An einem Tag im Frühling beobachte ich den wilden Weizen am Frankfurter Tor, beobachte, wie sich die Ähren unter den Fenstern der Häuser im Wind wiegen. Ich blicke in dieses kleine Feld wildester Berliner Natur und bleibe stehen, nehme mein Telefon aus der Hosentasche und mache ein Video davon.
Für mich als Berliner beginnt damit das neue Jahr. Wenn die wilden Wiesen noch nicht trocken sind.
Ich weiß, ich werde mir dieses Video nie wieder ansehen, aber ich war von der Schönheit, von der Einfachheit dieser Pflanze, dieses Fleckens so ergriffen, dass ich dachte, so könnte ich diesen Moment für immer festhalten. Wenn Eltern Smartphones geschenkt bekommen, machen sie das genau so: Alles und jeder wird wild fotografiert. Ich frage mich, warum ich das Gefühl hatte, diesen Moment für immer festhalten zu wollen? Vielleicht, weil es nichts Rätselhaftes gab? Nichts, was es herauszufinden gilt.
Die Ähre des wilden Weizens ist schön, daran gibt es keinen Zweifel. Das Licht, das mich im Augenwinkel trifft, golden und warm, der leise Verkehr auf der Kreuzung, ein Mann, der mit ausgestreckten Beinen auf einem Stuhl vor der Galerie im Turm Zigaretten raucht, die Augen dabei halb geschlossen, den Arm auf dem Bauch abgelegt, auf dem Boden ein Glas Wein. Weiter hinten Boule-Spieler, dort, wo früher ein Stadion stand und heute der Rosengarten ist. In der Luft der feine Staub der Allee, der sich aus aufgewirbelter Geschichte und Kies zusammensetzt. Ich fühle mich frei von Zweifeln.
Der ängstliche Mensch will keine Antworten auf Fragen
Ich laufe die Allee entlang und alles ist gut. Das macht diese Straße mit mir. Dabei ist ja nichts gut. Wirklich nichts.
Mein Leben habe ich so gestaltet, dass ich mich vor nichts fürchten muss. Ja, das ist möglich, und ich bin diesen Weg gegangen, ohne das ich wusste, wie es funktioniert. Ich habe auf jede Frage, die sich mir gestellt hat, eine Antwort gesucht, und nicht aufgehört zu suchen, bis ich eine Antwort gefunden habe, die mich befriedigt, die mich beruhigt. Ich habe gelernt: Das bedeutet es, mutig zu sein. Der ausgesprochen ängstliche Mensch will keine Antworten auf seine Fragen.
Als Kind habe ich auf dem Boden der Wohnung von Oma 1 nahe der Storkower Straße gesessen und Radios auseinandergeschraubt, als Jugendlicher mit Oma 2 in New York die Angst vor der Welt verlieren wollen, als junger Erwachsener habe ich die Stadt verlassen, weil ich wissen wollte, ob ich ohne meine Familie sein kann. Und dann kamen all die kleinen und großen Fragen. Wie fühlt sich Krieg an? Wie die Angst vor einem Menschen, der dich töten will? Wie fühlt sich das Glück der Überlebenden einer Katastrophe an? Was träumt ein Mensch, der Schlechtes tut? Was sind die Probleme, an denen wir als Menschen zerschellen?
Große Fragen und viele kleine Antworten, Tausende, Abermillionen Geschichten, Erzählungen, Menschen, Momente, und ich hatte immer das Gefühl: Das ist mein Leben, ich muss mich vor nichts fürchten, muss keine Angst haben. Ich habe auf alles eine Antwort. Dieses Leben hat mich tolerant gemacht, nimmt mir die Wut, nimmt mir das Aggressive. Oft nerve ich meine Eltern am Abendbrottisch damit. „Auf alles eine Antwort“, sagt dann meine Mutter und schiebt mir Nachtisch zu.
„Selbstgemacht?“, frage ich. „Natürlich!“, lügt meine Mutter. Wir lachen.
Die Letzte Generation, eine Terrororganisation?
Ich bin jeden Tag mit der Angst der anderen konfrontiert. Diese Angst ist zum Beispiel der Grund, warum sich viele freuen, dass die Letzte Generation so abschätzig behandelt wird. Eine terroristische Organisation? Wie der IS? Wie der NSU?
Warum applaudieren Menschen, wenn Autofahrer auf der A100 jungen Frauen auf die Hände treten, ganz so, als wären diese Autofahrer ohne Gefühl geboren? Ich sehe in den Gesichtern dieser Männer die Angst. Sie kennen die Frage: „Was tun, wenn die Letzte Generation recht hat?“ Sie wollen die Antwort nicht hören.
Wir Menschen neigen in Momenten großer Unsicherheit zum wütenden Um-uns-Schlagen. Jeder, der in einem Beziehungsstreit eingeengt wird, jeder, der Angst hat, ob Tier oder Mensch, beißt. Wir können das gerade sehr gut beobachten, denn es gibt genug Gründe für die Menschheit, Angst zu empfinden.
Wer mutig sein will, erträgt die Antworten. Aber nun betrifft es mich auch: Ich stoße auf Fragen, auf die es keine Antworten gibt, und das bereitet mir größtes Unbehagen. Ich fürchte mich nicht mehr vor den großen Fragen dieser Welt, aber ich fürchte mich jetzt vor den großen Fragen des Menschseins.
Ich war immer unterwegs, damit ich nicht an diese Fragen denken muss, an die Fragen, die keine Antwort kennen. Damit ich erst gar nicht versuche, eine Antwort zu finden. Fragen, so groß, dass ich sie als kosmischen Horror beschreiben würde.
Wo werden meine Eltern sein, wenn sie nicht mehr sind. Wo wird mein Bruder mit mir stehen, wenn es passiert. Wo werden mein Bruder und ich sein, wenn wir verschwinden.
Plötzlich sind sie da, diese Fragen. Haben Einzug in mein Leben gehalten. In mein Leben hineingeschlichen haben sie sich. Ich weiß, diese Fragen sind nichts Besonderes, sie beschäftigen mich wie jeden anderen Menschen auf der Welt auch. Wer Eltern hat, denkt darüber nach.
Heimat ist, was ich von den Eltern gelernt habe
Und trotzdem fühlt es sich an, als wäre ich der Einzige, der diese Gedanken hat. Ich denke darüber nach, als ich in den Weizen blicke, die Fassade hoch am Stalinbau, im abendlichen Licht. Und kurz vergesse ich alles. Im symmetrischen Rauschen einer Wiese wird das Grübeln verschluckt. Es verschwindet.
Und dann wird mir klar: Es ist nicht der Frühling, es sind nicht die Pflanzen, die mich beruhigen, nein. Es ist die Heimat, die Straße, es sind die Dinge, die ich sehe, weil meine Eltern sie mir gezeigt haben.
Heimat ist, was ich von ihnen gelernt habe, und dieses Gefühl, das verschwindet nicht mit meinen Eltern, es verschwindet erst, wenn ich nicht mehr bin.




