Berlin hat rund 3,8 Millionen Einwohner, und jeder hat seinen eigenen Blick auf die Stadt. Was macht Berlin aus, wieso lebt man hier – und tut man es überhaupt gern?
In unserer Rubrik „Fragebogen Berlin“ fragen wir bekannte Hauptstädterinnen und Hauptstädter nach ihren Lieblingsorten und nach Plätzen, die sie lieber meiden. Sie verraten, wo sie gern essen, einkaufen oder spazieren gehen. Aber auch, was sie an Berlin nervt und was man hier auf keinen Fall tun sollte.
Diesmal hat die Schriftstellerin Lea Streisand unsere Fragen beantwortet. Viele kennen die 43-Jährige von ihrer wöchentlichen Hörkolumne „War schön jewesen“, die immer montags auf Radio eins läuft. Gerade hat sie ihren Wenderoman „Hufeland, Ecke Bötzow“ als Hörbuch eingesprochen, das Ende April bei Jumbo erschienen ist. Ende Juni folgt die Taschenbuchausgabe bei Ullstein. Lea Streisand lebt mit ihrer Familie in Pankow.
1. Frau Streisand, seit wann sind Sie schon in der Stadt?
Tja, wann beginnt das Sein? Geboren wurde ich am 24. Juli 1979 in der Maria Heimsuchung in Berlin-Pankow als „Streisand, weiblich“, weil meine Eltern sich tagelang nicht auf einen Vornamen einigen konnten. Am Ende setzte mein Vater sich durch mit diesem alttestamentarischen Namen, der auf Hebräisch „die Schieläugige, sich vergeblich Abmühende“ bedeutet.
1986 wurde ich eingeschult auf der Körperbehindertenschule Dr. Georg Benjamin in Berlin-Lichtenberg, wo ich bald das wichtige Amt der Gruppenratsvorsitzenden übernahm, meiner Kaderkarriere stand nichts mehr im Weg. Dann fiel die Mauer und ich wurde Schriftstellerin.
Meine erste Veröffentlichung war im Ressort „Zeitung in der Schule“ der Berliner Zeitung, ein wahnsinnig ableistischer Text, in dem ich mich über meine ehemaligen Klassenkameraden der KBS hinwegsetzte, indem ich über sie schrieb, ohne zu erwähnen, dass ich selbst eine Gehbehinderung habe. Ich dachte damals, so geht Journalismus. Die Autorin verschwindet hinter dem Text und tut so, als würde sie eine Wahrheit verkünden. Zum Glück hab ich bald gelernt, dass es keine Wahrheit gibt, sondern nur Möglichkeiten von Wirklichkeit, die ich zu ergründen versuchen kann, indem ich sie möglichst präzise benenne.
2. Welcher ist Ihr Lieblingsort in Berlin?
Ich freue mich immer, wenn ich den Fernsehturm sehe, dann weiß ich, dass ich bald zu Hause bin. Ich habe einen miserablen Orientierungssinn. Ich verlaufe mich in meinem eigenen Wohnzimmer, wenn man mich dreimal um die eigene Achse dreht.
Berlin ist ein riesiges Ungeheuer, das Menschen und Ideen frisst und gebiert und eigentlich ist es mir zu groß, aber woanders kann ich gar nicht sein. Nach dem Abitur war ich ein Jahr in Hamburg, was ja viel cooler ist und im Gegensatz zu Berlin eine echte Stadt mit einem Zentrum. Und Strand! Aber ich bin mit der hanseatischen Distanziertheit nicht klargekommen. Ich bin Berlinerin. Ich werde lieber ehrlich angepöbelt als höflich beleidigt.
3. Wo zieht es Sie hin, wenn Sie entspannen wollen?
Raus hier.
4. Welche Ecken der Stadt meiden Sie?
Ich versuche, nicht in Hundescheiße zu treten.

Die nächsten Lesetermine mit Lea Streisand: Lesebühne „Rakete 2000“ im Zimmer 16 in Pankow (9. Mai) und bei der Schönen Party im Frannz-Club (17. Juni)
5. Ihr ultimativer Gastro-Geheimtipp?
Selber kochen. Im Ernst, ich gehe nicht gern essen. Ich hab keine guten Tischmanieren. Ich werde nicht gerne beobachtet beim Essen und bin wahnsinnig empfindlich, habe tausend Allergien und Unverträglichkeiten, und wenn ich gestresst bin, krieg ich nix runter. Und für mich bedeutet auswärts essen immer Stress, weil mir meine Empfindlichkeit so peinlich ist und mir die Kellner leidtun, die meine Bestellung aufnehmen müssen. Bei dem Italiener bei uns an der Ecke fühle ich mich noch am wohlsten, aber den verrate ich euch nicht, ich will meine Ruhe haben beim Essen. Ich war mal mit Flake im Borchardt essen, da standen die Fans neben dem Tisch und wollten Selfies machen, während er sein Schnitzel aß. Schrecklich, so was!
6. Ihr ultimativer Shopping-Geheimtipp?
Kauft Bücher in Buchhandlungen! Offline-Shop. Völlig neues Konzept. Man kann die Bücher gleich lesen, sofort bezahlen und direkt mit nach Hause nehmen. Keinerlei Paketboten sind involviert. Wir haben in Pankow eine Kinderbuchhandlung, eine Theaterbuchhandlung, eine Buchhandlung für skandinavische Literatur. Jedes Buch ist eine Welt. Deswegen sind Buchhandlungen die schönsten Geschäfte des Universums. Und wenn man die Bücher nicht gleich kaufen will oder sich nicht leisten kann, kann man sie besuchen gehen. In den öffentlichen Bibliotheken der Stadt. Die haben mittlerweile sogar am Wochenende geöffnet.
7. Der beste Stadtteil Berlins ist …
Nichts an Berlin ist gut. Es ist Berlin. Es ist ätzend. Aber wir lieben es trotzdem.
8. Das nervt mich am meisten an der Stadt:
Die Autos. Es gibt in Pankow Pkw, die sind so groß wie ein Marzahner Kinderzimmer. Vor 40 Jahren hatte es noch völkerrechtliche Konsequenzen, mit einem Panzer durch eine dicht bevölkerte Innenstadt zu fahren. Heute nennt sich das „persönliche Freiheit“. Reiche überfahren Arme. Das kotzt mich richtig an.
Und der Wohnungsmangel ist ein Problem, die geringe Bezahlung in Pflege und Betreuung. Wisst ihr alles selber. In Prenzlauer Berg musste eine Kita schließen, weil keine Erzieherinnen da arbeiten wollten. Die hatten keinen Bock, für ’n Appel und ’n Ei jeden Tag aus Buch oder Lichtenberg angereist zu kommen, Stunde Fahrzeit hin und zurück, um die Kinder der Reichen zu betreuen. Das sind Probleme.
9. Was muss sich dringend ändern, damit Berlin lebenswert bleibt?
Berlin braucht bezahlbaren Wohnraum, weniger Autos und eine verantwortungsbewusste Kultur- und Bildungspolitik. Berlin hat keine Industrie, kein Wasser, keine Landwirtschaft und kein Geld. Unsere Ressourcen sind: Bildung, Forschung und Kultur. Darauf müssen wir achtgeben.
10. Ihr Tipp an Unentschlossene: Nach Berlin ziehen oder es lieber bleiben lassen?
Ich würde immer dahin gehen, wo ich Leute kenne. Und wo ich mir das Leben leisten kann. Ich bin ängstlich, hab eine Gehbehinderung und verlaufe mich schnell. Ich brauche Menschen um mich herum, denen ich vertraue. Sonst habe ich das Gefühl zu verschwinden. Ich schätze die Anonymität der Großstadt. Die Möglichkeit, ab- und aufzutauchen. Ich bin irre stolz darauf, mir hier einen Namen gemacht zu haben. Aber mein Anker ist meine Familie.
Für uns Berliner ist es ein großes Glück, dass wir nicht mal aus unserem Nest klettern müssen, um die Welt kennenzulernen, weil alle Welt hier nach Berlin kommt. Berlin ist doch nur cool wegen der mutigen Menschen, die Bock haben, hier zu leben und zu arbeiten, die ihre Ideen mitbringen und diese Stadt größer, bunter und spannender machen. Die Zugezogenen sind das Potenzial dieser Stadt. Das sollten wir nie vergessen.




