Am ersten wirklich frühlingshaften Wochenende in diesem Jahr waren meine Familie und ich Zeugen einer recht kulturlosen Eröffnung des Schlosses Wiepersdorf. Ich habe an dieser Stelle bereits darüber geschrieben, warum dieses Haus so wichtig ist.
Wir saßen später auf Bierbänken und aßen ausgesprochen krosse Kartoffelpuffer und tranken Filterkaffee, unterhielten uns mit der ehemaligen Leiterin des Hauses und wunderten uns über die musikalische Begleitung, die so furchtbar war, dass ich lachen musste. „Das erinnert mich an den Hape-Kerkeling-Hurz-Sketch“, sagte ich zu meinem Vater. Dieser Sketch, in dem ein ausgesprochen schreckliches Musikstück einem ahnungslosen Publikum vorgespielt wurde, um damit die Hohlheit des Kulturbetriebs sichtbar zu machen.
Zwischen all diesem Amüsement, und das war für mich das Faszinierende an diesem Tag, hing trotzdem ein schleierhafter Kummer. Ein Gefühl, so deutlich und tastbar, wie es nur selten ist. Nicht Trauer, nicht Sehnsucht, nicht Schwelgerei, nein: Kummer.
Dieser Ort, er vergisst uns, er vergisst mich. Ich habe mich fremd gefühlt in Wiepersdorf. Die sozialistischen Malereien von jungen Frauen, die mit Geodreieck in der Hand und Tuch im Haar eine Zukunft entwarfen. Frauen und Männer, die mich aus dem Bilderrahmen heraus beobachtet haben als Kind. Meinen Vater, meine Mutter, meinen Bruder, uns alle beobachtet haben. Und all diese Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Malerinnen und Maler, all diese Kulturschaffenden, die dieser Ort nun langsam vergisst.
Diese Bilder sind jetzt Teil einer Ausstellung, eng gehängt, in einem Raum, der früher das Verwaltungsbüro war. Winzig. Zahllose Bilder, in einen Raum gepresst, eine ganze Kindheit, eine ganze Jugend auf zehn Quadratmetern.
„Ich gehe mal raus“, sagte ich zu meiner Mutter, die traurig in diesem Büro stand. „Ich halte es nicht aus“, sagte ich. Und meine den Kummer, den ich so deutlich spüre.
In der Pandemie wussten wir, sie wird vorbeigehen
Es ist das Auseinandersetzen mit einem neuen Gefühl, mit einer neuen Tatsache, die ohne Erwartung ins Leben hineingefallen ist. Das plötzliche Verschwinden, das plötzliche Unsichtbarwerden, das plötzliche Reflektieren ist erschreckend. Ich kann meinen Gedanken dabei folgen, wie sie neue Wege, neue Überlegungen anstellen, wie sie eine Situation, die unangenehm ist, versuchen angenehm zu gestalten. Sie suchen sich Umwege, sie überschreiben Erinnerungen, damit es weniger schmerzhaft ist.
Der Kummer ist belastender als die Trauer, weil die Trauer sich irgendwann wieder mit der Normalität mischt, weil die Normalität die Schmerzen vergessen macht. Der Kummer allerdings, er legt sich über alles und vergiftet, macht schwach.
Dieser sorgenvolle Blick an die Ostgrenze der Ukraine, der vernunftbegabte Blick in das Übermorgen unserer Welt oder das Hören von medizinischen Mutmaßungen zum eigenen Zustand: Da existiert keine Trauer, da existiert nur dieser bleierne Kummer. Er ist zeitlich nicht absehbar. Wir wissen nicht, wann etwas vorbei ist. Und vielleicht fühlen sich deswegen die Probleme der Welt derzeit so schrecklich an. Nichts ist absehbar. Vielleicht ist deswegen vieles so gänzlich ohne Vision.
Während der Pandemie wussten wir, wie bei einem Krankenhausaufenthalt, das wird schon irgendwann vorbei sein. Bei Krieg und Umwelt wissen wir das nicht. Das Schicksal dieser Welt ist abhängig von wenigen, auf die wir keinen Einfluss haben.
Ganz am Ende des Parks vom Schloss Wiepersdorf haben wir uns am frühen Nachmittag versteckt. Nahe der Zeus-Statue. Hier haben sich meine jugendlichen Eltern vor gefühlt hundert Jahren geküsst, mein Bruder verlobt, ich habe hier Ölkäfer gejagt und theatralisch geliebt. Hier, ganz hinten, sitzt heute mein Vater mit einer Decke auf dem Schoß, mein Bruder nascht vegetarische Würstchen, meine Nichte auf meinem Schoß, meine Mutter will heimlich eine rauchen.





