Kolumne

Thilo Mischke: Seit Januar 84 Stunden im Flugzeug – warum mache ich das?

Als Reporter reist Thilo Mischke rastlos um die Welt, von Bogota nach New York nach Colorado. Erst als er in Berlin landet, versteht er, was ihn in die Ferne treibt.

Der Autor muss sich noch immer daran gewöhnen, die Welt nach der Pandemie wieder geöffnet ist.
Der Autor muss sich noch immer daran gewöhnen, die Welt nach der Pandemie wieder geöffnet ist.Dmitry Zvolskiy/pexels

In den letzten Wochen, nein, Monaten, bin ich viel unterwegs gewesen: 84 Stunden im Flugzeug, 58.000 Kilometer seit Januar, mehr als einmal um die Welt. Auch wenn es albern klingt: Ich muss mich noch immer daran gewöhnen, dass die Pandemie nun vorbei und die Welt wieder geöffnet ist.

Argwöhnisch beobachte ich alle Menschen, die nicht mehr in Armbeugen, aber dafür über meinen Kopf hinweg husten. Die Geschäftigkeit im Duty Free ist mir fremd und scheint ungehörig.

Letzten Mittwoch, auf dem Weg von Denver nach Berlin, habe ich die Arme hinter dem Kopf verschränkt, die Beine unter den Vordersitz geschoben und über diese Welt nachgedacht, diese grundsätzliche Hektik jener, die unterwegs sind. Also auch über mich. Ich habe das getan, weil der Fernseher vor mir kaputt war.

Wozu das Ganze? Woher kommt diese Ruhelosigkeit. Wo wollen wir alle hin, alle, die auf den Flughäfen mit Jacken unter dem Arm und verschwitzen Rücken rennen?

Je älter ich werde, desto lauter werden diese Überlegung in meinem Kopf. Überlegungen, die zu Zweifeln werden. Als gäbe es da einen Zusammenhang, als würde das eigene Altern die Stimme im Kopf verstärken. Während draußen alles stiller wird, werden die Gedanken lauter. Ich empfinde das als eine große Ungerechtigkeit.

Reisen in Kriege und Urwälder

Früher, also vor vier oder fünf Jahren, da war diese Ruhelosigkeit der Treibstoff meines Lebens, der Grund, warum alles möglich war, was heute Normalität ist. Das Reisen um die Welt, an die entlegensten Orte, das Reisen in die Kriege, für die wir Menschen allein verantwortlich sind, das Reisen hinein in die Urwälder, um Käfer auf den Rückseiten riesiger, elefantenohrengleicher Blätter zu sammeln. Skorpione, aufgesammelt in der pockigen Sommerlandschaft Syriens. Unterwegs sein, um sagen zu können: Hiervor fürchte ich mich nicht mehr.

Unersättlich war ich, wollte alles sehen, wollte die Welt für mich vermessen, um am Ende eine Karte anfertigen zu können. Ich wollte einen eigenen Atlas der Errungenschaften, den ich mir mit niemandem teilen müsste. Ich könnte später durch die Seiten blättern und würde anerkennen, was mein Leben war. Darauf habe ich mich gefreut.

Aber jetzt, jedes Jahr mehr, jede Jahreszeit, die ich in Berlin verpasse, deutlicher, frage ich mich, ob es so wichtig ist, diese Welt für mich zu vermessen.

Auch dieser Frühling in Berlin zieht an mir vorbei. Junge Blätter an Bäumen, die ich erst wieder im Herbst sehen werde, wenn sie längst tot sind. Meine Nichte, jetzt schon vier Monate alt, nur Minuten habe ich mit ihr verbracht. Mein Vater, meine Mutter ergeben sich der Unvermeidbarkeit des Älterwerdens. Mein ganzes Leben rauscht so schnell, meine Augen müssten zittern, wie bei Menschen, die aus einem fahrenden Zug blicken.

Ich habe in den letzten 14 Tagen mit einem TikTok-Star aus Bogota Salsa getanzt, habe eine New Yorker Influencerin beim Poledance begleitet und eine Mutter in den Arm genommen, die ihre Tochter an die Depression verloren hat. Ich bin auf dem Highway in Colorado eingeschlafen, war mit Freunden auf dem Laufband joggen, war nachts am Times Square und habe an meine tote Oma gedacht, mit der ich 1996 auch in der durch Werbetafeln erträglich gemachten Dunkelheit am Times Square spazierte. Jene Oma, die mir genau an diesem Ort beigebracht hat, dass die Welt mit goldener Visa-Karte erobert werden muss. Und das, obwohl sie Stalinistin war.

Magnolienbaum
MagnolienbaumImagebroker/IMAGO

In Berlin ist nasser Frühling

Ich wiederhole die Frage, die ich eingangs gestellt habe: Wofür und warum?

Als ich in Berlin lande, lese ich auf Twitter vom Hass auf die Letzte Generation, ich brauche länger mit dem Auto durch die Stadt und bin nicht genervt, sondern bewundere insgeheim diese Menschen, die sich von Bürgerlichen als bürgerliche Gören beschimpfen lassen.

Die Stadt ist für Ende April noch ungewöhnlich winterlich, die Blätter an den Bäumen passen noch nicht zu den regenfeuchten Fassaden. Ich atme schwer ein, als ich durch Berlin fahre, meine Stadt.

Fahre vorbei an der einen Douglasie, die am Baumschulenweg steht, vorbei am Treptower Park mit seinem hässlichen Hochhaus und dem noch hässlicheren Molecule Man, an der Mauer vorbei, vorbei am Haus, in dem angeblich die Klitschkos das Penthouse besitzen, am Haus, vor dem die besonders verzweifelten Obdachlosen des Ostbahnhofs zügig am Alkohol eingehen. Ich fahre in die Karl-Marx-Allee, am Friedhof vorbei, an meinen Eltern, meinem Bruder, meiner Nichte. Und dann weiß ich, warum ich das mache, warum diese Reisen, wozu der schweißnasse Rücken am Flughafen, warum die Hektik.

Es gilt, keinen Flug zu verpassen, damit ich, wie jeder andere auch, wieder zu Hause ankommen kann. Ich bin unterwegs fürs Ankommen. Mehr nicht. Denn das ist das schönste Gefühl des Reisenden, aller, die ruhelos sind. Es gilt anzukommen.

Immer wieder, jedes Mal, erfahre ich, wo ich herkomme und wo ich hingehöre. Nach Berlin, in die Nähe meiner Familie.