Der Skandal um den Auftritt von Claudia Roth auf der Jewrovision und die empörten Reaktionen vieler Teilnehmer liegen nun schon einige Wochen zurück, in unserer schnelllebigen Zeit genug, um schon wieder vergessen zu werden. Vergessen aber möchte ich vor allem den Protest der jugendlichen Besucher des Festivals nicht, denn er markiert für mich eine sehr entscheidende Wende für das jüdische Leben in Deutschland.
Als ich so alt war wie diese Jugendlichen, hätte ich mich nicht getraut, lautstark gegen die Staatsministerin – oder jeden anderen Politiker – zu protestieren. Wenn ich mich doch getraut hätte, wären heftige Vorwürfe meiner Eltern die Folge gewesen. Nicht, weil es unhöflich ist, Gäste auszubuhen. Nicht, weil eine Vertreterin der Bundesregierung per se Hochachtung verdient hätte. Meine Eltern hätten nicht gesagt: „So etwas tut man nicht.“ Sondern: „Als Jude tut man so etwas nicht.“
Man tat dergleichen als Jude nicht, um nicht aufzufallen. Juden waren und sind (mit Ausnahme Israels) immer und überall in der Minderheit, meistens in einer verschwindend kleinen Minderheit. In Deutschland machen Juden nicht einmal 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Minderheiten sind immer verletzlich. Für Juden gilt das ganz besonders, denn obwohl wir nur wenige sind, sind wir doch allgegenwärtig. Zumindest in der Fantasie von Verschwörungstheoretikern und Antisemiten. Ob für den Ausbruch der Pest oder für die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg – immer waren angeblich die Juden verantwortlich, mit verheerenden Folgen. Besser war es also, so wenig wie möglich aufzufallen, um nicht zur Zielscheibe von Kritik, Diskriminierung oder gar Gewalt zu werden. Das hieß auch, sich nicht über schlechte Behandlung zu beschweren. „Juden klettern nicht über Zäune“, war eine wichtige Devise.
So gibt es in den USA nicht deshalb so viele jüdische Krankenhäuser, weil Juden bessere Ärzte wären, sondern weil es lange für jüdische Ärzte sehr schwer war, eine Anstellung in einem christlichen Krankenhaus zu finden. Statt sich zu beschweren, gründete man lieber eigene Hospitäler. Verlässlichen Schutz garantierte dieses Einziehen des Kopfes jedoch nicht. Wirkliche Sicherheit bot letztendlich nur der Staat, wenn er denn bereit war, antijüdischer Gewalt entgegenzutreten. Am allerschlimmsten war es natürlich, wenn die Politik selbst offen antisemitisch wurde.

Als Holocaustüberlebende wussten meine Eltern das nur allzu gut. Deshalb waren die Juden ihrer Generation mehrheitlich daran interessiert, ein gutes Verhältnis zur deutschen Politik aufzubauen und zu erhalten. Darin unterschieden meine Eltern sich nicht vom Zentralrat der Juden in jener Zeit. Als ich 1986 eine große Demonstration in Bitburg gegen den Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl und US-Präsident Ronald Reagan auf dem dortigen Soldatenfriedhof organisierte, brachte mir das eine heftige Rüge des damaligen Zentralratsvorsitzenden ein. Auch für ihn war die Vorstellung einer Kranzniederlegung auf einem Friedhof, auf dem auch SS-Männer begraben lagen, schwer erträglich. Aber das gute Verhältnis zum Bundeskanzler war ihm viel wichtiger. Als Jude demonstrierte man nicht, dafür war die eigene Existenz zu sehr gefährdet.
Als Jude tat man derartiges aber auch nicht, weil wir nicht ganz dazugehörten. Für meine Eltern war Deutschland ein topografischer Begriff. Er bezeichnete das Land, in dem sie lebten, arbeiteten, Steuern zahlten und dessen Staatsbürgerschaft sie besaßen, nicht jedoch ihre Heimat. Sie verfolgten mit Zeitungslektüre, im Radio und Fernsehen die Geschehnisse im Land, auch in der Politik, aber sie taten das als Zaungäste. Sie waren Juden in Deutschland, keine jüdischen Deutschen. Auch wenn sie dort ein gutes Leben hatten, saßen sie doch immer auf gepackten Koffern. Meine Brüder und ich wurden angehalten, etwas zu studieren, was überall in der Welt einen schnellen Neuanfang ermöglicht hätte: am besten Medizin oder Jura. Die Politik in Deutschland betraf uns zwar, aber sie war nicht unsere Politik. Deshalb mussten wir auch nicht gegen sie protestieren.




