Im Norden von Island ist Winter. Richtiger Winter, wie er in Berlin schon lange nicht mehr stattgefunden hat. Wetter und das dazugehörige Licht, das die Seele und jede Hoffnung einschnürt. Schnee, der scharfkantig seitwärts schneit, immer hinein die Öffnungen an der Jacke.
Ein schmerzliches Grau, das die Kontraste aus der Welt nimmt und damit die Orientierung für den Menschen. Niemand weiß hier, wo vorne und hinten ist. Es ist ein allumfassendes Grau, das jede Ahnung auf Frühling vergessen lässt.
Und dann, wenn die Sonne wieder kommt, die Flechten hier mühsam auf Granit gedeihen, wenn die Blaubeeren blühen, wenn Lupinen sich auf dem verwehten Boden halten, dann bringen sich die Menschen um. Weil sie daran erinnert werden, dass dieses lichte Glück nur von kurzer Dauer ist. Drei Monate.
Im März haben die Menschen hier nicht mal mehr die Kraft, sich darüber zu beschweren. Und ich liebe es, dieses Wetter. Ich brauche diese gelähmte Stille am Anfang eines Jahres.
Ich bin oft genau wegen dieser Stimmung hier, in Island. Ich verlängere die winterliche Trübsal Deutschlands und komme dann zurück in ein Berlin, in dem sich die klebrigen Knospen der Linde aus den Zweigen drücken. In dem die Temperatur mich veranlasst, meine Pulloverärmel hochzukrempeln. Den Frühling nicht als Tatsache, aber als Überraschung verstehen. Das funktioniert, wenn man im März in Island Urlaub macht.
Schweigen wir, weil wir über 40 sind?
Zwei Freunde begleiten mich, und in dieser kleinen und ungewöhnlichen Reisegruppe kann ich eine interessante Beobachtung machen. Wir schweigen mehr als wir reden.
Ich überlege, ob es daran liegt, dass wir alle über 40 sind und sich jedes Problem zu oft wiederholt hat, wir zu oft dieselben Sachen diskutiert haben, bis nichts mehr übrig geblieben ist. Wir genau wissen, was der andere denkt und sagt, egal ob zu Putin, dem Klimawandel oder dem neuen Album von Lana Del Ray. Wir schweigen, wie Paare das häufig im Pauschalurlaub machen.
Ich spüre es, spreche es aber nicht an. Es vergiftet die Gruppe, es wirft Sand in das geschmeidige Getriebe meiner Freundschaft. Und trotzdem: Im Auto ist es still, nur das hohe Klackern der benadelten Winterreifen ist zu hören. Nadeln, damit ich im Schnee nicht wegrutsche.
Es ist dieses Schweigen, das die Welt am Laufen hält, denke ich im Auto. Denke an meine Eltern, an meinen Vater, an meine Mutter, an das nicht Gesagte, das Verheimlichen. Meine Mutter, die mir nicht sagt, dass sie Corona hat. „Damit du dir in Island keine Sorgen machst.“ Mein Vater, der mir nicht erzählt, wenn er traurig ist. Oder Angst hat. „Will dich nicht mit meinen Problemen belangen“, sagt er dann, wenn ich streng werde.
Dieses Schweigen reicht bis zu den Jugendlichen, die sich vor dem Klima der Zukunft fürchten und allen Grund dazu haben, nachdem die Ampel im Beschlusspapier einfach den Klimawandel ignoriert und damit die Sorgen der Jugend. Es wird darüber geschwiegen.
Putin, der seit über einem Jahr schweigt, und selbst wenn er reden würde, würden wir ihm nicht zuhören wollen.
Jedes Mal, wenn jemand laut das Schweigen beendet, finden wir, finde ich das seltsam. Der Freund, der sich beschwert, der Vater, der sich mitteilt, die jungen Menschen, die sich Klebstoff in die Handfläche schmieren und auf Straßen befestigen, die Streikenden, Selenskyj. Der Mut, sich zu beschweren, wird oft belohnt. Der Preis, den die Person dafür bezahlen muss: Sie nervt, sie ist lästig.
Für einen kurzen Moment ist alles einfach, wie früher
Ich denke darüber nach, während die Freunde am Handy tippeln, die Landschaft verpassen, die Sonne sich über die Berge zwingt wie ein schwerfälliges Wesen. Der Schnee in seiner Sanftheit leuchtet plötzlich, nimmt der Welt das Graue, für einen kurzen Moment. Ich sehe Islandpferde, die zottelig im Schnee stehen, Dampf vor ihren Nüstern. Und ich will etwas sagen. Und erzähle. Die Freunde, sie hören zu, kommentieren, wollen wissen, was ich über den Kinofilm „John Wick 4“ denke (großartiger Film).




