Berlin-Die gesamte Verbitterung der Unionsfraktion über ihre neue Rolle in der Opposition bricht sich Bahn, als Karl Lauterbach ans Mikrofon tritt. Der SPD-Gesundheitsexperte ist an diesem Donnerstagvormittag keiner der offiziellen Redner im Bundestag, der die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes debattiert. Gerade steht der CDU-Abgeordnete Jan-Marco Luczak am Rednerpult und geißelt das Vorhaben von SPD, Grünen und FDP, die epidemische Lage nationaler Tragweite auslaufen zu lassen. Lauterbach will nur eine Zwischenfrage stellen.
Er fängt auf die ihm eigene, etwas umständliche Art an und schickt voraus, dass er sehr früh auf eine mögliche vierte Welle hingewiesen habe. Die Unionsabgeordneten quittieren das mit höhnischen Unmutsrufen. Einer brüllt: „Nimm die Hand aus der Hosentasche im Hohen Haus!“ Lauterbach lässt sich nicht beirren und erklärt, er habe seinerseits am wenigsten Rückhalt bei den Ministerpräsidenten der Union gefunden. Dann seine Frage: „Warum haben Sie die 2G-Regelung nicht eingeführt, als es noch etwas genutzt hätte?“ Es ist eine von vielen Fragen, die an diesem Vormittag nicht beantwortet werden wird.
Kernkritik der Union ist die epidemische Lage nationaler Tragweite
Die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes ist das erste Gesetz, das die neue Abgeordnetenmehrheit aus SPD, Grünen und FDP ins Parlament eingebracht hat. Eine Regierung, die diese neuen politischen Verhältnisse repräsentiert, gibt es noch nicht. Die Union versucht aber schon, einen Begriff dafür zu prägen: Sie spricht von „links-gelber“ Koalition. Der Begriff „links“ soll dabei andeuten, dass das Land nun auf dem Weg ins Chaos ist. Man muss es wohl so sagen: Es geht an diesem Tag, an dem mit mehr als 65.000 neuen Corona-Fällen mal wieder eine neue Rekordzahl gemeldet wird, im Bundestag vor allem um Parteipolitik.
Die Union hat das im Gesetz vorgesehene Auslaufen der sogenannten epidemischen Lage nationaler Tragweite dabei zum Kernpunkt ihrer Kritik erhoben. Die pandemische Lage, die seit März 2020 gilt, ist eine Art Ausnahmezustand, der der Bundesregierung besondere Befugnisse gibt. So kann etwa der Gesundheitsminister die Verteilung von Impfstoffen und medizinischem Material per Verordnung regeln. Auch Einreisebeschränkungen oder ein bundesweiter Lockdown können so verhängt werden. Alle drei Monate muss dieser Ausnahmezustand im Parlament aufs Neue festgestellt werden.
Nun trifft die Neuregelung des Infektionsschutzgesetzes auf eine merkwürdige Zwischensituation: Die alte Regierung ist nur noch geschäftsführend im Amt und zeigte zunächst keinen großen Ehrgeiz mehr, beim Corona-Management die Zügel in den Händen zu halten. Die neue Koalition handelt noch ihre künftige Regierung aus. Weil der Termin aber drängte, musste man sich entscheiden, die alte Notlage ein weiteres Mal zu verlängern oder schnell ein neues Gesetz vorzulegen. Man entschied sich für das Letztere und der Ärger begann.
Im Bundestag rechnen die neuen Oppositionspolitiker der Ampel ihre jeweiligen Nachbesserungen genüsslich vor. Die wiederum kontert, dass man auf die Union zugegangen sei, was diese in all den Jahren ihrer Regierungszeit selbst nie getan hätte. „Sie haben das Gesetz nachgebessert auf unseren Druck“, sagt Luczak. „Aber es reicht nicht.“ Was konkret fehlt, wird auch am Donnerstag nicht abschließend geklärt. Es geht CDU und CSU mehr ums Grundsätzliche: Die neue Ampelkoalition verwässert aus ideologischen Gründen die Corona-Maßnahmen. Und das in einer Zeit, in der es täglich neue Rekordzahlen bei den Infektionen gibt. Soll heißen: Die Ampelkoalition gefährde Menschenleben.
Dietmar Bartsch fordert Grüne zu Selbstkritik auf
Dem versucht die Fraktionschefin der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, entgegenzutreten. Sie empfiehlt der Neu-Opposition einen Wahlspruch der geschäftsführenden Kanzlerin: „Eine gute Politik hat nicht durch die Wand zu gehen. Es gibt zum Schutz die Wand.“ Natürlich befinde sich das Land in einer Notsituation. „Mir macht das eine Riesenangst“, sagt sie und fragt: „Seit wie vielen Wochen hat das Corona-Kabinett nicht getagt?“ Das Boostern hätte man spätestens im September besprechen müssen. Die Grünen-Politikerin appelliert an die Union, der Vorlage zuzustimmen: „Heute erwarten die Leute zu Recht, dass wir uns zusammenreißen und handeln“, sagt sie. „Es interessiert niemanden, ob hier Opposition geübt wird.“
Dietmar Bartsch von den Linken wiederum darf sich bei seiner Rede über großen Applaus von CDU und CSU freuen, zum Beispiel, als er Christian Lindner von der FDP fragt, was er Grünen und SPD in den Tee getan habe, damit sie die pandemische Lage auslaufen lassen, während sie sie im August bei niedrigen Fallzahlen noch verlängert hatten. Die Grünen fordert Bartsch zu mehr Selbstkritik auf: „Wer morgens eine Impfpflicht verkündet und nachmittags zurückrudert, der handelt unseriös“, so Bartsch. „Da kann dann auch Jens Spahn Gesundheitsminister bleiben.“ Jetzt gibt es keinen Applaus mehr aus der Union.
Über die Frage, ob Bars und Clubs nun auch von den Ländern dichtgemacht werden können, verhaken sich kurz darauf gleich drei Juristen: Jan-Marco Luczak, Dirk Wiese von der SPD und Marco Buschmann von der FDP liefern sich mit ihren Zwischenfragen einen bizarren Schlagabtausch, was wo in welchem Absatz des neuen Gesetzes steht und wie es zu interpretieren sei. Spätestens an dieser Stelle dürften die meisten Bürgerinnen und Bürger, die der Debatte folgten, es aufgegeben haben, sie auch zu verstehen. Derweil haben sich Angela Merkel und Olaf Scholz an den Rand des Saals zu einem kurzen Gespräch zurückgezogen. Die Regierungschefin vollzieht den Übergang etwas weniger lärmend und offensichtlich mit weniger Schmerzen als ihre Fraktion.
An diesem Vormittag gibt es noch eine Premiere: die erste Rede von der Besuchertribüne des Plenarsaals. Dort werden während der Bundestagssitzung diejenigen Abgeordneten platziert, die sich der 3G-Regel nicht unterwerfen und weder einen Nachweis über Impfung oder Genesung noch einen Test vorlegen wollen. Es sind bisher ausschließlich AfD-Abgeordnete, die dort Platz nehmen, ihr Rederecht aber auch von diesem Standort aus wahrnehmen dürfen. Der AfD-Abgeordnete Martin Sichert poltert von oben, dass die 2G- und 3G-Regelungen nicht dem Gesundheitsschutz dienten, sondern dazu, „die Bürger zu willigen Untertanen zu erziehen“.


