Die Regierende Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey, SPD, empfängt zu einem Exklusiv-Interview in ihrem Büro im Roten Rathaus. Sie ist gut gelaunt, schenkt den beiden Interviewern heißen Kaffee in die Tassen ein.
Eigentlich waren nur 20 Minuten für das Gespräch geplant, doch es wurden mehr. Auf die Regierende Bürgermeisterin warten immerhin schwierige Monate, auch darum soll es gehen.
Frau Giffey, wie sieht es in der Berliner Koalition nach acht Monaten aus?
Wir haben eine gute Zusammenarbeit, die aber in herausfordernden Zeiten stattfindet. Wir haben mehrere Krisen zu bewältigen und auch das normale Tagesgeschäft zu schaffen. Das, was im Koalitionsvertrag vereinbart wurde: den Wohnungsbau auszuweiten, die Wirtschaft zu unterstützen, für eine funktionierende Verwaltung zu sorgen, die Verkehrswende und die Schulbauoffensive voranzubringen. Ich nehme schon wahr, dass die Krisenbewältigung – Pandemie, Geflüchtete, Energieversorgung – vielfach die anderen Themen überlagert. Die Erwartungshaltung der Berliner ist aber, dass wir uns um alles gleichermaßen kümmern. Und das fordert uns natürlich alle extrem. Wichtig ist, sich darauf zu konzentrieren, zusammen etwas zu bewegen. Das Team wird insgesamt nur so gut sein, wie jeder Einzelne sein Bestes gibt.
Aktuell wird in Berlin um die Fortsetzung des neuen 9-Euro-Tickets gerungen. Am Freitag hat der Koalitionsausschuss entschieden, eine Anschlusslösung für Berlin zu finden, bis der Bund reagiert. Die SPD und Sie haben das öffentlich gefordert, die Grünen wollen noch auf den Bund warten. Was ist da los?
Wir haben gesehen, wie gut das 9-Euro-Ticket bei den Berlinern angekommen ist. Es geht in die Breite. 3,3 Millionen Tickets wurden allein in Berlin verkauft. Es hilft wirklich. Es ist eine Maßnahme, die einerseits die notwendigen Veränderungen für mehr Klimaschutz unterstützt. Aber es ist vor allen Dingen eine soziale Maßnahme, die Menschen mehr Teilhabe und Mobilität ermöglicht, die sich das sonst vielleicht nicht leisten könnten. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Hilfen direkt ankommen – Maßnahmen anzuschieben, die schnell umsetzbar sind, was hier der Fall ist. Denn klar ist auch: Selbst wenn der Bund sich jetzt sofort für eine Lösung entscheidet, wird die erst ab 2023 greifen. Aus meiner Sicht brauchen wir aber schon im beginnenden Herbst und Winter Entlastungen für die Berlinerinnen und Berliner. Natürlich muss das in Absprache mit Brandenburg und dem Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg geschehen. Aber selbst wenn am Ende der C-Bereich ausgenommen wäre und nur A und B abgedeckt wären, können wir hier enorm helfen und einen Beitrag dazu leisten, dass die Berlinerinnen und Berliner gut durch den Winter kommen.
Und doch gibt es offenbar Widerstände bei Ihrem grünen Koalitionspartner. Frau Jarasch zeigt sich als wenig kooperative Koalitionspartnerin. Können Sie die Kollegin überzeugen?
Wir werden den September nutzen, um vorzubereiten, dass es gelingt. Gleichzeitig müssen wir das Signal an den Bund senden, dass wir eine bundesweite, einheitliche Lösung wollen. So, wie ich die Diskussion auf Bundesebene wahrnehme, bewegt sich da auch was. Ich erwarte von der Bundesregierung ein klares Bekenntnis zu einer guten Anschlusslösung. Ich erwarte nicht, dass es auf Dauer nur neun Euro kosten wird. Das wird nicht gehen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich ja für ein bundesweites Ticket in Höhe von 49 Euro ausgesprochen. Aus meiner Sicht wären Abstufungen sinnvoll: Wenn man das Ticket bundesweit nutzt, könnte es 49 Euro kosten, auf Landesebene gegebenenfalls 29 Euro. Da wird es noch viele Diskussionen geben. Aber erst mal sollten wir in Berlin handeln.
Einmal ganz konkret: Wenn eine Berliner Lösung ab dem 1. Oktober gelten soll, bis wann muss im September was von wem in Berlin entschieden worden sein?
Wir sind mit Brandenburg in Gesprächen, die allerdings vor anderen Herausforderungen stehen als wir. Zudem hole ich gemeinsam mit Verkehrssenatorin Bettina Jarasch alle Akteure an einen Tisch: den VBB, die S-Bahn, die BVG und weitere. Wir brauchen außerdem einen Vorlauf, um die neue Ticket-Variante in die Automaten einzuspeisen. Wir müssen eine politische Einigung bis Mitte September herbeiführen, damit es klappt. Es muss also zügig gehen.
Und wie werden Sie es bezahlen?
Der Finanzsenator hat kürzlich die Haushaltszahlen vorgestellt und wir haben zur Mitte des Jahres einen positiven Finanzierungssaldo von mehr als zwei Milliarden Euro. Einen Teil davon können wir für die temporäre Ticket-Lösung in Berlin verwenden.
Nun läuft am 31. August nicht nur das 9-Euro-Ticket aus, auch der Tankrabatt geht zu Ende. Experten gehen davon aus, dass sich der Benzinpreis um 34 Cent pro Liter, der Preis für Diesel sich um 16 Cent pro Liter erhöhen könnten. Im Wahlkampf haben Sie sich für den motorisierten Individualverkehr starkgemacht. Würden Sie auch hier eine Anschlusslösung befürworten?
Ich sehe den Tankrabatt kritisch. Wir haben gesehen, dass er eben überwiegend nicht im Portemonnaie der Menschen angekommen ist, sondern bei den Mineralölkonzernen, die riesige Gewinne gemacht haben. Da würde ich mich eher dafür aussprechen, dass man mit einer Übergewinnsteuer dafür sorgt, dass die, die besonders von der Krise profitiert haben, in besonderer Weise dazu beitragen, dass an anderer Stelle entlastet werden kann.
Menschen, die ihr Auto brauchen und es auch nicht durch den ÖPNV ersetzen können, werden in diesem Falle also nicht entlastet?
Es gibt andere Wege, Menschen, die motorisiert sind, zu entlasten. Zum Beispiel bei der Pendlerpauschale. Im September kommen die 300 Euro Entlastungsgeld vom Bund für die Berufstätigen, da fallen ja auch viele Menschen mit Pkw drunter.
Vor zwei Wochen wurde ein Beschluss des Wahlprüfungsausschusses bekannt, demnach sich die Ampel-Parteien im Bund auf eine Nachwahl der Bundestagswahl in Berlin in 440 Wahllokalen geeinigt haben. Ende September befasst sich das Berliner Landesverfassungsgericht mit einer Nachwahl des Berliner Abgeordnetenhauses. Wer ist eigentlich verantwortlich für das einzigartige Berliner Wahldesaster?
Es war eine Verkettung von vielen Faktoren. Erstens war die Kombination der Wahl mit dem Marathon nicht glücklich gewählt, das darf nicht noch einmal passieren. Es gibt auch für die Zukunft einige organisatorische Dinge, die geklärt und verbessert werden müssen – zum Beispiel die Verteilung von Stimmzetteln und die Anzahl der Wahlhelfer. Wir müssen uns gut aufstellen für die Zukunft. Das heißt: eine neue Landeswahlleitung mit einem starken Team. Es gibt einen Bericht über das, was geschehen ist. Dieser Bericht hat konkrete Empfehlungen, die jetzt umgesetzt werden müssen. Und wenn wir nicht genügend freiwillige Wahlhelfer haben, dann müssen wir auch den Schritt gehen, zu sagen: Das Land Berlin hat über 130.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes. Dann muss auch die Verpflichtung unseres Landespersonals erwogen werden. Darüber habe ich mit dem Personalrat bereits besprochen.
Sie bereiten sich organisatorisch auf eine mögliche Nachwahl vor, bereiten Sie auch einen Wahlkampf vor?
Wir gehen davon aus, dass im Dezember die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs fällt, in welcher Form eventuelle Nachwahlen erfolgen. Unsere Aufgabe ist es jetzt, die Berlinerinnen und Berliner gut durch die Krise zu bringen und gute Regierungsarbeit zu machen. Darauf müssen wir uns konzentrieren. Gerade in diesem Herbst und Winter darf die soziale Dimension in allem, was wir tun, nicht hinten runterfallen. Gerade jetzt ist die Zeit der Sozialdemokratie, zu zeigen, dass wir die Menschen nicht im Stich lassen. Dass wir denen helfen, die Hilfe brauchen.
Wie auch immer der Verfassungsgerichtshof entscheidet. Sitzt die SPD, sitzen Sie im April nächsten Jahres noch im Roten Rathaus?
Davon gehe ich aus.
Gerade einkommensschwache Haushalte werden sich in den nächsten Monaten auf schwierige Zeiten einstellen müssen. Gleichzeitig hat der Finanzsenator gute Zahlen verkündet. Gehen Sie auch davon aus, dass diese stabile Wirtschaftslage in den nächsten zwölf Monaten uns erhalten bleibt?
Mir ist wichtig, dass wir ein starkes wirtschaftspolitisches Profil haben. Ich bemühe mich darum, gemeinsam mit Wirtschaftssenator Schwarz, dass wir klar sagen: Diese Landesregierung steht als Partner auch für die Wirtschaft ein. Hilfsprogramme müssen passgenau sein und deshalb gemeinsam entwickelt werden. So haben wir es zum Beispiel bei unserem Neustart-Programm für die Berliner Wirtschaft und die Kultur gehalten, das wir mit 330 Millionen Euro für 2022 und 2023 ausgestattet haben. Wir haben Anfang der Woche das Energiesparbündnis mit der Wirtschaft unterzeichnet, in dem sich Unternehmen und Betriebe zu Energieeinsparungen von mindestens 10 Prozent selbstverpflichten. Die Wirtschaft kommt gerade aus der Pandemie raus. Frühling und Sommer haben gebrummt in Berlin. Es kommen wieder Gäste in die Stadt, die Hotelauslastungen sind nach Barcelona die höchsten weltweit. Berlin ist weiter attraktiv. Und wir haben auch nach wie vor Unternehmen, die sagen, wir wollen uns gerne in Berlin ansiedeln, wir wollen hier investieren. Trotzdem werden wir natürlich merken, dass es Branchen gibt, die besonders von der Krise betroffen sind. Da ist etwa die Baubranche, die massiv unter Preisdruck, Lieferengpässen, Inflation, Zinserhöhungen und auch Fachkräftemangel leidet. Das hat massive Einflüsse auf unseren Wohnungsbau.
Ist das Ihre größte Sorge, wenn Sie abends ins Bett gehen? Der Wohnungsbau?
Nein, meine größte Sorge ist, wie sich unsere Demokratie entwickelt. Wie wir es schaffen, dafür zu sorgen, dass nicht Fake News, Hass und Hetze sich Bahn brechen, sondern wie wir das, wofür wir politisch einstehen, und unsere freiheitliche Demokratie erhalten können. Es macht mir Sorgen, wenn ich sehe, was da an Potenzial für gesellschaftlichen Konfliktstoff ist. Deshalb ist es so wichtig, wie man an schwierige Situationen herangeht. Reden wir jeden Tag den Weltuntergang herbei oder sagen wir: „Ja, es wird nicht einfach. Aber wir werden auch diese Situation meistern, weil wir uns darum kümmern, dass soziale Härten abgefedert werden, dass Unternehmen und Betriebe Unterstützung bekommen, weil wir dafür sorgen, dass Menschen weiter am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.“ Und das bedeutet sozialen Frieden, sozialen Zusammenhalt und letztendlich auch den Schutz und den Erhalt unserer Demokratie. Ich finde es nicht fair den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber, den heißen Herbst anzukündigen, aber letztendlich auch keine Antworten und Lösungen zu haben. Wir müssen doch mit kühlem Kopf und seriöser Zuversicht Berlin und Deutschland insgesamt durch diese Krise navigieren.
Aber reicht es denn, Menschen in Krisen einfach mit Geld zu unterstützen? Wie geht man mit Leuten um, die sich ignoriert oder nicht ernst genommen fühlen? Was ist mit Impfskeptikern? Werden diese Menschen nicht den Rändern überlassen?
Sozialen Frieden kann man nicht erkaufen. Wir müssen unsere Politik erklären und viele Gespräche führen. Wir dürfen weder überdramatisieren noch schönreden. Deswegen spreche ich von seriöser Zuversicht.
Aber Sie sind optimistisch, dass der Staat stark genug ist, um diese Krise zu meistern?
Wenn ich nicht optimistisch wäre, könnte ich diesen Job nicht machen. Für mich ist das Glas immer halb voll, nicht halb leer. Jammern hilft nicht.
Herzlichen Dank für das Gespräch.












