Ich habe in dieser Woche viel über den Begriff Fetisch nachdenken müssen. Das hat mit meiner Nacht in Berlins längster Schlange zu tun. Und mit dem Gefühl, dass es doch eigentlich kein fester Begriff ist: Fetisch ist aus dem Portugiesischen entlehnt, wo feitiço „Zauber“ oder „Zaubermittel“ bedeutet.
Auf Sex übertragen heißt das, bestimmte Objekte oder Kleidungsstücke werden als besonders erotisch wahrgenommen. Aber das ist doch wirklich sehr individuell, oder?
Es begann damit, dass ich über Ostern nach Berlin kam. Ich hatte Gran Canaria und Italien auf der Liste, vor allem des Wetters wegen, aber für Schwule ist Ostern in Berlin einfach ein gesetztes Ereignis. Schließlich findet da auch die Snax statt, die größte Sexparty des Kontinents. Ich bin Amerikaner, und in meiner Heimat gibt es solch eine Party nicht: Tausende Männer, die miteinander so vertraut umgehen, als würden sie sich seit Jahren kennen, dabei sind sie einander nie begegnet. Die Snax gibt es zweimal im Jahr, immer im Berghain, beide Male mit einem Dresscode. Im Herbst Leder, im Frühjahr Sportkleidung. Ganz wichtig: Fetischkleidung.
Hose anbehalten!
Ich hatte mich mit drei Freunden verabredet: Justin, einem Amerikaner, der fließend Deutsch spricht, Claus aus den Niederlanden und Alejandro aus Spanien, der extra für die Snax nach Berlin gekommen war. Doch je näher die Snax kam, umso unsicherer wurde ich: Mir fiel auf, dass sich auf den sozialen Medien alle für diese Party verabredeten. Alle. Dabei wurde der Eintrittspreis in der Pandemie von 25 auf 40 Euro erhöht.
Ich schlug vor, dass wir uns um 22 Uhr treffen, schließlich gehen um 23 Uhr die Türen auf, da sollten wir etwas früher am Berghain sein. Alejandro schrieb im Chat, mein Vorschlag sei lächerlich. Wir sollten spätestens um 21 Uhr da sein. Er sei schon häufig bei der Snax gewesen. Und wenn man später kommt, steht man zu lange in der Schlange. „Aber wir sollten auch nicht zu früh kommen“, sagte er, „denn die Schlange ist schon Teil der Party.“
Na ja, eine Party war es nicht. Als wir ankamen, reichte die Schlange schon bis zur Querstraße An der Ostbahn. Zuerst dachte ich, das ist okay, die Schlange für Snax war immer lang. Wir hatten schließlich genug Bier mitgebracht, und wer weiß, vielleicht würden wir ja auch jemanden kennenlernen in der Schlange. Nach zweieinhalb Stunden in der Kälte betraten wir den Bereich der Schlange, den ich den „Stallbereich“ nenne.
Wie Vieh wurden wir in diesen von Metallgittern eingezäunten Bereich geführt, aber weil direkt davor auch die Vordrängler versuchen, sich in die Schlange zu mogeln, wurde es plötzlich voll. Sogar sehr voll. Die Leute standen so dicht gedrängt, dass ich kaum noch meine Flasche zum Mund heben konnte. Es war schlicht zu eng.
Jede Viertelstunde rückte die Menge etwa 20 Zentimeter voran, und wir schlurften wie Pinguine vorwärts. Die Stimmung war längst im Keller, wir sagten kaum noch etwas, schauten in unsere Telefone, und ich konzentrierte mich darauf, meine Blase unter Kontrolle zu halten. Schließlich konnte man jetzt nicht mehr aus dem Käfig heraus, denn das würde bedeuten, dass man seinen Platz verspielt. Anderen ging es wohl ähnlich, jedenfalls wurde es ganz leise in der Schlange. Ich flüsterte zu Justin: Ich will hier weg, es reicht. Justin flüsterte einen sehr wahren Satz zurück: „Der einzige Weg raus ist rein.“
Also standen wir da, beschäftigten uns mit Italien (Carl), das wegen der großen Zahl der Einwanderer aus Tunesien einen Notstand erklärt hatte, oder der Frage, ob Miley Cyrus mit ihrem neuen Album wirklich einen großen Wurf gelandet hat (Alejandro). Das zumindest konnte ich auf den Displays von Carl und Alejandro lesen. Was ich den anderen nicht sagen wollte, ging mir nicht mehr aus dem Kopf: Hätte es ein lautes Geräusch oder einen Knall gegeben, wäre es sicher zu einer Massenpanik gekommen, bei der Menschen zerquetscht worden wären. Schon jetzt wurde ich fast zerquetscht. Und das für eine Party. Ich hasste mein Leben.
Und die ganze Zeit strahlte dieser grelle Scheinwerfer vom Dach des Berghain auf uns herab. Ich konnte kaum etwas erkennen. Wir hatten keine Ahnung, wo die Schlange endete und was an ihrem Ende passierte.
Von den Berghain-Mitarbeitern haben wir die ganze Zeit niemanden gesehen. Wie um die Vorfreude zu schüren, wurden aber ab und zu Aufkleber durch die Menge gereicht. Alle wissen: Im Berghain gibt es keine Spiegel, und Kameras sind nicht erlaubt. Deshalb werden die Handy-Kameras mit bunten Punkten zugeklebt. Die Leute freuten sich so sehr über die Aufkleber, als wären es Essensmarken im Zweiten Weltkrieg. Niemand wollte ans Ende der Schlange kommen, ohne sein Telefon vorbereitet zu haben.
Nach fünf Stunden konnten wir die Türsteher sehen. Doch schnell merkten wir, dass fast jeder Dritte abgewiesen wurde. Früher musste man sich bei der Snax-Party keine Sorgen machen, eigentlich kam jeder rein, der noch gerade stehen konnte. Aber plötzlich hieß es: „Deine Ausrüstung ist nicht Fetisch genug.“ Es war natürlich die absolute Horrorvorstellung. Nach fünf Stunden Hölle: Heimweg.
Die Party des Jahres
Kurz vor uns wurden zwei Berliner abgewiesen, weil ihre Hosen nicht sportlich genug waren. Sie sagten, sie wollten sowieso nackt gehen. Und zogen vor den Türstehern ihre Hosen bis zu den Knöcheln herunter. Da standen sie also und riefen, dass man sie doch bitte hineinlassen sollte. „Wir sind doch sowieso irgendwann nackt!“ Der Türsteher zeigte sich unbeeindruckt und wies den Sicherheitsdienst an, die beiden kreischenden Männer wegzugeleiten. Drama.
Ich machte mir wenig Sorgen, weil ich bisher immer das Gleiche anhatte: einen Wrestling-Anzug. Alejandro fühlte sich mit seinem Jockstrap sehr fetischistisch, Carl hatte Adidas-Sportsachen an, und Justin trug eine Netzunterhose. Das sollte reichen, dachte er, und wurde am Eingang abgewiesen. „Nicht Fetisch genug.“ Aber er hatte sie bei einem Fetischhandel gekauft?! Und wer bestimmt überhaupt diese Regeln?
Hier aber war es von Vorteil, dass Justin mit seinem niedlichen Akzent Deutsch spricht. Er argumentierte seinen Fall, ruhig und freundlich. Und es half: Der Türsteher sagte, er könne reingehen, solange er seine Hosen anbehalte (es waren ganz normale lange Jogginghosen). Alejandro im Jockstrap, der extra wegen Snax ins Flugzeug nach Berlin gestiegen war, wurde abgewiesen. Jockstrap? Kein Fetisch. Carl hatte mit seinen Adidas Glück. Ich habe in der Schlange gelernt, dass Nike kein Fetisch ist. Wer blickt da noch durch?
Also kamen drei von uns vieren rein. Wir zahlten an den mürrischen Kassierer die 40 Euro und betraten einen Bereich, der doch eigentlich Spaß machen sollte. Justin und ich liefen durch den ganzen Club – und nach rund 90 Minuten waren wir auch schon wieder weg. Ich weiß, dass ich 80 Prozent meiner Partyzeit in der Schlange verbracht habe. Aber ehrlich gesagt, wollte ich nur noch nach Hause.
Als ich den Club verließ, bedankte ich mich beim Türsteher und lief durch das morgendliche Berlin. Ich dachte an ein paar Szenen, die ich drinnen gesehen hatte, und merkte, dass es inzwischen doch auch in anderen Städten Europas ganz ähnliche Feste gibt. Vielleicht sind meine Snax-Tage wirklich vorbei. Bei einer Sache allerdings muss ich grinsen. Die Snax-Leute denken sich ja jedes Jahr etwas Besonderes aus für die Dekoration. In diesem Jahr war es das Thema S-Bahn. Sie hatten im Berghain einen gesamten S-Bahn-Wagen nachgebaut. Und überall waren Männer und ... liebten einander.
Carl schrieb uns um 16 Uhr am nächsten Tag. Er fragte, warum er uns nicht mehr gefunden hätte. Es war die Party des Jahres, sagte er.












