Brutal Berlin

„Ich dachte, es wäre eine offene Beziehung“: Warum das Berliner Liebesleben nervt

Wieso ist es in Berlin so verdammt schwierig, eine langfristige Beziehung zu finden? Unser Autor erforscht die Liebe in der Hauptstadt. 

Wer mit wem? Berlin ist für viele ein großer Spielplatz für lustvolle Abenteuer und wilden Sex. 
Wer mit wem? Berlin ist für viele ein großer Spielplatz für lustvolle Abenteuer und wilden Sex. Roshanak Amini für die Berliner Zeitung am Wochenende/ Verwendete Bilder: Imago (7); Giovanni Francesco Barbieri: „Erminia and the Shepherd“, Titian: „Portrait of Gerolamo Barbarigo“, Titian: „Diana and Actaeon“, Paolo Veronese: „Happy Union“, Paolo Veronese: „The Dream of Saint Helena“, Raphael: „The Fourth Hour".

Ich stehe am Alexanderplatz und warte auf die U-Bahn. Die hellblauen Wandfliesen sind mit Werbung von Tinder tapeziert. Der Slogan: „Es beginnt mit einem Swipe“. Im Hintergrund sehe ich verschiedene Szenen, die sich mit dem Thema Liebe beschäftigen. Mit dieser neuen Markenkampagne möchte Tinder seine Haltung für Vielfalt unterstreichen. In einem Plakat sieht man zum Beispiel ein lesbisches Paar, beide mit rosagefärbten Haaren, die auf einem ebenso rosa Cadillac durch eine exotische Landschaft fahren. Ein Spruch in einer 80er-Jahre-Schriftart sagt: „Einfach gemeinsam schweigen“.

Ich jedoch schweige alleine. Die Wartezeit auf die U8 beträgt noch zehn Minuten, und irgendwie muss ich an Liebe und rosa Cadillacs denken. Dating-Apps habe ich nie benutzt. Ich mag nicht die Idee, dass ich jemanden aussuche wie einen neuen Schreibtisch in einem Katalog. Aber ich kenne Paare, die sich online kennenlernten und seit Jahren glücklich sind. Ob mit Dating-Apps oder in einer Bar: Neue Leute kennenzulernen sollte in Berlin bei rund vier Millionen Einwohnern doch kein Problem sein. Zwar bringt die Berliner Offenheit frische Luft im Sozialleben und beim Feiern, aber wenn es ernst wird, tun sich viele schwer, das haben mir zumindest viele Freunde erzählt.

Berlin ist nämlich die Stadt der vielfältigen Liebe und der Polyamorie. Das polyamore Milieu ist in der Hauptstadt besonders präsent. Allein die Berlin Internationals Polyamory Group zählt 1940 Mitglieder. „Polyamorie bedeutet, mehrere Menschen zur selben Zeit zu lieben, mit dem Herzen, aber auch sexuell. Neu daran ist vor allem, dass es offen gelebt wird, mit der Zustimmung oder Billigung aller Beteiligten“, lese ich auf polyamorie.de.

Ich habe schnell herausgefunden: Hier ist es kein Problem, zwei oder noch mehr Liebesbeziehungen gleichzeitig zu haben. Eigentlich verstehe ich als Single nicht, warum jemand sich so etwas freiwillig antut. Mehrere Beziehungen gleichzeitig? Mir fehlt schon zu einer die Kraft.

Ehrlich gesagt, ich mag das Leben als Single ziemlich. Man hat ein friedliches Leben ohne Stress und Zoff, die den Alltag einer allgemeinen Beziehung bilden. Man kann eigenständig Entscheidungen treffen, ohne vorher stundenlang zu diskutieren. Pizza oder Sushi zum Abendessen bestellen ist dann zum Beispiel eine umstandslose Einzelentscheidung. Nach einiger Zeit fühle ich jedoch eine gewisse Einsamkeit und strebe nach jemandem, mit dem ich Lebenserfahrungen teilen kann. Was will man auch machen? Liebe ist einfach ein menschlicher Instinkt.  

Was sind eigentlich „offene“ Beziehungen?

Die Wartezeit auf die U8 Richtung Hermannstraße beträgt sechs Minuten. Ich denke an Rainer Maria Rilke und wie ich ihm heutzutage die Polyamorie erklären würde. Er schrieb: „Darin besteht die Liebe, dass sich zwei Einsame beschützen und berühren und miteinander reden.“ Lieber Herr Rilke, würde ich heute sagen – es können auch drei oder vier Einsame sein.

Manchmal passiert es sogar, dass sich jemand in einem polyamoren Verhältnis befindet, ohne es selbst zu wissen. Genau das passierte letztens meiner Freundin Eva. An einem Freitagabend ging sie in einen Club namens Mensch Meier und lernte dort einen Typen kennen, der ihr wirklich gut gefiel. Nicht nur äußerlich, auch das Gespräch behielt sie gut in Erinnerung. Als nach einer langen Nacht der Morgen dämmerte, tauschten sie ihre Nummern aus. Irgendwie stieß sie kurz danach auf sein Instagram-Profil. Normalerweise checkt sie nicht die sozialen Medien eines Clubflirts, aber dieser hatte ihr Interesse besonders geweckt. Es stellte sich heraus, dass sie gemeinsame Freunde hatten.

Der Clubflirt ist Israeli, hat aber ein paar italienische Freunde auf Instagram, die Eva auch kennt. Eins kommt zum anderen und dann stellt sich heraus, dass die Mensch-Meier-Bekanntschaft seit zehn Jahren in einer festen Beziehung ist. Dabei hatten sich Eva und er auch geküsst, von einer Beziehung hatte er natürlich nicht gesprochen. In Berlin ist das auch keine große Sache, sie wollte aber trotzdem sehen, wie weit sie ihn im Chat aus der Reserve locken konnte. 

In der Liebe fehlt das Vertrauen

Sie konfrontierte ihn dann mit der Wahrheit, seiner zehnjährigen Beziehung und dem Verschweigen. Der Mann war erstaunt, damit hatte er nicht gerechnet. Flüchtige Club-Bekanntschaften verpflichten in Berlin offenbar zu nichts. Schon gar nicht zur Wahrheit. Sie habe ihn missverstanden, behauptete er. Er sei in einer offenen Beziehung, seine Freundin sei im Bilde. Die Freundin wusste natürlich nicht, dass ihr Freund hin und wieder fremdgeht. Das hatten ihr deren gemeinsame Freunde zuvor bestätigt. 

Dieses Mal hatte er aber das beeindruckende Netzwerk der italienischen Gemeinschaft in Berlin unterschätzt. Eva schaffte es, den Hobbybetrüger zu entlarven, bevor sie selbst zum Opfer wurde. Natürlich ist das nur eine von vielen Erfahrungen. Zum Glück ticken nicht alle gleich. Jedoch denke ich, dass dieser Vorfall zeigt, warum es heutzutage so schwierig geworden ist, insbesondere für junge Menschen, eine seriöse Beziehung aufzubauen. Das Vertrauen fehlt, und das hängt auch ein bisschen von diesen offenen Beziehungen ab, die sich manchmal als ganz und gar nicht offen herausstellen.  

Die Dauer einer Beziehung lässt sich mittlerweile schon am Anfang bestimmen

Wahrscheinlich denke ich zu viel nach. Laut jüngsten Studien ist es heutzutage sogar möglich, die Länge einer Beziehung vorherzusagen. Forschern zufolge könnte man schon zu Beginn einer Liaison feststellen, ob es sich dabei um ewige Liebe oder nur um ein hoffnungsloses Intermezzo handelt. 2000 Paare wurden sieben Jahre lang beobachtet, und es stellte sich heraus: Wer sich mit dem Partner nicht zurechtfindet, zeigt es besonders in den ersten Phasen einer Liebesbeziehung. Weitermachen ergäbe also zum Beispiel keinen Sinn, wenn sich das Paar oft streitet und unglücklich ist. 

Dieses Szenario erinnert an eine Episode der dystopischen Netflix-Serie „Black Mirror“. In der Folge „Hang the DJ“ wird eine Welt geschildert, wo Liebe nur durch Technik erfolgt. Paare benutzen beim ersten Date ein elektronisches Gerät und ein Algorithmus findet heraus, wie lange sie zusammen bleiben werden: entweder das ganze Leben oder nur für einen One-Night-Stand. Den meisten würde jedoch ein Gerät reichen, das feststellt, ob deren Flirt schon vergeben ist – oder nicht. Die Wartezeit auf die U8 beträgt mittlerweile eine Minute, ich kann schon den Luftzug spüren. Birgt nicht jede Bahnfahrt auch die Möglichkeit für ein Zufallstreffen? Ich muss nur mit offenen Augen einsteigen.