke an diese Deutschen, die sich immer wünschen, nicht als Nazis bezeichnet zu werden. Die sich gegen Schwarze, Transpersonen, Heizkörper, Gendern auflehnen, die nicht kritisieren, sondern nur pauschalisieren.

Ihr Hass funktioniert nur, weil sie pauschalisieren. Die Nigerianer, die Grünen, die Öffentlich-Rechtlichen. Ihre gesamte argumentative Existenz basiert auf dem, was sie anderen vorwerfen: pauschal verurteilen.

Alle fragen, ob ich mich in Nigeria wohlfühle

„Wir sind nicht alle Nazis“, sagen sie dann. „Wir sind nicht alle rechts“, rufen sie. Nur um dann wieder zu glauben, sie seien im Recht. Doch das, was ich hier, in diesen Slums wieder lerne, was ich überall auf der Welt schon so oft gesehen habe, ist nur eine Sache. Jene, die glauben, sie müssten nach unten treten, müssten die Schwachen benutzen, um sich selbst stark zu fühlen, wissen nichts. Sie ahnen nicht, was die Welt im Kern zusammenhält, sie verstehen nicht, was Kapitalismus ist. Sie erklären ganze Länder im Nahen Osten oder in Afrika zu Shitholes, zu Dreckslöchern, und wissen nichts über die Menschheit.

Sie verstehen nicht, was der große Teil der Menschen ist: Menschenfreunde, Humanisten und Optimisten. Menschen wie mein Sicherheitsmann, wie das Kind, das dieses Boot steuert, der Kollege aus Nigeria, mit dem ich hier Geschichten zu Boko Haram recherchiere. All die Fahrer, die Köchinnen, die Hotelbesitzerinnen, die Musiker, jeder, den ich hier traf, hat mich gefragt, ob ich mich hier wohlfühle. In Nigeria, ob im Norden oder im Süden, gemeinsam haben wir versucht, uns das Leben für einen kurzen Moment schön zu machen. Mit Jollof Chicken, Wassermelonensaft und Gesprächen über eine Zukunft der Welt, die wir gemeinsam gestalten werden.

Ich hoffe nur eins, ich hoffe, sie werden die Twitternachrichten nicht lesen und nicht den gleichen Fehler machen wie wir: uns Europäer, uns Deutsche, pauschal verurteilen, als Nazis, Rassisten und Menschenfeinde.