Spitzenkandidatin der Grünen

Bettina Jarasch: Wie die Grünen in Berlin gegen den Abstieg kämpfen

Bettina Jarasch lag im Rennen um das Rote Rathaus vorn. Doch dieser Vorsprung schien verspielt. Nun legt sich sie mit der Frau an, mit der sie koalieren will.

Das große Thema im Wahlkampf ist nicht das Klima: Bettina Jarasch auf der Mietendemo.
Das große Thema im Wahlkampf ist nicht das Klima: Bettina Jarasch auf der Mietendemo.Benjamin Pritzkuleit

Berlin-Es könne auch ein Vorteil sein, nicht so bekannt zu sein in der Stadt, sagt Bettina Jarasch beim ersten Gespräch, vier Monate ist das her. Es mache die Leute neugierig auf sie. Das erlebe sie gerade ganz oft. Wer ist diese Frau von den Grünen, die Regierende Bürgermeisterin von Berlin werden will?

Es ist Ende Mai, ein grauer Berliner Morgen, die Stadt hat sich gerade durch die dritte Corona-Welle gequält. Bettina Jarasch sitzt an einem Konferenztisch in einem Bürogebäude in der Nähe vom Spittelmarkt, in dem die Berliner Grünen ihre Zentrale haben, eine Etage unter der Botschaft von Simbabwe, die man hier auch nicht vermutet hätte. Jarasch redet schnell, lacht viel, ihre Augen blitzen. Sie wirkt so wach und gut gelaunt, dass man denkt: Vielleicht hat sie ja recht.

Ihre Partei liegt in Berlin in den Umfragen vorn. Die Grünen haben Annalena Baerbock zu ihrer ersten Kanzlerkandidatin gekürt, selbst in den Umfragen für die Bundestagswahl sind sie auf dem zweiten Platz, nur knapp hinter der Union. In Berlin haben sie die SPD überholt, die seit zwanzig Jahren den Regierenden Bürgermeister stellt. So lange ist Bettina Jarasch noch nicht mal bei den Grünen.

Die Sache mit dem Indianerhäuptling

Sie erzählt von den vielen, vielen Treffen, die sie „mit den unterschiedlichsten Akteuren“ der Stadt habe, meist noch per Videokonferenz. „Die Leute rechnen mit uns“, sagt sie. Die guten Zahlen für die Grünen hält sie für das Zeichen eines Sinneswandels der Wähler, die begriffen haben, wie wichtig Umwelt- und Klimaschutz sind. Sie sagt, dass sie die Termine nutze, um sich vorzubereiten. Nicht auf den Wahlkampf. Auf die Zeit danach.

Nach der Wahl? Sie denkt wirklich, dass sie Bürgermeisterin wird? „Ich rechne damit“, sagt sie.

Erzählt man Bekannten, die sich für die Grünen interessieren, dass man Bettina Jarasch im Wahlkampf begleiten will, wissen sie meist nicht auf Anhieb, wen man meint. Erzählt man dann die Sache mit dem Indianerhäuptling, bekommen sie eine Ahnung. Jarasch hatte auf einem Parteitag der Grünen dieses Wort benutzt und sich hinterher dafür entschuldigt. Die Aufregung war riesig, alle Medien berichteten über Jarasch, ob ihr das genutzt hat, ist schwer zu sagen.

Die Unbekannte, die das Rote Rathaus erobert – das klingt nach einer guten Geschichte. Ende Mai. Sie schildert ihre Idee von der Stadt, die sie regieren will. Sie nennt sie „die grüne Hauptstadt“. In dieser Stadt kommt man mit dem Verkehrsmittel der Wahl, vom Auto mit Verbrennungsmotor abgesehen, schnell an jedes Ziel, die Wirtschaft produziert klimaneutral, die Wohnviertel sind für Hitzewellen gewappnet. Die Verwaltung funktioniert auch viel besser als bisher, weil sie, die Regierende Bürgermeisterin, dafür gesorgt hat.

Sie würde gern mit der bisherigen Koalition weitermachen, sagt Jarasch, mit SPD und Linken. Nur eben andersherum. Sie sei ein Mensch, der immer schon gern Verantwortung übernommen habe.

Sie lebt seit 29 Jahren in Berlin. Mit Anfang 20 kam sie aus Augsburg, um an der Freien Universität zu studieren, als Journalistin zu arbeiten. Ein typischer Berliner Lebenslauf, für Leute, die nicht in Berlin aufgewachsen sind. Die süddeutsche Herkunft hört man ihr bis heute an. Sie sagt, dass sie „gestalten wollte, nicht nur berichten“, deshalb aufhörte mit Journalismus. Sie arbeitete für die Bundestagsfraktion der Grünen, trat aber erst nach dem Job in die Partei ein, 2009. Zwei Jahre später war sie schon Vorsitzende der Grünen in Berlin, seit fünf Jahren war sie im Abgeordnetenhaus und fiel dort kaum auf.

Auf einer Tafel in der Ecke des Konferenzraums ist die Zeit bis zur Wahl in Etappen eingeteilt. „Heiße Phase: August/September“, steht da.

Anfang August laufen Bettina Jarasch, Annalena Baerbock und sehr viele Journalisten zu einem Stückchen Panke, das hinter der BND-Zentrale in Mitte fließt. Der Abschnitt ist renaturiert worden. Eine Frau, die nicht zum Tross gehört, sagt zu einem Kind: „Vielleicht ist das die neue Bundeskanzlerin, dann kannst du sagen, du hast sie getroffen.“ Die meisten Journalisten sind auch wegen Baerbock da. Die Grünen liegen in den Umfragen für die Bundestagswahl noch an zweiter Stelle, aber fallen zurück, der Hype flaut ab. Noch ist nicht klar, was das für Jarasch bedeutet. Für die Berlin-Wahl erscheinen nicht so oft Umfrageergebnisse.

Die Fans stürmen auf Baerbock zu

Die beiden Kandidatinnen halten kurze Reden, Jarasch spricht länger über Baerbock als Baerbock über sie. Auf einer Wiese applaudieren Fans und Mitglieder der Grünen. Hinterher stürmen viele auf Baerbock zu.

Bettina Jarasch besucht in den folgenden Wochen Abenteuerspielplätze, Start-ups, Bürgerinitiativen, Vogelschutzgebiete, Demos, redet auf Stadtteilfesten, in Parks. Es kommen vor allem Grünen-Fans. In Umfragen sagen zwei Drittel der Berliner, dass sie den Namen der Kandidatin nicht kennen. Im Juni, und auch noch im August. 

Die Kandidatin mit grüner Haut: Wahlkampf in Prenzlauer Berg. 
Die Kandidatin mit grüner Haut: Wahlkampf in Prenzlauer Berg. Sebastian Wells/Ostkreuz

Nach den Terminen erscheinen Fotos auf ihrem Instagram-Account. Jarasch hat knapp 3000 Follower, Franziska Giffey, ihre Konkurrentin von der SPD, mehr als 30.000. Auf den Wahlplakaten, die die Grünen in der Stadt verteilt haben, ist jedes Foto grün eingefärbt. Auch die Porträts von Bettina Jarasch. Man sieht eine Frau mit dunklen Locken und grüner Haut. Ihr Name steht unten rechts, so klein, dass man ihn kaum lesen kann, wenn ein Plakat an einer Laterne oben hängt. Die Worte Spitzenkandidatin oder Bürgermeisterin stehen gar nicht drauf. Dafür der Slogan „Klar geht das“, der von Woche zu Woche etwas trotziger wirkt.

Manchmal kann man Jarasch noch mit dem Rad zu Terminen kommen sehen. Sie braucht die Bewegung, sie kann beim Laufen und Radfahren am besten denken, sagt sie. Sie erzählt auf einem zähen Podium des Berliner Fußballverbands von ihren Söhnen, die 14 und 17 sind und auch mal gespielt haben. Sie erzählt in Parks, dass sie mit ihrer Familie von Kreuzberg nach Wilmersdorf gezogen ist, sie seit anderthalb Jahren ohne Auto leben. Viel mehr Privates erzählt sie nicht. Sie ist mit Oliver Jarasch verheiratet, der beim Sender RBB für „aktuelle Magazine“ verantwortlich war, auch die „Abendschau“. Seit Oktober kümmert er sich nach Angaben des RBB nicht mehr um Nachrichtensendungen, wegen des Wahlkampfs seiner Frau.

Morgens oder abends ist Bettina Jarasch oft auf Podien mit ihren Konkurrenten um den Bürgermeisterjob. Jeder Berliner Verband, der etwas auf sich hält, lädt die aussichtsreichsten Spitzenkandidaten ein, wie eine Tourband. An einem Freitagabend Ende August sind Bettina Jarasch, Franziska Giffey von der SPD, Kai Wegner von der CDU und Klaus Lederer von der Linkspartei beim Deutschen Gewerkschaftsbund. Der DGB hat einen Veranstaltungsort über der Kantstraße gemietet, mit herrlicher Dachterrasse.

Giffey wirkt etwas müde, am Morgen ist ein Artikel erschienen, der ihr Plagiate in ihrer Masterarbeit vorwirft. Lederer schaut auf sein Handy, wenn er nicht dran ist. Bettina Jarasch macht das nie, sie sieht immer ihre Gesprächspartner an, sie wird als einzige der Kandidaten im Saal bleiben, als später noch eine Gewerkschafterin geehrt wird. Sie trägt ein leuchtend rotes Kleid und hält eine kämpferische Rede über die Klimakrise.

Aber das Klima ist nicht das große Thema des Wahlkampfs in Berlin geworden, vielleicht, weil der Sommer nicht so heiß war wie in den vergangenen Jahren, die Parks nicht vertrocknet sind.

Enteignungen ja, aber eigentlich nein

Das große Thema sind die Mieten, die Wohnungsnot, auch beim DGB. Selbst Wegner von der CDU nennt es „die soziale Frage unserer Zeit“. Bettina Jarasch erklärt, dass sie den Volksentscheid für die Enteignung von Wohnungskonzernen gut findet, weil sie den Druck nutzen will, um zu einem „Pakt mit der Wohnungswirtschaft“ zu gelangen. Franziska Giffey sagt, wenn Enteignung nicht der richtige Weg sei, könne man auch nicht damit drohen. Sie finde „die Idee von Frau Jarasch ein bisschen problematisch“.

In den Umfragen zur Berlin-Wahl liegen die Grünen und die SPD etwa gleichauf. Aber Franziska Giffey liegt schon weit vor Jarasch, sie ist viel bekannter in der Stadt. Ihr Gesicht ist überall zu sehen und nicht grün eingefärbt.

Das mit den Plakaten ist Christa Nickels auch aufgefallen, als sie kürzlich in der Stadt war. Warum sieht man Bettina nicht überall? Nickels war zur Premiere des Dokumentarfilms „Die Unbeugsamen“ da, der von den Kämpfen der Frauen handelt, die sich in der Bundesrepublik als erste in die Spitzenpolitik wagten. Sie selbst saß für die Grünen zwischen 1983 und 2005 dreimal im Bundestag.

Fünf Jahre lang war sie die Chefin von Bettina Jarasch. Im Jahr 2000 brauchte sie dringend eine neue Mitarbeiterin, erzählt sie am Telefon, „eine tüchtige Person“, die sie bei ihren vielen Funktionen unterstützen sollte. Sie war parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium, Drogenbeauftragte der Bundesregierung, religionspolitische Sprecherin, Abgeordnete mit Wahlkreisbüro. Sie hörte, dass Jarasch eine Stelle suchte, diese Frau wollte sie sofort. Sie kannte sie aus der Flüchtlingsarbeit.

Wenn man mit Menschen über Jarasch spricht, hört man oft, wie leidenschaftlich sie sich für Flüchtlinge eingesetzt habe, ohne im Rampenlicht stehen zu wollen. Anderen helfen, denen es schlechter geht, schon ihr Vater hat das in Augsburg gemacht. Auch wegen seiner eigenen Geschichte, die Bettina Jarasch geprägt hat. Sie erzählt nur davon, wenn man sie fragt.

Die unbekannte Spitzenkandidatin: Bettina Jarasch in Berlin Schöneberg.
Die unbekannte Spitzenkandidatin: Bettina Jarasch in Berlin Schöneberg.Berliner Zeitung/Paulus Ponizak

Die Oma überlebte die Nazis nur knapp

Ihr Vater Helmut Hartmann kam 1929 in Augsburg zu Welt. Sein Vater war Papierfabrikant, seine Mutter stammte aus einer jüdischen Familie, die assimiliert lebte, sie war protestantisch getauft wie ihr Mann. Ihre Oma überlebte den Nationalsozialismus nur knapp, sagt Jarasch. Später habe sie über „die böse Zeit“ nicht sprechen wollen, ihr Vater habe „das als Einziger nicht verdrängt“. Als Junge war er von der Schule geworfen worden, er lebte trotzdem in Augsburg, führte das Geschäft weiter. Später gründete er mit seiner Frau ein Forum für interkulturelle Bildung. 2003 verlieh ihm seine Stadt einen Friedenspreis.

Bettina Jarasch arbeitete bei Christa Nickels, bis die aus dem Bundestag ausschied. Nickels zählt vier Dinge auf, die sie an ihrer Mitarbeiterin besonders schätzte: die Sachkunde, die Fähigkeit, Dinge verständlich rüberzubringen, das Talent im Knüpfen von Netzwerken und ihre Ausstrahlung. „Wenn sie in einen Raum kommt, geht die Sonne auf“, sagt Nickels.

Mit ihrer Fähigkeit, Probleme zu lösen, soll sie auch den Landesverband der Grünen geeint haben. Die Berliner Grünen waren immer zerstritten. Seit Jarasch sie anführte, mit Daniel Wesener, sei das vorbei gewesen. Sie duckt sich nicht weg bei Problemen, sagt Monika Herrmann, die noch bis zur Wahl Bezirksbürgermeisterin für die Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg ist. Wurde Jarasch Spitzenkandidatin, weil sich alle auf sie einigen konnten? Das klinge ihr zu negativ, sagt Herrmann.

Anfang September führt die SPD in den Umfragen, in der Stadt, im Bund. Bettina Jarasch hat einen neuen Punkt in ihre Reden eingebaut. Angriffe auf ihre Konkurrentin. In einem überraschenden Ton.

Franziska Giffey sei „extrem naiv“ in der Mietenfrage, ruft sie von einer Bühne in Prenzlauer Berg. Es werde mit Giffey „keinen Klimaschutz geben, keinen Stadtumbau und keine bezahlbaren Mieten“. In Steglitz nennt sie Giffey „unredlich“, es geht wieder ums Wohnen, in einem Instagram-Gespräch mit Robert Habeck sagt sie, Giffey bereite eine Koalition mit der CDU und der FDP vor. Es erscheint eine Umfrage, in der die Grünen in Berlin auf dem vierten Platz liegen, auch CDU und Linkspartei sind vorbeigezogen.

Was plant Franziska Giffey?

Am Montagnachmittag sitzt sie wieder am Konferenztisch im Parteibüro. Es ist Mitte September. Sie sagt, dass die derzeitige Lage „auch etwas Befreiendes“ habe. Sie könne jetzt angreifen. Weil sie hinten liegt? Sie geht nicht auf Fragen zu Umfragewerten ein, sie redet von Giffey, das ist jetzt ihr Modus. Woher weiß sie das denn mit der Koalition, die ihre Konkurrentin angeblich vorbereitet? Man merke es auf Podien, man höre es in der Stadt, sagt sie.

Glaubt sie noch, dass sie Regierende Bürgermeisterin wird? Es sind noch so viele Wähler unentschieden, sagt Bettina Jarasch. Dann muss sie weiter, zum nächsten Termin, zum übernächsten, zwei Wochen noch bis zur Wahl.

Anmerkung: Einen Tag nach Veröffentlichung dieses Artikels erschien eine neue Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen, in der die Grünen für die Wahl in Berlin wieder auf Platz zwei liegen. Deshalb haben wir die Überschrift zu diesem Artikel angepasst.