Das erste Jahr der rot-grün-roten Koalition in Berlin geht zu Ende. Und Klaus Lederer ist einer von nur zwei Senatoren, die schon in der Wahlperiode davor dem damals rot-rot-grünen Senat angehört haben. Kurz vor Jahresende hatte der Kultursenator und Bürgermeister der Linkspartei Zeit für ein Gespräch in seinem Büro im Abgeordnetenhaus. Gelegenheit für einen Rück- und einen Ausblick.
Herr Lederer, die rot-grün-rote Koalition musste sich in ihrem ersten Jahr mit gewaltigen Krisen auseinandersetzen, die sozusagen von außen auf sie einstürzten: Versorgung und Unterbringung der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, Energiepreissteigerung, Inflation. Kurz vor Jahresende tauchte noch einmal ein selbstfabriziertes Thema auf, die Enteignung großer Immobilienkonzerne. Die dafür eingesetzte Senatskommission hat ihren Zwischenbericht vorgelegt, in dem es in etwa heißt: Vielleicht ist eine Enteignung verfassungskonform, vielleicht aber auch nicht. Was wäre eigentlich ein Erfolg für die Linke?
Als Links-Politiker und Jurist ist für mich Artikel 15 des Grundgesetzes der interessante Ausgangspunkt. Obwohl es ihn gibt, wird er nicht angewendet. Weil es immer heißt: Der Markt regelt das alles. Ich glaube jedoch, dass spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 die Zweifel daran gewachsen sind, ob mit dem alleinigen Setzen auf Marktmechanismen gesellschaftliche Probleme adäquat gelöst werden können. Dass jetzt eine Kommission die komplexen Möglichkeiten einer Vergesellschaftung aus verfassungsrechtlicher, aber auch aus immobilienwirtschaftlicher Perspektive beleuchtet, ist ein riesiger Erfolg. Solch eine ernsthafte, sachliche und fachliche Befassung mit diesem Thema ist einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik. Wäre der Volksentscheid nicht erfolgreich gewesen, gäbe es diese wichtige Debatte nicht.
Aber Sie wollen nicht sagen, dass das Votum der Kommission egal ist?
Ich sehe uns als Berliner Linke durch den Zwischenbericht der Kommission durchaus bestätigt. Wir sind von Anfang an davon ausgegangen, dass der Artikel 15, der die Vergesellschaftung von existenziellen wirtschaftlichen Teilbereichen ermöglicht, nicht nur Verfassungslyrik aus der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist. Aber es geht nicht nur darum, ob ich selber davon überzeugt bin, sondern auch darum, dass ich auch Mehrheiten dafür bekomme und für die am Ende zwangsläufig folgende juristische Auseinandersetzung vor dem Bundesverfassungsgericht gewappnet bin. Wir erinnern uns an den Mietendeckel. Das hat uns durchaus in eine schwierige Lage gebracht, als es hieß, Berlin habe dafür nicht die Rechtskompetenz. Also: Vorher genau abzuwägen und festzustellen, wo die rechtlichen Probleme liegen, ist in keinem Fall falsch.
Rot-Grün-Rot musste sich in seinem ersten Jahr mit vielen Krisen beschäftigen. Dennoch gilt die Enteignungsfrage als Damoklesschwert für die Koalition, schließlich sind die meisten in der SPD und viele bei den Grünen dagegen. Sehen Sie das auch so dramatisch?
Dass wir die Kommission eingesetzt haben, hat geholfen, die Diskussion spürbar zu versachlichen. Sollte sie am Ende einen rechtssicheren Weg zur Vergesellschaftung aufzeigen, werden wir natürlich darauf drängen, dass dann ein entsprechendes Gesetz folgt. Das ist der Auftrag des Volksentscheids – und zu diesem haben sich alle drei Koalitionspartner bekannt. Sollte es dann dennoch irgendwo haken und hängen, muss man darüber reden. Es geht hier ja nicht um kurzfristige politische Geländegewinne.
Sollte die Enteignung durchgehen, wird dann alles gut? Werden dann die Mieten nicht mehr steigen? Wird es überhaupt mehr Wohnungen geben als bisher?
Die Vergesellschaftung wird nicht mit einem Schlag alle Wohnungsprobleme lösen. Sie ist aber ein wichtiges Element. Natürlich brauchen wir auch mehr Wohnungsbau. Aber nicht irgendeinen, sondern mehr bezahlbare Wohnungen. Wir erleben gerade, dass vor allem private Bauunternehmen infolge der Krisen und des Zinsanstiegs ihre Investitionen massiv zurückfahren. Sie haben schon in der Vergangenheit nicht viel für den sozialen Wohnungsbau getan, ob sie sich da zukünftig engagieren, ist noch offen. Das bedeutet aber, dass wir die städtischen Wohnungsbaugesellschaften weiter stärken müssen. Sie müssen noch unabhängiger und widerstandsfähiger gegenüber Krisen und Marktentwicklungen wie Lieferengpässen, Zinserhöhungen oder gestiegenem Planungsaufwand werden. Deshalb möchte ich, dass wir die gesamte bisherige soziale Wohnbauförderung umwidmen in eine Wohnungsbaufinanzierung speziell für den öffentlichen Sektor.

Heißt das, die Öffentlichen übernehmen alle bestehenden und bauen alle künftigen Sozialbauwohnungen?
Ja, damit würden wir den Wohnungsbaugesellschaften die Finanzierungslasten für den Neubau vom Rücken nehmen, damit können wir sie entlasten. Im Gegenzug haben wir eine dauerhafte soziale Bindung.
Nun führt die SPD das Bauressort, nach fünf Jahren unter linker Ägide. Was ziehen Sie für ein Zwischenfazit?
Mit Blick auf die Einforderung realer rechtlicher Mietbegrenzung ist es relativ still geworden. Zur Ankurbelung öffentlicher Wohnungsbaukapazitäten sind aber mehr Initiativen notwendig, um langfristig bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Und zur Absicherung von Mieterinteressen muss das Land Berlin gegenüber dem Bund wieder lauter werden. Dass in der Stadtentwicklungsverwaltung extra ein Staatssekretärinnen-Posten für Mieterrechte geschaffen wurde, hat sich leider noch nicht herumgesprochen. Auch wenn sich die Bilanz unseres rot-grün-roten Senats nach den ersten zwölf Monaten ansonsten durchaus sehen lassen kann.
Beziehen Sie da auch die Leistung der Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verkehr und Klimaschutz mit ein, das Ressort ihrer Grünen-Kollegin Bettina Jarasch?
Mit dem Berliner Klimaschutzprogramm wurden die Weichen dafür gestellt, Berlin schneller auf den Weg hin zur Klimaneutralität zu bringen. Dass die Kommunikation mit der Breite der Gesellschaft noch intensiver geführt werden muss, zeigt die Tatsache, dass ein Volksentscheid, der noch härtere Maßnahmen will, hier in Berlin erfolgreich war.
Sie sprechen vom Volksentscheid Berlin klimaneutral 2030?
Ja, und ich fand es schade, dass einzelne Akteure …
… die Grünen um Bettina Jarasch …
… viel Zeit mit Terminfragen für diesen Volksentscheid verschenkt haben, anstatt sich inhaltlich zu verständigen. Ich glaube, das Ziel 2030 klimaneutral wird nicht realisierbar sein – aber das Anliegen, alles dafür zu tun, ist völlig richtig. Da sehen wir uns alle in der Pflicht.
Wo sehen Sie denn die Rolle der Linkspartei darin?
Wir werden dafür sorgen, dass die soziale Komponente nicht zu kurz kommt. Schon jetzt sind diejenigen, die wenig im Geldbeutel haben, vom Klimawandel stärker betroffen als diejenigen, die sich ein Lastenfahrrad zum Preis eines Kleinwagens leisten können. Es können auch nicht alle das Dach ihres Eigenheims auf die gerade aktuelle Photovoltaiktechnologie umrüsten. Da wären mehr Verständnis und Unterstützung gut, weniger Stigmatisierung.
Das heißt, Bettina Jarasch macht Politik für Reiche?
Klimaschutz ist die zentrale soziale Gegenwartsfrage. Und die lässt sich nicht von einer gespaltenen Gesellschaft erfolgreich beantworten.
Das heißt, Klimaschutz muss man sich leisten können?
Klimaschutzmaßnahmen müssen alle erreichen. Mit dem 9-Euro-Ticket des Bundes hat man ja eine Ahnung bekommen, wie so etwas gehen kann. Das war ein Angebot für ganz breite Schichten der Bevölkerung. Es ist gut, dass wir in Berlin mit dem 29-Euro-Ticket da anknüpfen konnten und dass die Linke dazu beigetragen hat, dass es ab 1. Januar das Sozialticket für neun Euro geben wird. Darauf haben rund 600.000 Berlinerinnen und Berliner einen Anspruch.
Und wenn wir da über die politisch Verantwortlichen sprechen: Frau Jarasch kann sich – wenn man sie richtig versteht – mittelfristig maximal ein 49-Euro-Ticket vorstellen. Was sagen Sie dazu?
Ich möchte die Sache gern positiv formulieren: In dieser Koalition, die Ausdruck sozialer Mehrheiten in unserer Stadt ist – und die ich gerne erhalten möchte -, haben die verschiedenen Akteure ihre verschiedenen Funktionen. Unsere Funktion besteht eben auch darin, dass der soziale Aspekt nicht vergessen wird.
Schon klar! Dennoch müssen Sie mit Ihren Partnern dealen, denn andere haben Sie nicht. Und werden Sie auch nach dem 12. Februar wahrscheinlich nicht haben.
Ich finde es eigentlich ganz schön, dass wir hier in Berlin drei Partnerinnen sind, die sich immer mal wieder zanken und dann auch zusammenraufen müssen. Es ist doch für jede Demokratie gut, wenn es einen ganz realen Meinungsstreit gibt und Entscheidungen nicht einfach durchgezogen werden können.
Ist die Wahlwiederholung aus Ihrer Sicht eine Chance? Oder ist es rausgeworfenes Geld, das man besser für andere Zwecke genutzt hätte?
Das Verfassungsgericht hat der vergangenen Wahl ein verheerendes Zeugnis ausgestellt. Die Wahlwiederholung ist zu akzeptieren. Aber die Situation ist schon eine andere als im September 2021: Inflation, Energiekostensteigerung, Mietsteigerungen stürzen viele in große Unsicherheit. Insofern ist diese Wahlwiederholung auch die Chance, sich zu fragen: Worauf kommt es jetzt wirklich an?
Wenn Sie jetzt von Zeiten absoluter Unsicherheit sprechen: Wen sucht man denn da? Etwa automatisch die Linke? Rechnen Sie sich für die Wahlen eigentlich mehr aus?
Armutsbekämpfung und Chancengleichheit für alle waren und sind immer ganz starke Themen der Berliner Linken. Es ist unser Anspruch, in schwierigen Zeiten niemanden alleinzulassen. Ich bin jetzt seit sechs Jahren Bürgermeister und Senator in Berlin, drei Jahre davon waren reines Krisenmanagement. Es ging permanent darum zu verhindern, dass Kulturbetriebe den Bach runtergehen, dass Soloselbstständige aufgeben müssen. Was wäre das für ein Verlust für unsere Stadt gewesen? Und es ist gut gegangen. Es wird auch weiterhin soziale Mehrheiten im Senat und uns als starke Linke brauchen, dafür werbe ich.
Was ist mit der Zentral- und Landesbibliothek? Derzeit gilt noch der Plan von 2018, einen Neubau auf dem Gelände der Amerika-Gedenkbibliothek am Blücherplatz in Kreuzberg zu errichten. Doch das wird teuer – aktuelle Schätzung: mindestens 500 Millionen Euro. Jetzt gibt es auch andere Überlegungen im Senat. Die Bauverwaltung denkt laut darüber nach, dafür das Flughafengebäude in Tempelhof zu ertüchtigen. Was sagen Sie?
Schon 1980 hat der damalige Kultursenator Sauberzweig gesagt, wir haben mit der Amerika-Gedenkbibliothek einen Standort für unsere Zentral- und Landesbibliothek, der aus allen Nähten platzt und dringend eine Erneuerung braucht. Da war ich sechs Jahre alt. Jetzt bin ich fast 50 und arbeite noch immer an diesem Problem. Jeder weiß, dass Bibliotheken die meistbesuchten öffentlichen Kulturinstitutionen sind. Man muss nur in die skandinavischen Staaten gucken, auch in kleinere Städte, was die geschafft haben, um eine moderne Bibliotheksinfrastruktur für ihre Bevölkerung zu schaffen. Deshalb kann ich diese neuerliche Debatte nicht verstehen. Wir haben ein Jahr verloren und damit eine Baukostensteigerung von 15 Prozent erzeugt. Das wäre unnötig gewesen, unsere Stadt hat sich entschieden, am Standort Blücherplatz zu bauen.
Nun hat die Senatsbaudirektorin dennoch andere Pläne.
Es gibt Senatsbeschlüsse, es gibt Verabredungen in den Koalitionsvereinbarungen, in den Richtlinien der Regierungspolitik, an die sollte sich die Senatsbauverwaltung halten.
Anfang Dezember tagte der Senat bei der EU in Brüssel, so wie er es immer einmal im Jahr macht. Es war die Hochzeit des Streits um die Terminierung des Klima-Volksentscheids – nach dem Motto: die Grünen gegen alle. Und man konnte vor allem Ihnen, Herr Lederer, ansehen, wie sehr Sie von diesem Streit genervt waren. Jetzt frage ich Sie: Glauben Sie wirklich, dass das noch mal gemeinsam gut geht?
Der Senat hat im ersten Jahr tatsächlich eine Menge hinbekommen. Und wenn es mal so war, dass man mir ausnahmsweise mal angemerkt hat, dass ich genervt bin, dann wohl deshalb, weil seit der Entscheidung über die Wahlwiederholung die Arbeit als Senatsmitglied nicht mehr bei allen so im Vordergrund steht, wie es vorher der Fall war.
Manche nennen das Wahlkampf.
Dass mich das nicht freut, kann sich jeder vorstellen, der mich kennt. Ich glaube, wir haben keine Zeit, uns hier monatelang mit künstlich inszenierten Konflikten aufzuhalten. Wir haben jeden Tag Probleme in unserer Stadt zu lösen, das ist unser Job. Die Wahl ist das eine, auch ich werde Wahlkampf machen, keine Frage. Aber ich will und werde jeden Tag mit viel Engagement die Probleme angehen, die anzugehen sind. Denn das ist unser Auftrag und unsere Aufgabe. Ich habe die große Hoffnung und Erwartung, dass dies meine Kolleginnen und Kollegen im Senat genauso sehen.
Es ist ein bisschen doof, wenn ich Sie jetzt bitte, sich den Kopf anderer zu zerbrechen, aber dennoch: Die Grünen sagen, die SPD sei schuld an einem Verwaltungsversagen, Berlin brauche ein Update. Ist das schlau, so etwas zu sagen?
Als ich 1995 in die Bezirkspolitik gegangen bin, hat eine große Expertenkommission darüber diskutiert, wie in Berlin eine Verwaltungsreform aussehen könnte. Die Debatte wurde seitdem oft als Schwarz-Weiß-Debatte geführt, alles oder nichts. Die einen wollen die Bezirke auflösen, die anderen sagen: Alle Macht den Räten! Das hat noch kein einziges gesellschaftliches und stadtpolitisches Problem lösen können. Was wir schon in der vorigen Legislaturperiode angefangen haben und jetzt fortsetzen – einen Verwaltungspakt mit Schritten hin zu einer sukzessiven Digitalisierung und auch mit dem Wiederaufbau von Personal –, das kann und wird dazu führen, dass auch in Berlin Verwaltungsleistungen besser, verlässlicher und bürgerfreundlicher bereitstehen. In Einzelfällen klappt das übrigens bereits sehr gut. Wir schließen jetzt, wahrscheinlich noch im Januar, die Zielvereinbarung zur bezirklichen Bibliotheks-Infrastruktur ab, da ist meine Verwaltung ziemlich vorneweg. Auch an anderen Stellen geht es voran. Trotz alledem gibt es immer noch zu viele Bereiche, in denen es nicht so funktioniert – und das nervt die Berlinerinnen und Berliner völlig zu Recht. Die Weiterentwicklung der Berliner Verwaltung hin zu einem modernen, transparenten und zuverlässigen Dienstleister für die Stadt gehört in den ständigen Fokus des Senats.
Wie nehmen Sie es denn wahr, dass auch in der Koalition der Schuldige für die Wahlpannen im vorigen Jahr eindeutig benannt wird: nämlich der damalige Innensenator Geisel?
Dass es einfach nur hieß, die Selbstorganisation des Volkes wäre gescheitert, war nicht gut. Ein bisschen Demut nach der Wahl hätte eindeutig nicht geschadet.
Wie ist das mit den Fliehkräften nach sechs gemeinsamen Jahren? Wie groß ist der Überdruss voneinander? So groß, dass sich der eine oder andere auch etwas anderes vorstellen kann?







