13. August. Das Jahr 1961. Bau der Mauer, und natürlich war ich für den Bau der Mauer. Sie gegen uns, und auch wenn wir schwach waren, eine Mauer konnten wir immerhin bauen. Wir machten Propaganda für die Mauer, meine Klasse in der Edgar-André-Oberschule, damals nach einem antifaschistischen Boxer benannt, nun nach meinem Freund Erich Fried, dem Dichter.
Wir standen am Strausberger Platz, sangen ein Lied – ich erinnere mich nicht mehr an den Text. Eine bekannte Melodie, zu der neue Worte gedichtet worden waren. Böse Worte, höhnische. Ich hatte, die Strophen des Liedes illustrierend, ein paar Plakate gemalt. Gar nicht mal schlecht. Im expressionistischen Stil, so ungefähr wie die Bilder von Baselitz aussehen, so brutal hingeschmiert, und auch Baselitz kommt ja aus dem Osten.
Ein Plakat, das letzte der Reihe, zeigte den Kriegsbrandstifter, also Willy Brandt, Bürgermeister der Frontstadt West-Berlin, für uns ein ganz schlimmer Hetzer, ein wütender Anti-Kommunist, für uns ein Kalter Krieger – zum Entspannungspolitiker wurde er ja auch erst, als ihm klar wurde, mit dem Slogan „Die Mauer muss weg“ ist die Mauer nicht wegzukriegen. Auf meinem Hetzplakat mit einem weit aufgerissenen Maul in ein Mikrofon des Rias brüllend – der Rias, der Rundfunk im amerikanischen Sektor, ein Hetzsender.
So male ich heute nicht mehr, und 1961, da war ich neun Jahre alt. Man vergebe dem kleinen, dummen Jungen die flott hingeschmierten Karikaturen. Und dass er so 100 Prozent von der Mauer überzeugt war.
21. August 1968. Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei
Sieben Jahre später. Ich war 16, sieben Jahre älter. Und ich war nicht mehr auf der Seite der Macht. Ich war etwas älter geworden, etwas schlauer, aber auch etwas dümmer. Noch fanatischer. Naiver. Ich hatte verlernt, dass sich immer die Frage stellt: Wer wen? Wer hat das Sagen, wer die Macht über wen, wer muss sich ihr fügen? Ich glaubte, es ließe sich der Sozialismus auch ohne den Machtfaktor entwickeln. Und ich war bereit, für meine Überzeugungen, für einen besseren Sozialismus ins Gefängnis zu gehen.
Für einen Sozialismus, der nicht in sozialistische Länder einmarschiert, die ihren eigenen Weg zum Sozialismus gehen wollten. Ich lerne, als ihr Häftling in Hohenschönhausen, die Stasi kennen. Mich wundert, wie wenig diese Leute über mich, meine Freunde, meine Familie und auch über die DDR wissen. Ich merke, die Stasi ist in erster Linie ein bürokratischer Apparat zur Produktion von Akten.
9. November 1989. Fall der Mauer
Von 68 aus gerechnet 21 Jahre später, 28 Jahre, nachdem sie erbaut worden war, und die Mauer war Geschichte. Und wir lernten, wie einfach es doch war, eine solche Mauer beiseitezuräumen, es mussten nur genügend Menschen zusammenkommen, sich in ihre Richtung bewegen, und dann war die Mauer nur Stacheldraht, Beton, bewacht von verdutzten Grenzern, die es nicht wagten, sich dieser Masse von Menschen entgegenzustellen. Die Frage ist also die: Warum gab es diese Menschenmenge im August 1961 beim Bau der Mauer nicht, die es dann im November 1989 gegeben hat?
Ich bin Hobby-Historiker, ich reite mein Steckenpferd, ich antworte: Weil der Bau der Mauer 1961 legitim gewesen ist, weil die Mauer 1989 ihre Legitimität verloren hatte. Als ein Detail des Kalten Krieges zwischen Ost und West legitim, jedenfalls hinzunehmen, zähneknirschend von vielen, nicht alle waren so sehr von der Mauer überzeugt wie ich. Und ich war von ihrer Notwendigkeit auch dann noch überzeugt, als ich 1971, zehn Jahre nach ihrem Bau, vom Osten in den Westen abgehauen bin.
Ich habe auch nie und von niemandem ein mich überzeugendes Argument gehört, das mich davon abgebracht hätte, in der Mauer ein Mittel zu sehen, das dazu beigetragen hat, dass aus dem kalten nicht ein heißer Krieg werde, einer, der mit Nuklearwaffen ausgetragen wird. Und jeder vernünftige Politiker im Westen hat es verstanden, auch die, die dann 28 Jahre lang gegen die Mauer gehetzt haben – Propaganda, und genau darauf kam es ja an, dass der Kalte Krieg einer der Worte bleibe.

Dann, 1986, beginnen die Verhandlungen zwischen Reagan und Gorbatschow, die den Kalten Krieg beenden, zwei Jahre später fällt die Mauer, sie hatte mit dem Ende des Kalten Krieges ihre Legitimität verloren, so können wir es in der Rückbetrachtung sagen. Aber sie musste auch für die, die sie beschützten, obsolet geworden sein. Nicht nur für die, die mal in den Westen fahren wollten. Auch für die, die genau an dieser Linie Wache standen, die den Osten vom Westen trennte.
Die Grenzschützer haben dann den Grenzverkehr geregelt, aus ihnen wurden von einem Moment zum nächsten Verkehrspolizisten. So kann‘s gehen. Und kann es so gehen, dann ist es vielleicht für alle Beteiligten besser – es lassen sich Tote vermeiden.
8. November 1972. Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR.18. September 1973. Aufnahme von BRD und DDR in die UNO
1. August 1975. Feierliche Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki, Abschluss der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in der sich die 35 Unterzeichnerstaaten, darunter die DDR, zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit verpflichteten. So auch die DDR.
Die Vorstellung jedoch, ein diktatorisches Regime würde sich, nur weil es sich in einem internationalen Abkommen dazu verpflichtet hat, von nun an um die Einhaltung der Menschenrechte bemühen, war natürlich naiv. Es galt das 11. Gebot: Du sollst dich nicht erwischen lassen. Auch für die DDR und ihr Ministerium für Staatssicherheit. Unter Beobachtung durch die Westpresse, deren Korrespondenten sie nun auch ins Land hatten lassen müssen.
Davor, vor 1975 und auch zu meiner Zeit in der DDR, bis zu meiner Flucht in den Westen vier Jahre vor Helsinki, da musste man sich wirklich etwas zuschulden kommen lassen, damit sich die Stasi für einen interessierte, eine Straftat begehen, wie ich 1968, staatsfeindliche Hetze, Gruppenbildung und was sie da sonst noch an Politischem in ihrem Strafgesetzbuch zu stehen hatten; dann wurde man inhaftiert, dann wurde man von einem ihrer Gerichte verurteilt.
Eine Ausnahme: Robert Havemann, mein Vater, der fortwährend gegen die Gesetze der DDR verstieß, dem aber bis zur Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976 nichts passierte, der unbehelligt blieb. Eine Entscheidung von ganz oben, von Walter Ulbricht erst, dann von Erich Honecker, der 1971, im Jahr meiner Flucht, an die Macht kam, übernommen. Beide wollten den Skandal nicht, keinen Prozess gegen Robert Havemann, gegen den antifaschistischen Widerstandskämpfer, keinen Prozess, der nur ein Schauprozess hätte sein können.
Stattdessen wurde er von der Stasi überwacht, auch von inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi bespitzelt. Aber der Ausnahmefall Robert Havemann wird dann zur Regel, die Überwachung allgemein. Die Stasi kann nicht mehr Straftaten verfolgen, sie verlegt sich darauf, Straftaten zu verhindern. Die Stasi versucht, die, die sie vorher in Haft gehalten hatte, in den Westen zu expedieren.
1989 hatte die Stasi 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter und geschätzt etwa 110.000 bis zu 189.000 inoffizielle Mitarbeiter. Damit kommen wir auf mindestens 200.000 Menschen, die eine Bevölkerung von 16 Millionen bespitzelt und überwacht haben. Zum Vergleich: Die Gestapo begann 1933 mit 50 Mitarbeitern, 1935 waren es 4200, 1937 dann 7000, bei einer Bevölkerung von fast 80 Millionen, 1941 und damit nach zwei Jahren Krieg waren es 14.835, von denen 4000 in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten tätig waren, am Kriegsende waren es 31.000.
Vergleichen heißt ja nicht gleichsetzen, und ein Vergleich zwischen Gestapo und Stasi kann auch darin münden, die Gestapo als den sehr viel erfolgreicheren Geheimdienst einzuschätzen, getragen von der Unterstützung des Nazi-Regimes durch die deutsche Bevölkerung. Aber es gibt auch Leute (glauben wir ihnen, dass sie es einschätzen können), die von der Stasi als dem größten geheimpolizeilichen und geheimdienstlichen Apparat der Weltgeschichte sprechen. Bei dem, worum es mir hier geht, ist eines entscheidend: der sprunghafte Anstieg der Zahl der innoffiziellen Mitarbeiter nach 1975.
Bei Wikipedia liest sich das, was ich lange nur vermutet hatte, so: „Da die DDR sowohl im Grundlagenvertrag mit der Bundesrepublik Deutschland als auch mit dem Beitritt zur UN-Charta und der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte die Absicht zur Achtung der Menschenrechte bekundet hatte, versuchte das MfS vermehrt, oppositionelles Verhalten ohne Anwendung des Strafrechtes zu sanktionieren und stattdessen auf „weiche“ und „leise“ Formen der Repression – wie beispielsweise Zersetzungsmaßnahmen – zurückzugreifen. Hierfür war eine systematische und flächendeckende Überwachung unter Einsatz von bis zu 200.000 inoffiziellen Mitarbeitern erforderlich.“
Und was sagt uns das? Etwas verkürzt: Die Menschenrechte können auch ganz unangenehme Nebenwirkungen haben.
Ein Szenenwechsel
Ein Präsident verliert ganz offensichtlich die Wahl, aber er hat den Staatsapparat, die staatlichen Medien so gut im Griff, dass er behaupten kann, die Wahl gewonnen zu haben. Es folgen Proteste, Massendemonstrationen gegen diesen Wahlbetrug, es kommt zu Streiks in den großen Staatsbetrieben. Aber er übersteht diese Krise seiner Legitimation – wie ist das möglich?
Er lässt seine Polizisten, seine Sicherheitskräfte auf die friedlich Demonstrierenden los. Er antwortet mit brutaler Gewalt, die sich in den Gefängnissen fortsetzt. All das ist gut dokumentiert. Vielleicht zu gut, denn die Schergen, die der Präsident die Drecksarbeit hat machen lassen, müssen befürchten, wegen ihrer Verbrechen belangt zu werden, siegt die andere Seite. Der Rechtsstaat, den die Gegner des Präsidenten fordern, die Demokratie mit ihren Menschenrechten, bedroht nun ihre Freiheit, sie können nur noch mit dem Verbrecher im Präsidentenpalast untergehen. Oder ihn an der Macht halten.
Die Brutalität, mit der sie vorgehen, vorgehen sollen, schweißt das Schicksal jedes einzelnen dieser Schergen mit dem dessen zusammen, der den Befehl gegeben hat. Das ist so in Belarus passiert. So ähnlich in Myanmar. So auch in Syrien. Und es ist wahrscheinlich das, was gerade im Iran passiert, und dort nicht zum ersten Mal. Und so war es auch in Russland, bei der gescheiterten Revolution von 1905, bei der vom Februar 1917 dann nicht mehr, da gingen die Kosaken, nachdem sie mehrere Tage lang auf die protestierenden Massen mit ihren Säbeln eingedroschen hatten, auf die Seite des Volkes über. Aber es drohte ihnen auch nicht, für ihre Untaten vor dem Seitenwechsel strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden.
Auch hier wieder, ganz und gar unvorhergesehen, nicht die Wirkung der Menschenrechte, die wir uns versprochen, von ihnen erhofft haben. Die Drohung mit dem Rechtsstaat kettet die Verbrecher aneinander. Macht alles nur noch schlimmer. Diejenigen, die die Befehle geben, haben ein Interesse daran, dass die, die sie ausführen, so brutal wie nur möglich vorgehen. Man lässt den Wachhund von der Kette, auf dass er zum Bluthund werde. Der Untergebene muss mitschuldig werden, so sehr schuldig, dass er dann nicht mehr die Schuld auf die Vorgesetzten abwälzen kann.
Der Rechtsstaat erkennt den Befehlsnotstand nicht an, er verfolgt die individuelle Schuld jedes einzelnen Befehlsempfängers. Eine Hand besudelt die andere, und mit Dreck und Blut beschmiert halten sie nur noch mehr zusammen, im gemeinsam, wenn auch arbeitsteilig begangenen Verbrechen. Und was ist mit der Legitimität staatlicher Gewalt, der ich so besessen nachgehe? Nach der ich immer wieder frage? Die ich auch anerkenne. Einen Staat ohne Gewalt, den gibt es doch nicht. Aber ein Staat, wenn er seine Legitimität verloren hat, der kann doch nicht überdauern. Auch mit Gewalt nicht. Und vielleicht muss man hier nur etwas Geduld aufbringen.
Die Revolte in Russland von 1905 war noch mit ein paar wenigen Zugeständnissen und viel staatlicher Gewalt niederzuschlagen, die von 1917, zwölf Jahre später, dann nicht mehr. Es hat doch auch zwei Jahre gebraucht, bis die Mauer nach Beendigung des Kalten Krieges fiel. Oder es handelt sich hier um etwas Neues, für das meine These nicht mehr zutrifft: Dass exzessiv angewendete Gewalt einen Staat, der seine Legitimation verloren hat, in seiner Existenz sichern kann. Der Aufstand gegen den Staat bricht zusammen, weil sich der Staat durch die Staatsgewalt allein schon legitimiert – erschreckender Gedanke.
Auch wenn die Gruppe, die ein Land regiert und beherrscht, die Legitimation dafür verloren, verspielt und den eigenen Interessen geopfert hat, klammert sie sich an die Macht, sie geht erst, wenn es nicht anders geht. Ein Vorteil der Demokratie besteht darin, dass es in ihr noch ein Leben, auch ein politisches Überleben geben kann, wenn man sein Amt verloren hat. Der Sturz ist nicht der ins Bodenlose.
In einer Despotie, einer Tyrannei, in einer Diktatur geht es in einer Krise nicht nur um den einen an der Spitze, der vielleicht noch auszutauschen wäre, es geht um die Macht der Gruppe, die diesen einen stützt, und die mit dem, den sie stützt, ihrer Herrschaft verlustig gehen würde. Eine solche Herrschaft braucht dann auch noch ihre Schergen, die sie beschützen, vor dem Mob da draußen; und in einer Revolution gibt es immer diesen entscheidenden Moment, in dem die Sicherheitskräfte die Seite wechseln, zum Volk übergehen – ohne diesen Seitenwechsel bleibt der Aufstand eine Rebellion, die niedergeschlagen wird.
Bevor dieser Moment gekommen ist, entwickelt sich in den Truppen des Sicherheitsapparates eine Gruppendynamik, aber jeder einzelne in ihnen muss die Loyalität zu dem Regime aufkündigen, dem er bis dahin gedient hat. Es kann sein, dass ein paar derjenigen, die sich am stärksten verhasst gemacht haben, geopfert werden müssen, aber die Mehrzahl in einer solchen Truppe muss die Chance für sich sehen, einigermaßen, zumindest lebend, aus der Scheiße herauszukommen, in der sie dann stecken.
Die Sicherheitsleute sind mit einem Mal um ihre eigene Sicherheit besorgt, mehr als um die, für deren Sicherheit sie bisher gesorgt haben. Sie müssen alles versuchen, um nicht im Moment ihres Seitenwechsels für das zur Verantwortung gezogen zu werden, woran sie bis dahin beteiligt waren. Sehen sie diesen Ausweg nicht, kämpfen sie weiter, bleiben sie loyal. Es muss zu irgendeiner Verbrüderung mit dem Volk kommen. Und sei sie noch so verlogen. Ohne falsches Pathos geht es nicht ab.
Maximalforderungen
„Das Mafia-Regime im Kreml wird für seine monströsen Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen. Alle russischen Soldaten, die an dem verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine teilnehmen, müssen wissen, dass sie ebenfalls bestraft werden – und zwar auch Jahrzehnte später! Es ist gut, dass Selenskyj dies in aller Deutlichkeit klarstellt.“ So ein Kommentar im Forum der Zeit.
Und genau das ist vielleicht ein großer Irrtum. Rhetorisch mag‘s überzeugend klingen, und es spricht auch unser Gerechtigkeitsempfinden an; zu hoffen aber bleibt doch eher, dass die russischen Soldaten, die an dem verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine teilnehmen, nie etwas von diesen Absichten erfahren, sondern weiterhin darauf setzen, dass Gefangene, wie bisher schon mehrmals geschehen, zwischen den beiden Kriegsparteien ausgetauscht werden. Das macht es ihnen nämlich leichter, sich gefangen nehmen zu lassen, um auf diese Weise ihren Kriegseinsatz für sich zu beenden.
Es bleibt auch zu hoffen, dass dieses Mafia-Regime im Kreml, nebenbei auch die Regierung eines großen Landes, solche Ankündigungen für leeres Gerede hält. Russland ist nicht Serbien, das Slobodan Milošević an das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeliefert hat. Die drei Weltmächte Russland, China und die USA erkennen die Legitimität des Gerichtshofes nicht an. Deutschland kann sich gerne für eine universelle Anerkennung des Gerichts aussprechen, aber das bleibt nun wirklich leeres Gerede, solange wir noch nicht einmal mit unserem Verbündeten USA darüber zu reden beginnen, dass die Nato auch in diesem Punkte eine Wertegemeinschaft sein soll, sein müsse, um als solche glaubwürdig zu sein.
Die USA behalten sich sogar das Recht vor, ihre Bürger, die in Den Haag wegen Kriegsverbrechen angeklagt sind, in einer militärischen Operation zu befreien. Das hört sich jetzt vielleicht nach Whataboutism an, ist aber so nicht gemeint. Der Weltpolizist, der losgeht, den Putin zu verhaften, muss schon eine Weltmacht sein, und die USA fallen da wahrscheinlich aus. Mit Atombomben lässt sich der, der selber welche in seinem Waffenarsenal hat, nicht vor ein Gericht zerren.
Das Beispiel Milošević könnte hier eventuell aber doch weiterhelfen: Serbien hatte die Aussicht, der Europäischen Union beizutreten, als der Nachfolger von ihm bereit war, seinen Vorgänger nach Den Haag zu überstellen, und vielleicht wäre Russland das gleiche Angebot zu machen, diesem Club beizutreten, an dessen Regeln es sich dann halten muss. Solche Fragen lassen sich am besten mit Geld regeln – dem kleinen Frontsoldaten hilft es jedoch nicht, er muss bis zum bitteren Ende weiterkämpfen, um ja nicht für seine Teilnahme am Angriffskrieg seines Landes von uns gerichtlich belangt zu werden.
Nimmt man die neuesten Urteile der deutschen Justiz zum Maßstab, die sich nun Wachsoldaten von Konzentrationslagern und eine Sekretärin vorgeknöpft hat, Jahrzehnte nach ihrer Beteiligung an diesen Verbrechen, dann hätten eigentlich alle Soldaten der Wehrmacht, die am Angriffskrieg gegen Polen und die Sowjetunion beteiligt waren, gerichtlich belangt werden müssen, wo doch hinter der von ihnen vorangetriebenen und gehaltenen Front die fürchterlichsten Verbrechen begangen wurden. Man hat das nach Beendigung des Krieges unterlassen, der von deutscher Seite aus ein Angriffskrieg gewesen ist. Die Nürnberger Prozesse waren ein Novum, aber durch sie konnte keine neue Art der Rechtsprechung durchgesetzt werden. Auch mit dem Gerichtshof in Den Haag nicht, der nur die Verlierer anklagen kann.
„Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben.“ So Joe Biden Ende März über Wladimir Putin, so der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika über den Präsidenten der Russischen Föderation. Wir wissen natürlich nicht, was Gottes Wille in diesem Falle ist, ob er mehr der Orthodoxie zuneigt oder dem God on our side der religiös so zerrütteten Amerikaner. Einer von ihnen, uns recht gut aus früheren Zeiten her bekannt, Henry Kissinger, sagt dazu im Spiegel-Interview: „Das war kein kluger Satz.“
Aber vielleicht war dies nicht nur kein kluger, sondern ein recht dummer Satz, in seiner Dummheit dann wiederum ein recht typisch amerikanischer – der selbsternannte Weltpolizist spricht. Doch diese Weltmacht gerät seit Jahrzehnten immer wieder an die Grenzen ihrer Macht, es mangelt ihr offensichtlich an einer realistischen Einschätzung ihrer Möglichkeiten.
Womöglich ist dem bei Putin so anders nicht. Es sieht ganz danach aus. Beide bemühen Gott, den Allmächtigen, wir haben dann noch, mehr irdisch, die Menschenrechte auf unserer Seite. Und mögen wir ihre universale Gültigkeit verlangen, die Macht haben wir nicht, sie auf der ganzen Welt durchzusetzen, in allen Staaten dieser Erde. Uns mit den Realitäten arrangieren, irgendeine nicht so gute Lösung akzeptieren, die sich mit einem faulen Frieden begnügt; wir können es nicht, ohne unsere Werte zu verraten, die Menschenrechte, die uns so wichtig sind.












