Energie

Lachen uns die Polen aus? Warum Osteuropa der deutsche Atomausstieg verstört

Deutschland will keine Atomkraft mehr. Ein Fehler? Die Polen begeistern sich jedenfalls für die Technologie und planen den Bau des ersten AKWs. Das sind die Gründe.

Ein Atomkraftwerk, wie es eins auch bald in Polen geben könnte.
Ein Atomkraftwerk, wie es eins auch bald in Polen geben könnte.Armin Weigel/dpa

Kopalino ist ein kleiner Ort an der polnischen Ostsee, exakt 100 Kilometer westlich von Danzig entfernt. Der nahe gelegene Strand wirkt so, als wäre er eine Kulisse aus dem Film „The Beach“. Es ist zwar deutlich kälter hier als auf Ko Phi Phi Le. Doch der Strand ist nicht weniger schön, ähnlich einsam und vergleichbar versteckt wie derjenige im Film. Allerdings könnte die Ruhe bald der Vergangenheit angehören. Denn die Polen planen im pommerschen Dorf Kopalino den Bau eines Atomkraftwerks, das bis 2033 entstehen soll.

In Deutschland wird am 15. April der Ausstieg in den letzten verbliebenen Atomkraftwerken Emsland, Neckarwestheim und Isar 2 vollzogen. Unterdessen treibt Polen Pläne voran, die in die gegenteilige Richtung führen. Das Unternehmen Polskie Elektrownie Jadrowe (PEJ), das die Projektleitung übernommen hat, gab im Dezember bekannt, dass der „bevorzugte Standort“ für das Atomkraftwerk Lubiatowo-Kopalino sei. Genau hier in der Idylle an der Ostsee. Eine Provokation?

Pläne für Atomkraftwerk stammen noch aus der Zeit von Donald Tusk

Die Idee, in Polen ein Atomkraftwerk zu bauen, gedeiht schon seit Jahrzehnten. Bereits in den 1950er-Jahren – also noch zu Sowjetzeiten – wurden erste Pläne geschmiedet. In den 70ern wurden sie dann konkreter. In Kartoszyno am See Jezioro Zarnowieckie sollte der Bau entstehen. Mit der Katastrophe von Tschernobyl und dem anschließenden Zerfall der Sowjetunion wuchs jedoch der Widerstand gegen das Vorhaben. 1990 wurde das Projekt eingestellt. Heute steht eine Mauer um ein zerfallenes Gebäude und es weist nichts darauf hin, dass hier einmal ein Meilenstein für die energetische Zukunft Polens geplant war. Umweltaktivismus? Gab es schon zu kommunistischer Zeit.

2009 unterschrieb der damalige Ministerpräsident Donald Tusk Pläne für ein polnisches Atomkraftwerk. Er gehört der Oppositionspartei PO an (Platforma Obywatelska), damals war es die Regierungspartei. Heute ist die rechtskonservative PiS an der Macht. Es ist selten, dass die Kaczynski-Partei Pläne von Tusk wieder aufnimmt und weiterführt. Doch in Zeiten des Krieges muss man nicht immer auf ideologische Stolpersteine Rücksicht nehmen. Das Dokument liegt wieder auf dem Tisch, erklärt der Energieexperte und Journalist Bartlomiej Derski. Vor zwei Jahren habe man es lediglich angepasst. Nun sei das Projekt vollständig in staatlicher Hand, also in der Hand der PiS.

US-Konzern mit Bau des Atomkraftwerks in Polen beauftragt

Die polnische Regierung beauftragte bereits im vergangenen Oktober den US-Konzern Westinghouse mit dem Bau des Atomkraftwerks. Polnische und amerikanische Vertreter jubilierten über den Deal. Die amerikanische Energieministerin Jennifer Granholm ließ dazu wissen: „Diese Entscheidung seitens Polens stärkt nicht nur unsere bilateralen Beziehungen zu Polen zur Energiesicherheit für kommende Generationen, sondern sendet meines Erachtens eine klare Botschaft an Russland, dass das Atlantische Bündnis zusammensteht.“

PEJ hat 2022 eine Umfrage unter den Bewohnern der Region durchführen lassen. Das unabhängige Meinungsforschungsinstitut PBS befragte rund 2000 Personen. Die Umfrage ergab, dass die Unterstützung von 63 Prozent (2021) für das Kernkraftwerk auf 75 Prozent (2022) stieg. 80 Prozent waren optimistisch, dass das erste Kernkraftwerk in Polen bis 2033 gebaut wird. Überdies erwarten 64 Prozent, dass die Investitionen durch den Bau des Atomkraftwerks neue Arbeitsplätze generieren werden. Bei den direkten Nachbarn lag der Wert offenbar sogar bei 82 Prozent.

Kopalino ist „bevorzugter Standort“ für das Atomkraftwerk in Polen

Justyna und Krystian sind unterwegs zum Strand. Hier in Kopalino haben sie ihr Auto geparkt und laufen nun die schmale Straße entlang, die zum Wald vor dem Strand führt. Das junge Paar lebt rund 60 Kilometer von hier entfernt und ist sich einig: Sie befürworten den Bau. Auf die Frage, ob man denn die Diskussionen um Kernkraft in Deutschland verfolge, antwortet Krystian bestimmt: „Die polnische Situation ist die polnische und die deutsche die deutsche.“ 

Dem widerspricht, dass die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas auch in Polen ein großes Thema war. Ein Grund für die breite Unterstützung der Polen für Atomkraftwerke könnte daher laut dem Energieexperten Derski der Umstand sein, dass der deutsche Fokus auf erneuerbare Energien eine längere Abhängigkeit von Gas verursache. Vor allem seit dem Ukraine-Krieg könne dies ein Grund für die Aufgeschlossenheit der Polen gegenüber Atomkraft sein.

Es sind zwar auch noch andere Dörfer im Gespräch, aber Kopalino wurde „bevorzugter Standort“, weil es so nah am Wasser liegt. Der Kiefernwald davor soll großflächig gerodet werden. Die Regierung hatte sich aus Kostengründen für ein offenes Kühlsystem entschieden.

Finanzierung für Atomkraftwerk in Polen noch ungeklärt

Überhaupt, die Kosten. Diese Frage scheint bislang noch nicht geklärt. Soll das Projekt eher durch den Staatshaushalt, also Steuererhöhungen oder Staatsverschuldung, oder eher durch die Verbraucher über ihre Rechnungen finanziert werden? Er könne nur für oder gegen Kernkraft sein, wenn er mehr über die Finanzierung wisse, teilt der Energieexperte Rafal Zasun schriftlich mit. Er sei eher skeptisch, ob die polnische Regierung in der Lage ist, das Atomkraftwerk vor 2040 zu bauen.

Was die Sicherheit anbelangt, haben die meisten Polen, mit denen wir gesprochen haben, keinerlei Befürchtungen. Lediglich Mikolaj Gumulski von Greenpeace gibt zu bedenken: „Die Oder-Katastrophe hat uns gezeigt, dass es sehr inkompetente Leute (in den Behörden, Anm. d. Red.) gibt.“

Der Strand von Lubiatowo – in der Nähe von Kopalino.
Der Strand von Lubiatowo – in der Nähe von Kopalino.NurPhoto/imago

Aktivisten lehnen Atomkraftwerk in Polen an der Ostsee ab

Das Atomkraftwerk wird in Gebieten des europäischen Naturschutzprogramms Natura 2000 stehen. Das ist auch ein Argument, das Baltyckie S.O.S. anführt. Die Gruppe um Aleksandra Aleksandrowicz-Luc lehnt das Kernkraftwerk ab. Die Aktivisten befürchten, dass der Atommüll an der Ostsee gelagert wird. Aleksandrowicz-Luc sagt, dass die meisten Bürger in der Region gegen das Atomkraftwerk seien, aber Angst hätten ehrlich zu sagen, was sie denken. Greenpeace-Aktivist Gumulski spricht sogar von „Propaganda“ der Regierung, der die Bevölkerung ausgesetzt sei.

Wahrscheinlich ist, dass die Region im Norden Polens wirtschaftlich von einem Atomkraftwerk profitieren würde. Hier gibt es bislang so gut wie nur Tourismus und Landwirtschaft. Ressourcen hat die Region keine. Ein weiterer Grund für den Standort sei womöglich, so vermutet es zumindest Energieexperte Bartlomiej Derski, dass hier im Norden Polens bislang keine großen Kraftwerke stehen. Kopalino sei ein guter Standort, um Strom nicht durch das ganze Land vom Süden in den Norden leiten zu müssen. So könne beispielsweise Danzig mit Strom direkt aus dem Norden versorgt werden.

Eisenbahn in der Nähe des geplanten Atomkraftwerks soll modernisiert werden

Zudem sollen Eisenbahnstrecken ausgebaut und modernisiert werden. „Die Entwicklung der Kernenergie ist eine Chance, die Energiesicherheit für Polen zu gewährleisten. Deshalb freue ich mich, dass die Eisenbahn – ein sicheres und umweltfreundliches Verkehrsmittel – zum Bau und später zum Betrieb des Kernkraftwerks beitragen wird“, sagte Infrastrukturminister Andrzej Adamczyk im März bei der Bekanntgabe des Vorhabens.

Auf der anderen Seite vom Wald bei Kopalino stehen Ferienhäuser. An einem Zaun vor einem noch unbebauten Grundstück hängt ein gelbes Schild mit schwarzer Schrift sowie einem Atomkraft-Symbol, das an den „Schrei“ von Edward Munch erinnert. „Nein zu Atom in Slajszewo“ steht da. Slajszewo ist der Nachbarort von Kopalino. In einem der Ferienhäuser ist auch Bartosz zu Gast. Der 43-Jährige kommt aus Gdynia und sagt, das Atomkraftwerk sei eine gute Sache, solange Polen weiterhin Kohle verbrennt. Er räumt aber ein, dass er wohl nicht mehr hierherkommen werde, wenn das Kraftwerk gebaut wird.

Polen wollen „stabile Energiequellen“

Laut Energieexperte Derski könnte es noch weitere Gründe für die breite Unterstützung der Polen für Atomkraft geben. Zum einen sei die Unterstützung für erneuerbare Energien sehr groß, da man in Polen noch sehr abhängig von Kohle sei. Zum anderen forderten die Polen „stabile Energiequellen“. Es sei schließlich nicht immer windig oder sonnig. Da habe ein Kernkraftwerk Vorteile gegenüber den erneuerbaren Energien.

Gegner des geplanten Atomkraftwerks protestieren mit einem Schild in der Nähe vom Strand.
Gegner des geplanten Atomkraftwerks protestieren mit einem Schild in der Nähe vom Strand.Carola Tunk

Maciej Sidorowicz ist mit seiner Familie gerade auf dem Heimweg vom Strand. Auch er sagt ohne zu zögern, Atomkraft sei eine gute Idee. Dann lässt er jedoch den Blick noch mal auf die Umgebung schweifen und denkt kurz nach. „Vielleicht ist es auch doch keine gute Idee, weil hier überall Natur ist.“ Sein etwa zehnjähriger Sohn ist da schon eindeutiger. Ignacy ist gegen Atomkraft. Er denkt, Atomkraftwerke haben etwas mit Atombomben zu tun.

Polnisch-amerikanische Allianz auch in Energie-Fragen?

Mit Atombomben hat Atomkraft zwar nichts zu tun, aber mit dem Krieg. Der Konflikt hat der Bedeutung von Energie in Europa einen ordentlichen Schub verliehen. Polen will sich schon seit langem als Energie-Hub der Region profilieren. Der Bau eines Atomkraftwerks scheint da nur logisch. Der Krieg könnte diesen Prozess beschleunigt haben. Und die Allianz des Landes mit den Vereinigten Staaten in militärischen Fragen könnte auch in energetischen Belangen gestärkt werden – zumal mit Westinghouse die USA an dem Bau des Atomkraftwerks von Kopalino beteiligt sind. Amerika betont immer wieder die Wichtigkeit der Sicherheit Polens. Gut möglich also, dass sich diese Sicherheit auch auf Energie bezieht.

Im Herbst 2023 finden in Polen Wahlen statt. Meinungserhebungen zeigen im Durchschnitt seit einer gewissen Zeit eine leichte, aber zunehmende Zustimmung für die Oppositionsparteien an. Andererseits sind die Oppositionsparteien tief zerstritten. Gleichzeitig erfährt das Land eine der höchsten Inflationsraten in Europa, auch aufgrund der Energiekrise. Die PiS-Regierung steht also unter Zugzwang, die Bevölkerung in Energie-Fragen rechtzeitig zufriedenzustellen.

Auf dem Weg zu einem weiteren Strand in der Nähe von Kopalino zeigt sich ein Taxifahrer wenig begeistert von neuen Technologien. In 20 Jahren gebe es nur noch elektrische Wagen. Und Atomkraft? Die habe man ja in Deutschland abgeschaltet, „dank Angela“, sagt der Mann und winkt verächtlich ab.

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Hier in der Nähe soll es entstehen: das erste polnische Atomkraftwerk
Hier in der Nähe soll es entstehen: das erste polnische AtomkraftwerkNurPhoto/imago