Hannah K. sitzt im Büro, als morgens um 10 Uhr ihr Festnetz klingelt. Die Garten- und Landschaftsarchitektin aus Berlin geht ran und hört die völlig aufgelöste Stimme ihrer Tochter, die sagt: „Mama, es ist was ganz Schreckliches passiert.“
„Mir stockte der Atem“, sagt die Neuköllnerin, die anonym bleiben möchte, der Berliner Zeitung. Die „Tochter“ erzählt unter Tränen, dass sie am Tod eines Kindes schuldig sei, dass sie mit dem Fahrrad jemandem die Vorfahrt genommen habe und ein kleines Mädchen so unglücklich stürzte, dass es gestorben sei.
„Da fällt man in einen Schockzustand, ein zweijähriges Kind tot, die Tochter ist schuldig“, sagt die 60-Jährige. „Ich habe anfangs nicht vermutet, dass es sich um Betrug handelt. Die Stimme und auch die Ausdrucksweise: Das war eindeutig sie.“ Die Berlinerin will ihrer Tochter (33) nur noch helfen, an etwas anderes denkt sie gar nicht. „Alles andere ist dir egal.“
Anschließend reicht ihre Tochter das Telefon an eine vermeintliche Polizistin weiter. „Die war sehr nett und mitfühlend“, sagt die Berlinerin. Die „Beamtin“ erklärt der Mutter in ruhiger Tonlage, dass die Tochter in U-Haft bleiben müsse, weil der Staatsanwalt ihr Fahrerflucht vorwerfe. Sie sei nach dem Unfall weitergefahren und habe erst nach 100 Metern gehalten. „Ihre Tochter ist vollkommen fertig und steht unter Schock, sie braucht einen Therapeuten oder Psychiater“, sagt die Frau am Telefon.
Natürlich ist es Hannah K. zwischendurch mal durch den Kopf geschossen, möglicherweise auf einen Enkeltrick hereingefallen zu sein. Von dieser fiesen Betrugsmasche am Telefon hört man ja oft. Beim Enkeltrick geben sich Täter am Telefon oder per Kurznachricht als Verwandte in einer Notlage aus. Sie versuchen dann, ihre häufig älteren Opfer dazu zu bewegen, Geld an sie zu überweisen oder an der Haustür zu übergeben.
Ich bin zur Bank gefahren und habe das Geld abgehoben.
„Doch das habe ich weggeschoben, ich hatte ja mit meiner Tochter selber gesprochen“ – auch als die vermeintliche Beamtin zu ihr sagt, sie könne eine Kaution beim Amtsgericht einzahlen, damit die Tochter freikomme, folgt sie den Anweisungen. Denn beim Amtsgericht einzuzahlen, ist etwas anderes, als Geld oder Wertgegenstände an der Tür zu übergeben. „Da wäre ich sofort misstrauisch geworden, nicht aber bei einer offiziellen Einzahlung beim Gericht. Ich bin zur Bank gefahren und habe das Geld abgehoben.“ Die falsche Polizistin bleibt die ganze Zeit am Telefon und redet ihr gut zu – führt aber auch Regie.
Als sie nach der Bank zum Amtsgericht fahren will, lotst die Frau am Telefon sie in die Schlesische Straße 34 mit der Begründung, die Kasse am Amtsgericht habe jetzt bereits geschlossen. „Ich habe mich in ein Taxi gesetzt und bin dorthin gefahren. Auf dem Weg wuchsen die Zweifel, denn ich wusste, dass sich dort kein Amtsgericht befindet.“ Als sie am Ziel angekommen ist, steht sie vor einem Haus, in dem ein Lieferservice ist, aber keine Dependance des Amtsgerichts.
Dann drängelt auch noch die Polizistin, sie solle das Taxi wegschicken. „Da war mir dann klar, dass da etwas nicht stimmt“, sagt Hannah K. und macht dem Taxifahrer ein Zeichen zu warten. Als die „Polizistin“ sie erneut auffordert, doch nun endlich das Taxi wegzuschicken, ist sie sicher, dass sie beobachtet wird, denn wie sollte eine Polizistin in Bremen sehen, dass sie die Anweisung nicht befolgt hat. Da sie ihre Zweifel am Handy äußert, will die „Polizistin“ sie wieder einfangen und bietet ihr an, ihr noch einmal ihre Tochter zu geben.
„Da kam ich auf die Idee, meine Tochter etwas zu fragen, was nur sie wissen kann: wie ihr erstes Zwergkaninchen hieß. Ich erhielt keine Antwort. Da war dann auch der letzte Zweifel weg, dass es sich um einen Betrug handelt.“ Inzwischen hat auch ihr Mann die 33-Jährige in Bremen erreicht, die nichtsahnend als Assistenzärztin in der Klinik arbeitete und daher nicht erreichbar war.
Berlinerin fragt sich, wie die Betrüger an alle Daten kamen
Hannah K. beendet das Gespräch, inzwischen ist es 14 Uhr. Sie ruft die Polizei an und erstattet Anzeige gegen unbekannt. Sie nimmt das Ganze nach wie vor mit – die täuschend echte Stimme der Tochter am Telefon, selbst die exakt nachgeahmte Art sich auszudrücken. Sie beschäftigt auch die Frage, wie die Betrüger überhaupt eine Verbindung zu ihr herstellen konnten, obwohl beide unterschiedliche Nachnamen haben.
„Das ist gruselig“, sagt sie. Die Polizei klärt sie später auf, dass die Täter Zugriff auf sämtliche Melderegister haben und dass sie außerdem lediglich ein, zwei Sätze der Opfer brauchen, um deren Stimmen mit Künstlicher Intelligenz (KI) zu imitieren. Diese könnten sich die Betrüger, die oft in Polen sitzen würden, beispielsweise über eine WhatsApp-Sprachnachricht kopiert haben. Die Berlinerin sagt zur Berliner Zeitung: „Meine Tochter ist weder in den sozialen Medien unterwegs, noch hat sie je ein eigenes Video hochgeladen. Unglaublich, wie die Täter an ihre Stimme gekommen sind.“
Deepfake: Künstliche Intelligenz kann Stimmen imitieren
Die Berlinerin ist Opfer eines perfiden Betrugs geworden, der immer mehr Schule macht. Deepfake nennen das Experten. Täter imitieren Stimmen, aber auch täuschend echte Videos und Fotos. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik warnt seit geraumer Zeit davor, dass es heute schon möglich ist, eine solche Fälschung in Echtzeit mit einer vergleichsweise hohen Qualität zu erstellen.
„Durch Methoden aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) ist dies heute jedoch deutlich einfacher und Fälschungen können mit vergleichsweise wenig Aufwand und Expertise in einer hohen Qualität erstellt werden“, heißt es aus der Behörde. Die Fähigkeiten von KI reichen weiterhin aus, warnen Experten, um anhand von kurzen Soundproben die Stimmen von Personen zu verinnerlichen und originalgetreu zu imitieren. Hierfür entwickelte Softwares analysieren, was eine Stimme einzigartig macht. Sie berücksichtigen dabei auch das geschätzte Alter und Geschlecht der Person sowie etwaige Besonderheiten, etwa Sprachfehler oder Akzente. Auf dieser Basis sucht die KI aus einer riesigen Datenbank von Stimmen eine heraus, die der Vorlage am ähnlichsten ist.
Verbraucherschützerin sagt, wie die Täter vorgehen
Die Behörden versuchen, den Tätern auf die Spur zu kommen. Knapp 6000 Rufnummern hat die Bundesnetzagentur in diesem Jahr bereits vom Netz genommen, weil Kriminelle sie für den Enkeltrick genutzt hatten. Es ist ein kriminelles Geschäft in Milliardenhöhe, die Täter werden oft nicht gefasst, weil sie im Ausland sitzen. Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, sagte jüngst: „Auch nach 20 Jahren hat die Bekämpfung von Rufnummernmissbrauch nichts von ihrer Bedeutung verloren. Immer wieder tauchen neue Szenarien auf und wir gehen konsequent dagegen vor.“
Ayten Öksüz, Referentin Datenschutz und Datensicherheit Gruppe Verbraucherrecht bei der Verbraucherzentrale NRW, beobachtet das Thema aufmerksam. Sie sagt zur Berliner Zeitung: „In der heutigen Zeit ist es leider schnell möglich, trotz üblicher Sorgfalt Opfer von Cybercrime zu werden – nicht zuletzt, da die immer neuen technischen Möglichkeiten auch Kriminellen zusätzliche Optionen bieten.“
Laut Öksüz können die Täter diese Stimmimitationen in der Regel durch Trainingsmaterial herstellen. „Das bedeutet, die Künstliche Intelligenz, die für die Stimmimitation genutzt wird, wird mit realen Sprachaufzeichnungen der entsprechenden Person trainiert. Hier reichen – je nach Qualität sowohl des Eingabe- als auch Ausgabematerials – wohl bereits Sprachproben von nur wenigen Minuten, zukünftig sollen sogar Sekunden ausreichen.“
Woher die Betrüger, auch in diesem Fall, das Material haben, sei unklar. Die Verbraucherschützerin: „Es könnte von Telefonanrufen stammen, die die Täter bei der Tochter der betroffenen Person selbst getätigt haben, um eine Aufzeichnung der Stimme zu ergaunern. Es könnte sich aber auch um Sprachaufzeichnungen handeln, an die die Täter über andere Wege gelangt sind. Heutzutage gibt es ja an vielen Stellen Aufzeichnungen von Stimmen wie das Verschicken von Sprachnachrichten über Messengerdienste, die Nutzung von Sprachassistenten wie Alexa, die Spracheingabe von Streaming-Diensten oder ein auf YouTube oder Facebook hochgeladenes privates (Familien-)Video.“
In einer solch emotionalen Situation – die Stimme der eigenen Tochter meldet am Telefon einen schrecklichen Unfall – sei es natürlich schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren, sagt Öksüz. Dennoch gebe es Möglichkeiten, sich zu schützen.
Die Verbraucherschützerin sagt: „Falls das Telefon der eigenen Tochter nicht gestohlen wurde, sondern auf dem Display nur vorgetäuscht wird, sagt man, dass man auflegt und sofort zurückruft.“ Und zwar nicht die letzte Nummer, die auf dem Display erschienen ist, sondern die Nummer der Tochter in der Kontaktliste. „Im besten Fall ist dann die echte Tochter am Telefon und der Betrugsversuch ist aufgeflogen. Man sollte sich auch durch die vermeintlichen Polizeibeamten nicht unter Druck setzen lassen, da echte Polizeibeamte für ein solches Verhalten Verständnis aufbringen sollten.“
Man könnte mit Verwandten, Freunden und Bekannten auch ein Codewort vereinbaren, dass nirgendwo digital hinterlegt ist. „In derartigen Notsituationen muss es genannt werden beziehungsweise auf Rückfrage gesagt werden. Allerdings muss man in solchen Stresssituationen das Wort dann auch parat haben.“
Verbraucherschützer: Opfer sollen persönliche Fragen stellen
Intuitiv richtig reagierte die Berlinerin Hannah K., als sie die Frage nach dem Namen des Zwergkaninchens stellte. Die Verbraucherschützerin: „Man stellt eine Frage, die eine KI nicht beantworten kann, die eigene Tochter aber sehr wohl – auch in einer solchen Stresssituation.“ Das könnte auch sein, welches Geschenk sie letztes Jahr zu Weihnachten bekomme habe.









