Berliner Bürgermeisterkandidatin

Die Verwandlung der Franziska Giffey: „Meine Kleidung ist meine Uniform“

Wer die SPD-Kandidatin durch Berlin begleitet, erlebt eine Frau, die nicht nur die Konkurrenz überholt, sondern sogar sich selbst. Wie hat sie das geschafft?

Franziska Giffey, 43, im Wahlkampf.
Franziska Giffey, 43, im Wahlkampf.Berliner Zeitung/Paulus Ponizak

Berlin-Anderthalb Wochen vor der Wahl hält Franziska Giffey dann auch noch eine Rede auf Russisch. Sie ist in Marzahn, da, wo 200.000 russischsprachige Berliner leben, wo mal die AfD, mal die Linke vorne liegt, wo sie, die SPD-Bürgermeisterkandidatin, noch Stimmen holen kann. Sie hat mit Anwohnern gesprochen, im Mix-Markt gezuckerte Kondensmilch gekauft, jetzt fragt eine Journalistin vom Sender Ost-West, warum Russen in Berlin gerade sie wählen sollen.

Giffey hebt das Kinn und sagt: „Strastwujtje, menja sawut Franziska Giffey.“ Das heißt: Guten Tag, ich heiße Franziska Giffey. Den Rest sagt sie auf Deutsch. Trotzdem staunen alle. Eine von der SPD, die Russisch spricht! Nur Giffey selbst ist nicht zufrieden, sie nimmt eine Wahlkampfbroschüre auf Russisch in die Hand, liest darin und fragt: „Wollen wir das noch mal machen?“

Beim ersten Mal verhaspelt sie sich, beim zweiten Mal sind die Sätze nicht flüssig genug, beim dritten Mal aber spult die Bürgermeisterkandidatin ihre Rede ab, als würde sie gegen Wladimir Putin antreten und nicht gegen Bettina Jarasch von den Grünen.

Plagiatsskandal mitten im Wahlkampf

Es ist ein Spätsommermorgen Mitte September, nach der letzten Umfrage liegt die SPD in Berlin an erster Stelle bei 25 Prozent, die Grünen liegen zehn Prozent dahinter. Vor fünf Monaten war es noch andersherum. Die Sozialdemokratie, das scheint an diesem Morgen in Marzahn festzustehen, ist die Erfolgsgeschichte dieses Berliner Wahlkampfes. Und wenn man die Spitzenkandidatin ein paar Wochen lang begleitet, begreift man, das liegt vor allem an ihr. Franziska Giffey hat nicht nur die Grünen überholt, sondern auch sich selbst.

Es geht nicht gut los im April. Giffey, seit drei Jahren Bundesfamilienministerin, muss sich wegen Plagiatsvorwürfen in ihrer Doktorarbeit rechtfertigen. Auf dem Nominierungsparteitag posiert sie mit roter Gießkanne und einem riesigen SPD-Herz vor Fotografen, als präsentiere sie eine Schaufensterdekoration zum Valentinstag. Ihr Wahlkampfzentrum soll eine Laube in der Kleingartenkolonie Am Buschkrug sein. Giffey, die sich einst als junge Neuköllner Bürgermeisterin viel Respekt in der Stadt verschaffte, wird in den Medien belächelt und verspottet, steht plötzlich für das Alte, Kleinbürgerliche, Spießige. Dass sie blond ist, eine hohe Stimme hat, Perlenohrringe und Kostüme trägt, scheint dazu zu passen.

Im Mai tritt Giffey von ihrem Ministeramt zurück, im Juni entzieht ihr die Freie Universität den Doktortitel. Im August folgen Vorwürfe wegen ihrer Masterarbeit. Ein Skandal mitten im Wahlkampf, ähnlich wie bei Annalena Baerbock. Aber Giffey ist nicht Baerbock. Sie ruft nicht: Sexismus! Rufmord! Sie macht weiter.

Ein Morgen Anfang September. Das neue Lehrjahr hat begonnen. Giffey ist wieder in Marzahn, das achte Mal in diesem Wahlkampf, diesmal bei Alba, dem Müllunternehmen, wo Anfang der 1990er die Berliner Mauer entsorgt wurde. Und jetzt taucht hinter der Mauer die Bürgermeisterkandidatin auf, im knallroten Kostüm, begleitet von Hubertus Heil, dem Arbeitsminister. Sie ruft: „Guten Morgen allerseits“, sie fragt die Lehrlinge: „Habt ihr euch schon alle begrüßt? Wie fühlt ihr euch?“ Traut sich niemand zu reden, guckt sie auf die Namensschilder und spricht jeden einzeln an. „Sind Sie stolz auf Ihre Truppe, Herr Schweitzer?“ – „Und ihr, Max und Moritz, was ist mit euch?“ Die beiden Lehrlinge heißen wirklich so. Giffey will wissen, woher sie kommen, warum sie hier sind, fachsimpelt mit dem Chef über gelbe Tonnen, gelbe Tüten und Kommunikationstraining. Hubertus Heil macht Werbung für die Kurzarbeit der Bundesregierung. Franziska Giffey wirkt, als würde sie gleich den Betrieb übernehmen.

Sie war schon früher so. Pragmatisch, zupackend, unideologisch. Als Bildungsstadträtin, als Bürgermeisterin, als Familienministerin. Verhandelte mit Imamen in Neukölln und Ministern in Israel, setzt sich für Kinder und sozial benachteiligte Familien ein, spricht die Sprache der einfachen Leute, sagt, dass 70 Prozent der Berliner außerhalb des S-Bahn-Rings wohnen, findet, dass man den Menschen im Ostteil gut zuhören müsse. „Das sind doch nicht alles Radikale, sondern auch Enttäuschte.“

Bevor sie als Familienministerin entscheiden musste, ob Kinder in der Corona-Zeit in der Schule oder zu Hause getestet werden sollen, rief sie einen Neuköllner Schulleiter an. „Der hat mir gesagt: Zu Hause testen, das wird nichts. Du weißt am Ende nicht, ob der Hund oder die Oma den Test gemacht haben.“

Guten Morgen allerseits! Franziska Giffey mit Alba-Azubis in Marzahn.
Guten Morgen allerseits! Franziska Giffey mit Alba-Azubis in Marzahn.Berliner Zeitung/Paulus Ponizak

Nach dem Termin in Marzahn bringt sie der Neuköllner Bürgeramtschefin „Blümchen zum 40-jährigen Dienstjubiläum“ vorbei, am Tag zuvor war sie bei Friedrichshainer Rentnern in der Volkssolidarität. „Die wollen, dass bei ihnen der Müll weggeräumt wird.“ Sie erzählt, wie sie an ihrem ersten Tag als Ministerin einer Putzfrau „Guten Morgen“ sagte und wie die nicht verstand, dass sie gemeint war. Giffey war erschüttert von der Ignoranz vieler Bundespolitiker gegenüber ihren Mitarbeitern. In den Regierungsmaschinen, in der Poststelle, an den Polizeiabsperrungen. „Es gab immer helle Aufregung, wenn ich die erst mal alle gegrüßt habe. Und ich dachte, Mensch, das ist doch das Mindeste, sich nicht zu erheben über andere.“

Franziska Giffey kommt aus Briesen bei Frankfurt (Oder). Fragt man, was sie geprägt hat im Leben, erzählt sie von ihrer Oma väterlicherseits, die Krankenschwester werden wollte, im Krieg keinen Beruf lernen konnte und später als Reinigungskraft an einer Schule arbeitete. Lehrer dort hätten auf sie herabgeschaut, hat ihr Vater ihr später erzählt. „Das hat mich so empört als Kind.“ Ihr Opa mütterlicherseits war Tierarzt. Seine Praxis wurde in der DDR verstaatlicht – entschädigungslos. „Ich weiß, was Enteignung bedeutet“, sagt sie. Auch das habe sie geprägt. Auch deshalb ist sie gegen den Volksentscheid, gegen die Enteignung von großen Wohnungsunternehmen. Im Gegensatz zu den Linken, den Grünen und einigen ihrer Genossen.

Ihre Mutter arbeitete zu DDR-Zeiten im Datenverarbeitungszentrum und im Wohnungsbaukombinat Frankfurt (Oder), ihr Vater im VEB Kraftfahrzeugtechnik Fürstenwalde. Nach der Wende verloren beide ihre Arbeit, mussten mit Ende 30 noch mal von vorne anfangen, während die Tochter in der Schule lernte, sich von nun an noch mehr anstrengen zu müssen. Ein Lehrer sagte zu ihr: „Wir sind jetzt in der freien Marktwirtschaft. Ab jetzt gibt es keine Einsen mehr.“

Franziska Giffey war zwölf Jahre alt, es war ihr erstes Jahr im Gymnasium. Ihr Vater wurde Kraftfahrer und Maschinist auf dem Bau, ihre Mutter machte Umschulungen. Als Giffeys Bruder einen alten Bauernhof zu einer Autowerkstatt umbauen wollte, packte die ganze Familie mit an, auch sie selbst. Heute arbeiten da alle zusammen, der Bruder als Chef, die Mutter als Buchhalterin, der Vater als Kfz-Meister.

SPD-Bürgermeisterkandidatin Giffey gibt in Marzahn ein Interview.
SPD-Bürgermeisterkandidatin Giffey gibt in Marzahn ein Interview.Berliner Zeitung/Paulus Ponizak

Die Doktorarbeit als Schutz

Sie erzählt zögernd davon auf der Autofahrt, von einem Termin zum anderen. Die ganze Stadt ist mit ihrem Gesicht zugepflastert, aber ihre Eltern, ihre Familie, die sollen privat bleiben, die will sie schützen. Politik ist nicht immer so angenehm wie bei den Terminen in Marzahn. Der Spott über Giffeys Doktorarbeit, über ihre Erscheinung schlägt in den Wochen vor der Wahl um, bekommt einen unangenehmen Ton. Die Berliner Grünen twittern ein Bild ihrer Spitzenkandidatin Jarasch mit dem Slogan: „Politik, die sich nicht in ein Kostüm pressen lässt“. Eine Anspielung auf Giffeys Art, sich anzuziehen. Die Junge Linke vergleicht sie mit Dolores Umbridge, der rassistischen Lehrerin aus den „Harry Potter“-Büchern. Menschen, die sonst für Toleranz sind, die gendern, niemanden ausschließen wollen, sind plötzlich selbst ausgrenzend und kleingeistig, weil sie mit einer Frau wie ihr nichts anfangen können.

Nach dem Abitur ging sie nach Berlin, weg aus der Provinz, wie so viele Frauen im Osten in dieser Zeit. Sie wollte Lehrerin für Englisch und Französisch werden, weil sie Fremdsprachen liebt, aber Ärzte diagnostizierten bei ihr eine Kehlkopfmuskelschwäche und prophezeiten Berufsunfähigkeit. Giffey studierte Verwaltungsrecht, arbeitete im Büro des Köpenicker Bezirksbürgermeisters. Von dessen Büroleiter Helmut Stern, ihrem Mentor, lernte sie, wie man unbürokratisch Probleme löst, aber auch, wie man als Frau in der Politik ernst genommen wird. „Franziska, kleide dich konservativer“, sagte er zu ihr. „Dann wirst du ganz anders wahrgenommen.“

Franziska Giffey 2003 in der Pariser Metro.<br>
Franziska Giffey 2003 in der Pariser Metro.
privat

Wie hat sie sich denn damals gekleidet?

Na, jünger, anders, sagt sie nachdenklich, als wisse sie es selbst nicht mehr so genau. Und sucht beim Wochenendbesuch bei ihren Eltern ein Foto raus, das Freunde von ihr 2003 in Paris gemacht haben. Schwarze Jacke, die Haare offen und lang, in der Hand eine Gitarre, eine andere Frau. „Meine Kleidung ist mein Schutz, meine Uniform“, sagt sie.

Auch die Doktorarbeit sollte so ein Schutz sein. 2003, da war sie Europabeauftragte, hat sie damit begonnen, fünf Jahre lang daran geschrieben, an den Wochenenden, im Urlaub, in ihrer Schwangerschaft. „Ich war eine junge Frau, blond, hohe Stimme. Ich wollte mich nicht mehr beweisen müssen, in keine Schublade mehr gesteckt werden.“ Vielen Frauen gehe das so, auch ihre jungen Mitarbeiterinnen würden anders behandelt als gleichaltrige Männer. „Da wird gefragt: Ah, Ihre Assistentin? Nee, sage ich, meine Büroleitung.“

Pünktlich vor der Geburt ihres Sohnes sollte die Arbeit fertig sein. Aber die Wehen kamen vier Tage zu früh. Vielleicht ging alles ein bisschen durcheinander, vielleicht passierten die Fehler so. „Ich habe immer in dem Glauben gelebt, das war in Ordnung, so, wie ich es gemacht habe. Sonst hätte ich es gar nicht so vor mir hergetragen.“ Es – damit meint sie den Doktortitel, der von nun an vor ihrem Namen stand. Nie ließ sie ihn weg. Er gab ihr Sicherheit und Selbstbewusstsein. Bis die Plagiatsaffäre begann: der Prüfer, der seinen Namen nicht sagen will, Vroni-Plag Wiki, FU-Gremien, Gutachten, Empfehlungen, immer wieder andere. Zwei Jahre lang.

Merkel riet vom Rücktritt ab

Im Mai dieses Jahres ging sie zur Kanzlerin und sagte, sie lege ihr Amt nieder. Angela Merkel, erzählt Giffey, versuchte, sie zu halten, stärkte ihr den Rücken. Giffey aber blieb bei ihrer Entscheidung. „Sie hätten ja nicht aufgehört“, sagt sie. Außerdem hatte sie es satt, nur über den Doktortitel definiert zu werden. „Ich bin nicht das, was ich bin, nur durch diese Arbeit geworden. Ich bin nicht deswegen Stadträtin und Bürgermeisterin geworden und auch nicht Bundesministerin.“

Warum ist sie es dann geworden?

„Weil ich ich bin.“

Es scheint wie eine Erkenntnis, die ihr erst gekommen ist, als der Titel weg war. Sie braucht ihn gar nicht. Sie schafft es auch so. „Was mich nicht umbringt, macht mich stark“, ist ein Spruch ihres Vaters.

Die SPD und ihre Bürgermeister: Michael Müller und Klaus Wowereit mit Kandidatin Giffey.
Die SPD und ihre Bürgermeister: Michael Müller und Klaus Wowereit mit Kandidatin Giffey.Berliner Zeitung/Paulus Ponizak

Um fünf Uhr morgens steht sie auf, um elf geht sie schlafen. Dazwischen Termine, Gespräche, Interviews, Podiumsdiskussionen, eine Dampferfahrt mit Wowereit und Müller, Foto- und Videotermine. Sie wirkt von Woche zu Woche frischer, kämpferischer, niemals müde. Ihre Kostüme sehen aus wie französische Etuikleider, im linken Ohr hat sie über der Perle noch einen zweiten Ohrring, der vorher nicht zu sehen war. In der Kleingartenkolonie ist sie selten.

Eine Umfrage eine Woche vor den Wahlen sieht sie noch einmal Kopf an Kopf mit Jarasch, in der nächsten liegt sie wieder klar vorn. Ihr Erfolg macht die linke Blase in Berlin wahnsinnig. Die Grünen werfen ihr vor, sie spiele bereits Bürgermeisterin, bevor sie überhaupt gewählt wurde, die eigenen Genossen klagen, sie sei zu bürgerlich für die SPD, rücke ihre Partei nach rechts. Giffey erinnert manchmal an Angela Merkel. Auch eine Ostdeutsche, die nie richtig in ihre Partei gepasst hat. Und die auch sehr direkt sein kann, wenn ihr etwas gegen den Strich geht.

Spott und Hass für Giffey

Bei einem Termin in Neukölln wird Giffey auf der Bühne von einer Klimaaktivistin attackiert. Statt auf die Vorwürfe zu antworten, fragt sie: „Aber wir sind schon hier, um über Kulturpolitik zu reden?“ Der Moderator stimmt zu. Die Klimaaktivistin sagt dann nicht mehr viel. Bei einer Podiumsdiskussion im Hotel de Rome vor Familienunternehmern verhaspelt sich Bettina Jarasch von den Grünen. Giffey fällt ihr ins Wort: „Dann werde ich mal den Gedanken von Frau Jarasch zu Ende bringen.“ Eine Demütigung auf offener Bühne. Jarasch schweigt.

Die Kampagne in den sozialen Medien gegen Giffey wird immer härter. #Plagiatsbetrügerin, #Promotionsbetrügerin, #GiffeyVerhindern. Sie wird mit Margaret Thatcher und Leni Riefenstahl verglichen, der Eisernen Lady und der Nazi-Filmemacherin. Aus ihrem Wahlslogan „Ganz sicher Berlin“ wird auf Instagram „Ganz sicher rassistisch“ gemacht. Ständig heißt es, sie plane, eine Koalition mit der CDU und FDP einzugehen. Der Untergang des liberalen Berlins.

Im russischen Marzahn am Rand ihres Termins sagt Franziska Giffey, sie habe das mit der Koalition nie gesagt. Und die Grünen müssten ein bisschen aufpassen. „Man muss sich doch noch ins Gesicht sehen können nach den Wahlen.“ Fügt dann aber gleich hinzu, noch sei nichts entschieden. Es könne noch so viel passieren. Und wenn es nicht klappe, mache sie eben was anderes.

Was denn?

Eine Eisdiele auf. Oder so. Sie lacht.

Ein Journalist fragt, ob sie auch Fragen auf Englisch beantworten könne. Kinn hoch, Aufnahmegerät an. Franziska Giffeys Englisch ist viel besser als ihr Russisch.