Essay

Der unfertige Gedanke 21: Erträumte und reale Souveränität

Alles ändert sich für einen Staat, gewinnt er an Souveränität, büßt er sie ein. Triumph, Katastrophe, oder man gewöhnt sich dran – das Denken setzt aus, die Propaganda beginnt.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Straßburg. Wer der Europäischen Gemeinschaft beitritt, gibt seine Souveränität auf, so sieht es unser Autor.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Straßburg. Wer der Europäischen Gemeinschaft beitritt, gibt seine Souveränität auf, so sieht es unser Autor.dpa

Ein gutes Mittel, gesunden Menschenverstand zu erlangen, ist ein beständiges Bestreben nach deutlichen Begriffen, und zwar nicht bloß aus Beschreibungen anderer, sondern so viel möglich durch eigenes Anschauen. Man muß die Sachen oft in der Absicht ansehen, etwas daran zu finden, was andere noch nicht gesehen haben; von jedem Wort muß man sich wenigstens einmal eine Erklärung gemacht haben, und keines brauchen, das man nicht versteht.

So Georg Christoph Lichtenberg, das kluge Männchen mit dem Buckel eines Zwerges in einem seiner Sudelbücher – na, dann sudeln wir auch mal.

Souveränität – Begriff, der vom lateinischen superanus = darüber befindlich, überlegen abgeleitet ist, so wie das Wort super, das im Lateinischen oben, auf, darüber bedeutet.

Na, ist doch super! Sind wir also mal oben auf, und denken souverän.

Den Staat als Notwendigkeit gesetzt – und sei es hier nur als Ausgangspunkt für ein paar unfertig bleibende Gedanken: Es gibt immer die da oben, und wenn es nur einen allein gibt, der von sich behauptet, der Souverän zu sein, das alleinige Oberhaupt, dann steht er jedenfalls soweit über den anderen, seinen Kumpanen und Helfershelfern, dass sie ihm diesen Blödsinn durchgehen lassen müssen. Ein Obermacker allein bleibt nicht lange oben, eine Oberschicht muss schon sein, ihn zu tragen. Die Höhergestellten, die, die sich höhergestellt haben, über die anderen, die Vielen.

Es scheint eine in der Menschheitsgeschichte weit verbreitet Vorstellung zu sein, dass es ein Oben und Unten gibt, auch in der Gesellschaft, dass ein Staat dieses Oben und Unten schafft. Hierarchiedenken. Die vertikale Achse. Die Pyramide der Gesellschaftsklassen, deren Anzahl an Mitgliedern nach oben hin immer weniger werden, deren Macht dabei immer weiter anwächst. In der Demokratie geht die Macht vom Volke aus, der Souverän ist das Volk selber – so die demokratische Ideologie. In der Praxis sieht es so aus, dass die wahlberechtigten Staatsbürger alle paar Jahre ihre Vertreter wählen können, sie unter den Leuten auswählen können, die sich, getragen von Parteiapparaten, zur Wahl stellen. Am Wahltag ist das Wahlvolk der Souverän, am Tag darauf schon nicht mehr. Da bemächtigen sich die Mächtigen wieder des Souveräns.

Florian Havemann
Florian HavemannUwe Hauth

Überträgt man den Begriff der Souveränität, der in seiner ersten Bedeutung die inneren Verhältnisse von Staaten meint, auf die Beziehung von Staaten untereinander, dann heißt dies, in seiner ursprünglichen Wortbedeutung genommen: der Staat ist souverän, der einen anderen Staat unterdrückt, ihn erobert, ihn von sich abhängig gemacht hat, zu einem Vasallenstaat, zu einer Kolonie, zum Bestandteil eines Imperiums, das von einer souveränen Macht beherrscht wird.

Die Art, wie diese Herrschaft eines Staates über einen anderen ausgeübt wird, kann sehr verschieden sein. Auch die einer Hegemonie, die den Staaten, die ihr unterworfen sind, etwas Spielraum für ein eigenes Agieren lässt. Nationale Unabhängigkeit, so es denn einer Nation gelingt, einen eigenen Staat bilden zu können. Staatliche Selbstbestimmung, so denn ein staatliches Gebilde vorgegeben ist, das kein Nationalstaat sein muss, irgendeine Art von staatlicher Einheit, die es schafft, sich gegenüber anderen Staaten als unabhängig zu behaupten.

Souverän oder nicht-souverän, unsouverän. Entweder/oder. Gebietet die Logik. Aber nein, so logisch ist doch die zwischenstaatliche Realität nicht. Da ist viel Platz zwischen entweder/oder. Da ist Platz für ein Militärbündnis, für die ganze NATO. Der souveräne Staat kann doch auch mal nett sein, ein einigermaßen regelbasierter Hegemon, bei dem man ungefähr weiß, was er von den ihm unterlegenen Staaten verlangt. Und dann beschließt man gemeinsam, was die mächtigste Macht will. Das hat Vorteile für beide Seiten.

Ein sozialdemokratischer Kanzler, der mit einer Koalition der Willigen in den Irak nicht einmarschieren will, muss nicht damit rechnen, von ein paar Willigen bei ihm zu Hause gestürzt zu werden. Aber seine Nachfolgerin im Amt musste es hinnehmen, dass ihr Handy von einem amerikanischen Geheimdienst abgehört wurde. Oder es ist das, was unseren polnischen Bündnispartnern passiert ist: dass sie Foltergefängnisse auf ihrem Territorium hinnehmen mussten, obwohl in ihrem Staat die Folter verboten ist. In den USA ist sie’s zwar auch – deshalb ja das Ausweichen der CIA vor der amerikanischen Justiz in einen nicht ganz so souveränen Staat. So wäscht eine Hand die andere, und alle werden nur etwas schmutzig dabei.

Die Monroe-Doktrin, vom amerikanischen Präsidenten James Monroe 1823 verkündet, besagte erst einmal nur, dass sich die USA gegen alle Versuche europäischer Staaten, sich in die amerikanischen Verhältnisse einzumischen, neue Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent zu erobern, sich alte zurückzuerobern, widersetzen würden.

In den 200 Jahren, die seitdem vergangen sind, wandelte sich das, was die Monroe-Doktrin bedeutete, sie wurde zu einer Legitimation der Einmischung der USA in die Verhältnisse in den Staaten Mittel- und Südamerikas, bis hin zu mehr oder minder verdeckten Operationen der CIA, zur offenen Invasion auch in diese eigentlich dem Völkerrecht nach souveränen Staaten. Durch eine Erklärung von Harry S. Truman im Jahre 1947, in der er „allen Völkern, deren Freiheit von militanten Minderheiten oder durch einen äußeren Druck bedroht ist“ den Beistand der USA versicherte, wurde die einst isolationistische Monroe-Doktrin zu einer globalen antikommunistischen Strategie. Die nun wohl auch das Ende des Kommunismus überlebt zu haben scheint.

Die Breschnew-Doktrin, die sogenannte Breschnew-Doktrin, die im Westen nach Leonid Breschnew benannte Doktrin über die begrenzte Souveränität sozialistischer Länder, sie hätte auch nach Stalin benannt werden können. Sie war immer die Doktrin, nach der die Sowjetunion in ihrem Machtbereich gehandelt hat, in den Staaten, die die Rote Armee im 2. Weltkrieg von den Deutschen befreit hatte. Ganz in Übereinstimmung mit den westlichen Alliierten in diesem Krieg, mit den USA und Großbritannien. Die Großen Drei, Roosevelt, Churchill und Stalin, hatten sich in Jalta darauf geeinigt, jeder macht in dem von ihm eroberten Gebiet, was ihm passt. Und für die Staaten des späteren Ost-Blocks dann hieß es, sie haben sozialistisch zu werden. Und das wurden sie ja dann auch.

Aber die Sowjetunion, die UdSSR, die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken, gliederte diese Staaten nicht in ihre Union ein, wie es eigentlich bei diesem Staatskonzept logisch gewesen wäre. Die Sowjetunion blieb auf das Territorium des einstigen russischen Imperiums beschränkt, auf das des Zarenreiches. Aus sowjetischer Sicht waren die von ihr beherrschten Mitgliedsländer des Warschauer Paktes wohl eher Pufferstaaten, eine Art Glacis, Frontstaaten, einen neuerlichen Angriff aus Richtung Westen abzuwehren. Die DDR konnte sich nie ganz sicher sein, ob sie nicht von der Sowjetunion als Verhandlungsmasse im sich herausbildenden Ost-West-Konflikt behandelt wird.

Die östliche Problemzone in dieser Konstellation: Jugoslawien. Stalin ließ Großbritannien freie Hand im griechischen Bürgerkrieg, er unterstützte die griechischen Kommunisten nicht. Die westlichen Staaten Europas wurden von den USA in die NATO, in den Nord-Atlantik-Pakt, eingebunden, die amerikanische Vorherrschaft in Westeuropa wurde niemals mit brutalen und militärischen Mitteln durchgedrückt, die demokratische Fassade konnte überall aufrechterhalten bleiben.

Der westliche Problemfall dabei: Italien, wo die Kommunistische Partei zeitweilig so stark war, dass sie bei Wahlen die Regierungsmacht hätte gewinnen können – dafür gab es Vorkehrungen, wie dies hätte verhindert werden können. Die CIA, der amerikanische Geheimdienst, war überall im Westen aktiv. Im Namen der Freiheit. Souverän waren weder die östlichen Staaten Europas, noch die des freien Westens. Souverän war nur das neutrale Österreich, was dann hieß, es hatte nach allen Seiten hin Rücksicht zu nehmen.

Die großen Drei − Stalin, Roosevelt und Churchill − hatten sich in Jalta geeinigt: Jeder macht in seinem Gebiet, was ihm passt. 
Die großen Drei − Stalin, Roosevelt und Churchill − hatten sich in Jalta geeinigt: Jeder macht in seinem Gebiet, was ihm passt. imago imgaes

Um 1875 gab es in Europa 17 souveräne Staaten, in Nord- und Südamerika 19, in Asien waren es vier oder fünf Staaten, die als souverän gelten konnten, es dann sehr bald jedoch nicht mehr waren, in ganz Afrika drei.

Heute sind in der UNO 193 Staaten mit einem eigenen Sitz vertreten, gelten damit als souverän. Taiwan, das nach dem Ende des chinesischen Bürgerkriegs beanspruchte, ganz China zu vertreten, hat seinen Sitz in den Vereinten Nationen 1971 verloren. Derzeit haben nur 13 Staaten diplomatische Beziehungen mit Taiwan, auch die USA haben sie 1971 abgebrochen. Es gibt einige Staaten, in denen es Landesteile mit starken Unabhängigkeitsbewegungen gibt, so in Katalonien, so in Schottland. Den Staat, der den Kurden nach dem 1. Weltkrieg versprochen worden war, gibt es immer noch nicht.

Frankreich hat sich 1954 aus Indochina zurückziehen müssen, nach der Niederlage in Dien Bien Phu.

Frankreich hat 1960 all seine afrikanischen Kolonien aufgeben müssen: Mauretanien, Mali, Senegal, Gabun, Kongo Brazzaville, die Zentralafrikanische Republik, den Tschad, die Elfenbeinküste, Obervolta, Niger, Benin, Kamerun, Togo und Madagaskar.

Frankreich hat sich 1962 dann auch aus Algerien zurückziehen müssen, nach einem jahrelangen Unabhängigkeits- und auch Bürgerkrieg.

Der Niedergang des britischen Empire beginnt schon früher mit der Unabhängigkeit von Canada 1931 und der des Irak 1932. Zehn Jahre später, 1942, mitten im 2. Weltkrieg, folgt Australien. Nach dem Kriegsende zieht sich Großbritannien aus Neuseeland zurück, im gleichen Jahr 1947 auch aus seiner größten Kolonie, aus Britisch-Indien, unter Abspaltung von West- und Ost-Pakistan, aus dem 1971 der unabhängige Staat Bangladesch wurde. 1948 folgen Ceylon (heute: Sri Lanka) und Birma (heute: Myanmar), 1956 der Sudan, 1957 Ghana, 1960 Zypern, Nigeria und Britisch-Somaliland, 1961 Uganda und Kuweit, 1963 Kenia, Singapur und die Kolonie Aden (als Teil der Südarabischen Föderation), 1964 Malta und Sambia, 1965 Rhodesien (heute: Simbabwe), 1971 Katar, 1981 Britisch-Honduras (heute Belize).

Auch die kleineren europäischen Kolonialmächte verlieren ihre überseeischen Besitzungen. Holland: Indonesien 1954. Belgien: den Kongo 1960, Ruanda-Urundi 1962. Portugal: 1961 Einmarsch indischer Truppen in Goa, 400 Jahre Fremdherrschaft werden in 26 Stunden beendet, dann folgen 1974 Guinea-Bissau, 1975 Timur, 1975 Mozambique und Angola.

Dem faschistischen Italien gelingt es nicht, Libyen, 1934 überfallen, Äthiopien, 1936 angegriffen und besetzt, über das Ende des 2. Weltkrieges hinaus zu behalten, es muss auch Eritrea, seit 1890 italienische Kolonie, 1941 aufgeben. Italien zieht sich 1960 dann zuletzt aus Italienisch-Somaliland, seit 1888 unter seiner Herrschaft, zurück.

Das Deutsche Reich hat seine Besitzungen in China, seine Kolonien in Afrika durch den 1. Weltkrieg verloren. Dass es Adolf Hitler im 2., von Deutschland als eindeutigen Aggressor begonnenen, Weltkrieg um die Eroberung von Lebensraum im Osten, wie es in der Nazi-Propaganda hieß, um ein Kolonialreich ging, nach dem Muster des Osmanischen, des Russischen Reiches, um ein Imperium, das scheint bis heute vielen Deutschen nicht so ganz klar.

Eine lange Liste, und die wollte ich mir doch wenigstens einmal vor Augen geführt haben.

Europa, so der Gründungsmythos der Europäischen Union, habe aus den schmerzvollen Erfahrungen zweier Weltkriege gelernt, dass seine vielen Staaten zu einer regel- und auch werteorientierten Friedenszone werden müsse, basierend auf einer Wirtschaftsgemeinschaft. Dieser Mythos wird immer wieder beschworen, er scheint allgemein anerkannt, und es geht auf seiner Grundlage dann darum, wie eng diese Union werden sollte, ob aus diesem Staatenbund so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa werden sollen und auch können. Es geht darum, inwieweit die Europäische Union ein eigenständiger Akteur auf der weltpolitischen Bühne werde, was dann hieße: souverän in einer sich herausbildenden multipolaren Weltordnung.

Es geht um die Unterschiede der wirtschaftlichen und auch geopolitischen Interessen zwischen der Europäischen Union und denen der Vereinigten Staaten von Amerika, mit denen die meisten der europäischen Staaten in der NATO, dem Nord-Atlantik-Pakt, verbunden sind. Es geht um die Einheit des Westens, von dem die EU dann nur ein Teil ist, aufs Neue zusammengeschmiedet durch die russische Aggression in der Ukraine, und es geht darum, inwieweit sich Europa in den kalten Krieg einordne, den die USA gegen die aufstrebende Macht China begonnen hat. Es geht also darum, den Gründungsmythos der Europäischen Union in einer sich verändernden Welt neu zu interpretieren.

Keep smiling, auch wenn die Kronkolonien hinüber sind: Elizabeth II. 1961 in Ghana, das vier Jahre zuvor unabhängig geworden war.
Keep smiling, auch wenn die Kronkolonien hinüber sind: Elizabeth II. 1961 in Ghana, das vier Jahre zuvor unabhängig geworden war.imago images

Der amerikanische Historiker Timothy Snyder hat vor einiger Zeit darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Gründungsmythos der Europäischen Union ein Mythos ist, der mitnichten der geschichtlichen Realität entspricht, sondern eine Lebenslüge, eine Ideologie. Snyder interpretiert die Entwicklung, die zur Herausbildung der Europäischen Union geführt hat, ganz anders. Snyder sieht ehemalige Kolonialmächte, imperialistische Staaten, die entweder bei ihrem Versuch gescheitert sind, ein Imperium aufzubauen, wie Deutschland und Italien im 2. Weltkrieg, oder die ihre Weltreiche in der Folge des 2. Weltkrieges verloren haben, so Großbritannien, Frankreich, Holland, Belgien und Portugal, so Österreich und Spanien, denen dies schon vorher passiert ist.

Snyder nimmt an, es sei dieser Verlust, der die europäischen Staaten zu der Einsicht gebracht hätte, eine weltpolitische Rolle nur dann noch spielen zu können, wenn sie einen Teil ihrer Souveränität an europäische Institutionen abgeben und eine Wirtschaftsgemeinschaft bilden. Das klingt einsichtig und nachvollziehbar, und jeden, dem daran gelegen ist, sich von Mythen freizumachen, wird es freuen. Snyder erwähnt bei seiner Interpretation der Geschichte, soweit mir bekannt, nicht, dass die Entstehung der Europäischen Union in der Zeit des Kalten Krieges stattfand, der Ost-West-Konfrontation, bei der es der historische Zufall, der wahrscheinlich keiner ist, so wollte, dass all diese gerade eben noch imperialistischen Staaten im Westen Europas zu finden sind, dass die europäischen Staaten, bei denen es nicht so war, die im östlichen Europa, sich als Teil des sowjetischen Imperiums wieder fanden.

Snyder beschäftigt auch nicht, soweit mir bekannt, was es für Folgen hat, dass die Staaten, die nach Beendigung des Kalten Krieges, dem Zerfall des sowjetischen Imperiums, der Europäischen Union beitreten wollten und in sie aufgenommen wurden, eine ganz andere Vorgeschichte in sie eingebracht haben. Es handelt sich dabei um Staaten, die bis dahin nicht souverän waren, ihre eben errungene Souveränität dann gleich wieder beim Eintritt in die EU aufgegeben haben.

Es könnte ja sein, dass sich die Probleme, die es in der Europäischen Union gibt, zu einem Großteil dadurch erklären ließen. Es könnte sogar so sein, dass der Gründungsmythos der alten Europäischen Union für die neue, die nach dem Ende der europäischen Spaltung entstandene EU sehr viel eher zutrifft, und damit dann kein bloßer Mythos mehr ist. Heute, angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine, beschwört auch Snyder diesen Gründungsmythos der Europäischen Union, er mahnt die EU, sich an ihm zu messen, ihm gerecht zu werden – so kann’s gehen, wenn Historiker in die aktuelle Politik geraten, sich aufgefordert fühlen, politisch Stellung zu beziehen.

Frieden, na klar, gegen Frieden kann niemand sein, aber es darf keinen Diktatfrieden geben. Dass Russland der Ukraine Friedensbedingungen diktieren könnte, scheint schon als bloße Vorstellung derzeit so absurd, dass sich jeder intelligente Mensch fragen muss: Warum redet man überhaupt davon? Und wer noch ein bisschen weiterdenkt, der fragt sich dann, ob es vielleicht jemand anderen geben könnte, eine andere Macht, die der Ukraine einen Frieden diktieren könnte, den sie dann zu unterschreiben hat. Natürlich wird es irgendwann Verhandlungen geben müssen; aber wann die Bedingungen dafür reif sind, das entscheidet die souveräne Ukraine ganz alleine. Auch ganz souverän darüber, welchen Vertrag sie dann akzeptiert. Eine Selbstverständlichkeit – aber warum dann das so Selbstverständliche so sehr betonen?

Die, die es tun, wissen doch ganz genau, dass die Ukraine derzeit so ganz souverän und unabhängig in ihren Entscheidungen gar nicht ist. So sehr abhängig von der westlichen Unterstützung, von den Waffen, die wir ihr liefern, von den finanziellen Zuwendungen des Westens. Und dann dürften die ukrainischen Politiker so naiv doch wohl nicht sein, sich nicht daran zu erinnern, dass die amerikanische Regierung vor gar nicht so langer Zeit über ihren Abzug aus Afghanistan mit den von ihren jahrelang bekämpften Taliban verhandelt haben. Über die gewählte Regierung in Kabul hinweg. Und in Vietnam war’s doch nicht anders, dass die südvietnamesische Regierung so gar nichts zu sagen hatten, als sich die USA mit den Nordvietnamesen auf den Abzug ihrer Truppen geeinigt hatten. Souverän in ihren Entscheidungen ist die Macht, von der ein angeblich souveräner Staat abhängig ist. Alles andere ist Propaganda.

Ein Staat, der zum Beispiel der Europäischen Gemeinschaft beitritt, gibt seine Souveränität auf. Er gibt einen Teil seiner staatlichen Selbstbestimmung an die Institutionen der Gemeinschaft ab, an Brüssel, an den Europäischen Rat, an das Europa-Parlament, den Europäischen Gerichtshof. Gibt ein Staat einen Teil seiner Souveränität ab, oder gar mehrere Teile seiner bis dahin eigenen Entscheidungsmacht, dann gibt er seine Souveränität auf. Es muss so brutal gesagt werden, es sollte allen Staaten, die sich mit der Absicht tragen, der EU beitreten zu wollen, in dieser Brutalität gesagt werden. So, dass es auch ihre Bevölkerungen erreicht. Damit es darüber keine Missverständnisse gibt.

Den Politikern und ihren Parteien, den Regierungen, die den Antrag zur Aufnahme in die EU stellen, mögen die Vorteile überzeugend erscheinen. Wohlstand, finanzielle Unterstützung, Rechtsstaat, die Sicherheit vor Mächten, durch die sich ihr Staat unter Druck gesetzt fühlt. Auch die Bevölkerung stimmt den Europäischen Verträgen zu, ohne sie natürlich genau studiert und in all ihren Folgen bedacht zu haben. Aber dann gehen ein paar Jahre ins Land, es finden Wahlen statt, eine mehr nationalistische Regierung kommt an die Macht, und ihr gefällt die Pressefreiheit nicht, der Rechtstaat geht ihr zu weit, ihr Staat soll lieber christlich geprägt bleiben, die Schwulen und Lesben passen nicht zu den einheimischen Sitten, die Demokratie ist ihr zu liberal. Ihre Werte sind nicht so ganz die der westlicheren Staaten, die schon länger der EU angehören, ihre Regeln gemacht haben. Der Ärger beginnt.

Die Souveränität, grad eben gewonnen, nach dem Zerfall des Sowjet-Imperiums, gleich wieder aufgegeben – könnte sein, dass dies eine Entscheidung war, die zu den Staaten Ost-Europas doch nicht ganz passte. Nur vielleicht zu den Eliten, die irgendwo Anschluss suchen mussten, um sich in stürmischen Zeiten abzusichern. Auch, damit der von ihnen regierte Staat wirtschaftlich überleben kann. Man tritt einem Club bei, man wird in ihn auch aufgenommen. Man erklärt, sich an die in diesem Club geltenden Regeln halten zu wollen. Dann stellt man fest, in der Satzung dieses Clubs gibt es keine Regelung, wie man eines seiner Mitglieder, das sich nicht an die Regeln hält, aus ihm wieder herauswerfen kann. Also hält man sich nicht mehr an die Regeln. Und dann verlangt man, dass die Regeln verändert werden.

Die Medien lenken unseren Blick auf die kleine ukrainische Stadt Bachmut. Der Kampf um Bachmut habe für beide Seiten symbolische Bedeutung, so heißt es, und dass die Russen dort ihre Soldaten verheizen, ganze Regimenter für die Eroberung dieser strategisch womöglich völlig unwichtigen Stadt opfern, es wundert niemanden. So menschenverachtend sind die Russen nun mal. Aber es gibt auch ukrainische Soldaten, die bei der Verteidigung dieses Symbols sterben – ob das nun heroisch ist oder Irrsinn, das müssen die Ukrainer unter sich klären.

Die andere Meldung der letzten Wochen dagegen, die sicher viel wichtiger ist, weil sie die Weltkarte verändert, jedenfalls die des Nahen Ostens, bleibt in den Medien am Rande: das mit dem Westen verbündete Saudi-Arabien hat sich mit seinem bisherigen Todfeind, dem auch vom Westen bekämpften Iran, auf die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen geeinigt, darauf, diese Todfeindschaft zu beenden. Und die Chinesen haben es vermittelt. Und nun wollen die Chinesen auch das versuchen, ein Friedensabkommen zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln, und natürlich schreien da jetzt viele auf, den Chinesen sei nicht zu trauen, sie würde nur ihre eigenen Interessen verfolgen – als ob Staaten jemals etwas anderes getan hätten. Jedenfalls souveräne Staaten.