Das nordenglische Liverpool hat die musikalische Landschaft in Großbritannien und weit darüber hinaus geprägt. Stichwort Beatles, Stichwort City of Music. Das macht die Stadt zu einer besonders passenden Wahl als Gastgeber für den diesjährigen Eurovision Song Contest – stellvertretend für das Land, das den Wettbewerb im letzten Jahr gewonnen hat, die Ukraine.
Der Grund, wieso der ESC nicht dort veranstaltet werden kann, ist allen klar: Während der brutale russische Angriffskrieg noch in der Ukraine tobt, ist es nicht drin, dort die größte Musikshow der Welt zu organisieren. Der sonst so übermäßig fröhliche und frivole ESC hat in diesem Jahr einen Hauch von Bittersüße an sich.
Statt Kiew oder Lwiw ist es also Liverpool, das diese Woche zur Bühne des kitschigen Glamours und manchmal fragwürdigen Gesangs des ESC wird. Am Ufer des Flusses Mersey, der im beliebten Lied „Ferry Cross the Mersey“ besungen wird, befindet sich das Eurovision Village, wo es Public Viewings für die zwei Halbfinals und das große Finale am Samstag sowie Auftritte von Künstlern des Wettbewerbs gibt.
Im Cavern Club, wo die Beatles einige ihrer ersten Konzerte spielten, treten auch aktuelle und frühere ESC-Künstler auf. Überall in der Stadt hängen Poster mit einem Slogan, der auf die weltbekannte Hymne des FC Liverpool, „You’ll Never Walk Alone“, anspielt. Diese Woche heißt es in der Stadt: „You’ll Never Sing Alone“; du wirst nie alleine singen.

Eine Botschaft in Kriegszeiten: „You’ll Never Sing Alone“
Es ist eine Botschaft, die vor dem Hintergrund des Krieges eine ergreifende neue Bedeutung gewonnen hat. Auf den Straßen in Liverpool hört man hin und wieder Gespräche auf Ukrainisch und Russisch; 3000 ESC-Tickets wurden für ukrainische Geflüchtete in Großbritannien zu einem vergünstigten Preis ausgegeben.
Noch viel mehr Menschen tragen Symbole der Unterstützung für die Ukraine –seien es Buttons, Fahnen oder Outfits, die an frühere ukrainische ESC-Künstler erinnern. Dabei ist der Favorit ganz klar der silberne Anzug mit Sternenhut der Dragqueen Verka Serduchka. Neben den ESC-typischen Pailletten und Federboas tragen viele Briten ukrainische Blumenkronen. Die Figuren der berühmten Statue der Beatles am Pier der Mersey haben Wyschywankas an, traditionell bestickte Hemden der ukrainischen Nationaltracht. Liverpool ist für eine Woche ukrainisch geworden – und zeigt damit seine Solidarität.

Es ist vor allem diese Solidarität gepaart mit einem großen Gefühl der Zusammengehörigkeit, die die Stimmung beim diesjährigen ESC prägt. Auch wenn das nicht unbedingt an seinen Beiträgen der letzten Jahre, die eher schlecht gepunktet haben, festzumachen ist, kann Großbritannien auf eine illustre ESC-Geschichte zurückblicken – das Land hat fünfmal gewonnen und 16-mal den zweiten Platz belegt.
Es wäre sicher auch eine Möglichkeit für die Briten gewesen, diese Geschichte in den Vordergrund zu rücken und die europäischen Nachbarn an sie zu erinnern. Doch im Kontext des Krieges hat die BBC erfreulicherweise erkannt, wie unpassend ein solches Vorgehen wäre.
Der britische Kandidat beim letztjährigen ESC, Sam Ryder, der hinter der ukrainischen Gruppe Kalush Orchestra zum Zweitplatzierten wurde, hat es richtig gesagt, als bekannt wurde, dass Großbritannien stellvertretend für die Ukraine den Wettbewerb ausrichten würde. „Es ist immer noch die Party der Ukraine“, sagte er in einem Instagram-Video. „Wir laden sie einfach nur ein, sie bei uns zu Hause zu veranstalten.“
Beim angeblich unpolitischen ESC schickt Liverpool ein Signal an Europa
In Liverpool fühlt es sich an, als ob das zu einer Art Mantra für die Organisatoren geworden ist: Neben britischen Moderatoren treten auch ukrainische auf; eine ganze Kulturwoche, die der Ukraine gewidmet war, ging dem ESC in Liverpool voraus. Öffentliche Ausstellungen zeigen die traditionelle Volkskunst der Ukraine; sie wird hautnah erlebbar und begreifbar für alle, die noch nie in der Ukraine waren – und es vielleicht in absehbarer Zeit nicht dorthin schaffen werden.




