Kolumne

Thilo Mischke: Was riecht da im Rheinsberger See nach Tod?

Unser Kolumnist macht Sommerurlaub in Brandenburg, isst Softeis, schwimmt. Und stößt plötzlich auf ein Mysterium.

Das Schloss Rheinsberg am Grienericksee
Das Schloss Rheinsberg am Grienericksee Shotshop/imago

Ich saß auf einem Steg, in einem Klappstuhl, mit einem Buch im Schoß und halb geschlossenen Augen. Ein Steg, der weit hineinreicht in den Grienericksee, er führt durchs Schilf hindurch, in Blickweite vom Schloss Rheinsberg, das mit seiner filigranen Architektur und dem Ruf eines Ortes für große Feiern so überhaupt nicht zu den rauen Launen der Rheinsberger passen möchte. Kurz bevor ich in der lähmenden Müdigkeit eines Sommermittagsschlafs verschwinden konnte, nahm ich den salzigen Geruch des Todes wahr. Und war sofort wach.

Habe mich aufrecht an diesen Steg gestellt, das Buch beiseite gelegt, die Nase in die Windstille gehalten. Ich habe versucht zu erahnen, woher dieser Geruch kommt. Vom Wasser, das war eindeutig. Ich habe überlegt, was die nächsten Schritte wohl sein werden und was dort diesen Geruch abgibt.

Rieche ich die lang verschollenen Paddler, die im Winter 1999 auf dem Rheinsberger See verschwanden? Werde ich das große Mysterium endlich lösen? Ist es ein unverantwortlicher Schwimmer, der sich dort im Wasser auflöst? Ich habe Urlaub, und es scheint sich ein Kriminalfall zu entwickeln, zumindest in meinem Kopf.

Rheinsberg in Brandenburg: Nähe muss man sich erarbeiten

Ich kenne die Stadt Rheinsberg, oben im Norden Brandenburgs, mittlerweile gut. Ich weiß, es gibt zu viele Bäcker, die nie genug Kuchen haben, das Softeis schmeckt besser an der Hauptstraße, beim Fischer sollten nur die Hartgesottenen Aal grün bestellen. Ich weiß von der ungehobelten Laune der Rheinsberger gegenüber allem Fremden, da spielt es keine Rolle, ob man aus Berlin oder Damaskus kommt. Willkommenskultur wird in Rheinsberg klein geschrieben – aber das macht nichts. Das ist Teil dieser Identität. Nähe und Zuneigung muss man sich erarbeiten. Freundlichkeit gibt es nicht geschenkt, auch da spielt es keine Rolle, ob man aus Damaskus oder Berlin kommt.

Jeder Sommer in Rheinsberg ist ein Sommer wie in der Kindheit – und das, obwohl ich ein Erwachsener bin. Manchmal, wenn der ADAC-Hubschrauber landet, renne ich hin, barfuß, in kurzen Hosen, das Softeis von der Hauptstraße in der Hand, und führe Gespräche mit dem Piloten.

„Nur ein Herzinfarkt, aber alles wieder gut“, erzählt er dann, raucht, die Pilotenbrille im Pilotengesicht. Und ich, als 42-Jähriger, fasziniert davon wie ein Kind. 

„Gestern ist aber jemand im See ertrunken, hast du das mitbekommen“, fragt der Pilot. Natürlich!

Die Holzplattform auf dem See, zu der es sich vorzüglich schwimmen lässt, die Pflanzen im Spätsommer, die sich fast nicht überwinden lassen, weil sie während das Badens am Po kratzen und wie unheimliche Wasserwesen mit dürren Fingern nach meinen Unterschenkeln greifen.

Alles ist hier wie eine Folge „TKKG“, wie „Die drei ???“ – kleine Abenteuer, kleine Aufregungen. Ich betrachte hier die Wirklichkeit durch das Flirren eines heißen Sommers und stelle jedes Mal fest: Mehr brauche ich nicht. Jedes Jahr die gleiche Frage: Wohin nur in den Urlaub: Weit weg, das Klima schädigen, aber die Seele am Strand in Südostasien reparieren? Oder in Europa bleiben, teure Hotels an überfüllten Stränden und Landsleute, die auf Spanisch oder Italienisch Wiener Schnitzel bestellen. Der Urlaub in der Brandenburger Wirklichkeit ist die Antwort auf diese Frage.

Ich habe die Quelle gefunden. Ist es eine Kuh?

An diesen Orten sein, an denen Schilder am Waldrand davor warnen, dass hier Kippen zu Brandsätzen werden, an denen der Eichelhäher mit seinem eigenwilligen Ruf, diesem warnenden Krächzen, daran erinnert, dass nicht die Exotik, nicht die Ferne uns Ruhe gibt. Sondern Brandenburg. Hier wird der Geist gefordert, hier müssen wir uns die Abenteuer noch selber bauen. So wie ich, jeden Sommer.

So wie jetzt. Ich will wissen woher der Geruch kommt, greife die Ruder eines Bootes, nehme mein Telefon mit, eine Flasche Wasser für diese Expedition. Die Sonne reflektiert auf der ruhigen Oberfläche des Sees und verdoppelt damit den Sommer. Es ist still, kein Boot auf dem Wasser, und ich folge dem Geruch. Er wird immer intensiver, ölt sich in die Innenseite meiner Nase. Ich rudere hinter das Schilf, vorbei am Kanal, hinein, nah ran an den versteckten Kalksee, als ich einen großen dunklen Fleck im Wasser treiben sehe. Ich stehe auf, ziehe die Augen zu Schlitzen und versuche, durch das gleißende Licht hindurchzusehen. Und bin mir sicher: Ich habe die Quelle gefunden. Eine Kuh? Ein Mensch? Nein, es ist ein Wildschwein. Ich rudere näher heran. Und bin fasziniert.

Vielleicht ist es makaber, vielleicht auch morbide. Aber ich weiß, nach diesem Tag, nach dieser Spurensuche, nachdem ich mich vergewissert habe, dass nicht die zwei Paddler aufgetaucht sind, habe ich mir eine Erinnerung geschaffen. Brandenburg hat eine Erinnerung geschaffen. Und sie wird beständiger sein als ein Strandurlaub. Sommer, an die wir uns erinnern, sind wichtig und viel zu selten. Der Sommer in Brandenburg aber, er ist nicht nur eine Erinnerung, sondern auch eine Sehnsucht. Mit und ohne Schwein im See.