Ich muss sieben Jahre alt gewesen sein, als ich meinen Vater auf die Arbeit begleitet habe. Ein kühler Frühlingstag, die Scheiben der Wohnungen in der Leipziger Straße beschlagen. Es ist noch DDR, aber davon habe ich keine Ahnung, weil für mich nicht die DDR existiert, sondern die Hand meines Vaters, die meine hält. Für mich existiert nur das Gespräch über, ich glaube, Mosaikhefte. Mein Vater raucht, und es ist ein so schöner Morgen, dass ich mich bis heute an ihn erinnere. Mehr als 30 Jahre später.
Mein Vater hat seine Weltsicht oft aus Mosaikheften abgeleitet. Kurz für die jenseits der Mauer Geborenen: Mosaik, das sind Comichefte, in denen die Geschichte erst zweier, dann dreier Kobolde, die irgendwie immer Teil wesentlicher Wegscheiden der Menschheitsgeschichte sind, erzählt wird. Die Comics vermittelten ein grundsätzlich humanistisches Weltbild, und vor allem lehrten sie die Errungenschaften menschlicher Bildung.
Mein Blick also hoch zu meinem Vater, der von den Digedags, so heißen die Kobolde, erzählt und dann, ich erinnere mich noch genau: von Atomkraft. Er erzählt mir, einfach so, die Geschichte der Atomkraft, mir als Siebenjährigen, 1988, während wir vorbei an der nordkoreanischen Botschaft spazieren.
Er erzählt von diesem Traum von der unendlichen Energie, von fliegenden Autos und von Luftschiffen, angetrieben von winzig kleinen Batterien. Von einer Welt, die keine Sorgen mehr kennt, weil Energie nichts kostest und nichts kaputt macht.
Faszinierend, dass schon 1988 Energiemangel ein Problem war, dass damals schon Kriege deswegen geführt wurden. Und damals schon die Welt in Flammen stand, bis heute haben wir sie nicht gelöscht. Der Vater erzählte von Tschernobyl, und dass es in diesem Sommer mehr Erdbeeren gab, verstanden habe ich das damals nicht.
In Kanada, China, Japan werden neue Reaktoren gebaut
Ich erzähle heute davon, weil die Welt um Deutschland herum Atomkraftwerke baut. Eben weil die Welt lichterloh brennt. In Kanada werden neue Reaktoren gebaut, in China, ja selbst in Japan, in dem Land, in dem 2011 in Fukushima Reaktoren schmolzen, Deutschland hat daraufhin den Atomausstieg beschlossen. Ich kann jeden Menschen verstehen, der sich davor fürchtet, vor Atomkraft, vor dieser Energie. Ich kann die Entscheidungen, Atomenergie hinter uns zu lassen, verstehen.
Argumentativ bewegen wir uns in den Siebzigern, wenn wir uns gegen Atomkraft stellen. Mutierte Kinder neben leckenden Meilern, die Angst vor der Krankheit und dem Ende der Welt. Auch das kann ich verstehen, lässt ein Diktator doch gerade ein Kernkraftwerk in der Ukraine besetzen.
Doch die Welt hat sich verändert, Reaktoren werden sicherer und: Wir wehren uns falsch. Nicht Atomkraft ist das Problem, sondern das Geschäft mit der Energie. Atomkraftwerke dürfen nicht privatwirtschaftlich betrieben werden, müssen staatlich kontrolliert werden: Energieerzeugung darf, ähnlich wie das Bereitstellen von Wohnraum, kein Geschäftsmodell sein. Denn wenn etwas ein Geschäftsmodell ist, wird es geschröpft, bis es kaputtgeht. Da lohnt sich wieder ein Blick auf unsere Welt.
Atomkraft könnte eine Brückentechnik sein
Wir sollten also nicht gegen Atomkraft sein, sondern wir sollten gegen das Geschäftsmodell Energie auf die Straße gehen. Wir, als Gesellschaft, sollten in die Forschung investieren, sollten einen sachlichen Diskurs über Atomkraft erlauben. Denn Kernspaltung ist keine Sache des lauten Streits, sondern eine Sache der Wissenschaft.
Vielleicht ist es das Gespräch mit einem Vater, an diesem Morgen 1988, das mir diese Angst genommen hat, vielleicht ist es der Vater meiner Freundin, der im KKW Rheinsberg gearbeitet hat, der mir die Furcht genommen hat. Vielleicht ist es aber auch der Hunger der Welt nach Energie und die Erkenntnis, dass er mit Atomkraft als Brückentechnik möglicherweise gestillt werden kann.





