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Mythos Winston Churchill: Held des Westens oder kolonialistischer Schurke?

Der 150. Geburtstag des wohl bekanntesten britischen Premierministers gibt Anlass, sich noch mal en détail mit seinem politischen Erbe auseinanderzusetzen.

Winston Churchill im Jahr 1939
Winston Churchill im Jahr 1939SuperStock/imago

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Plötzlich war er wieder da. Als im Februar 2022 Wladimir Putins Russland die Ukraine überfiel, war Winston Churchill auf einmal wieder in aller Munde.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung beklagte, dass sich angesichts der neuerlichen Bedrohung des Westens kein neuer Churchill finde, der Spiegel dagegen sah im ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj einen „Churchill in Fleecejacke“, auch die Tageszeitung Welt äußerte die Meinung, Selenskyj „sprach, als habe ihn der Geist Churchills inspiriert“. 2022 erhielt Selenskyj den „Sir Winston Churchill Leadership Award“ der International Churchill Society, die Laudatio hielt der Churchill-Verehrer Boris Johnson. So wie Churchill einst Großbritannien, Europa und die freie Welt vor der Tyrannei gerettet habe, so müsse jetzt der Westen Putins Versuch wehren, die Ukraine zu unterjochen und die liberale, demokratische Weltordnung umzustürzen.

Auch zum 150. Geburtstag des wohl bekanntesten britischen Premierministers scheint der „Mythos Churchill“ kein Ende zu finden. Wie kommt das? Noch kurz zuvor hatte es doch eigentlich so ausgesehen, als wäre Churchill in Ungnade gefallen: 2020 wurde seine Statue auf dem Londoner Parliament Square beschmiert, weil er als Exponent des weißen, kolonialistischen, zu überwindenden Britannien galt. Der Labour-Politiker John McDonnell nannte Churchill 2019 einen „Schurken“, weil er 1910 einen Bergarbeiteraufstand im walisischen Tondypandy blutig niederschlagen ließ. Seit einer 2010 erschienenen Studie von Madhusree Mukerjee wird Churchill zudem vorgeworfen, für die schätzungsweise zwei bis drei Millionen Toten infolge der Hungersnot in Bengalen 1943 verantwortlich zu sein.

Wolodymyr Selenskyj ist bei der Preisverleihung des Winston Churchill Leadership Award der Internationalen Churchill-Gesellschaft über eine Videoschaltung mit von der Partie.
Wolodymyr Selenskyj ist bei der Preisverleihung des Winston Churchill Leadership Award der Internationalen Churchill-Gesellschaft über eine Videoschaltung mit von der Partie.Ukrainian Presidential Press Off/dpa

Liegt es nicht auch an Churchills Erbe, dass nationalistisches und imperialistisches Denken noch immer nicht verschwunden sind? Konnten sich nicht gerade die Brexit-Befürworter auf Churchill berufen? Anders gefragt: Wer ist der wahre Churchill: der Held des Westens oder der kolonialistische Schurke?

Nicht erst seit dem 21. Jahrhundert wird diese Frage diskutiert. Schon zu Lebzeiten war er höchst umstritten, galt als unberechenbar und opportunistisch, hatte immerhin zweimal im Laufe seiner Karriere die Partei gewechselt, zuerst von den Tories zu den Liberalen und dann wieder zurück zu den Tories. Während des Ersten Weltkriegs war er verantwortlich für das Desaster von Galipoli, als die britische Marine gegen das Osmanische Reich eine herbe Niederlage einstecken musste.

In der Zwischenkriegszeit leistete er hartnäckigen Widerstand gegen die indischen Unabhängigkeitsbestrebungen und galt in den 1930er-Jahren als Dauerquerulant mit seinem Anti-Appeasement-Kurs und überhaupt mit seinen in ihrer Vehemenz sonst höchstens bei der radikalen Linken zu findenden Warnungen vor Hitler.

Unbeugsam gegen Hitler

Doch Hitlers Überfall auf Polen 1939 erwies die Berechtigung von Churchills Warnungen und machte ihn auf einen Schlag zum Politiker der Stunde. Im Mai 1940 wurde er Premierminister und machte ein Ende mit der Appeasement-Politik, entschied trotz aussichtslos scheinender Lage, den Krieg weiterzuführen, zeigte Stärke und Unbeugsamkeit gegen Hitler und legte damit den Grundstein für den Churchill-Mythos: einen Mythos, der die westliche Welt bis heute begleitet.

Vom Zweiten Weltkrieg über den Kalten Krieg bis zum „Krieg gegen den Terror“ steht Churchill seitdem überall da Pate, wo es darum geht, Stärke gegen einen tatsächlichen oder vermeintlichen Aggressor zu demonstrieren und die Freiheit kämpferisch zu verteidigen.

Ein Mythos, schon zu Lebzeiten
Ein Mythos, schon zu LebzeitenKeystone/imago

Den Churchill-Mythos untersuchen heißt, einem erfolgreichen Mythos bei der Arbeit zusehen. Das lohnt sich auch deshalb, weil Mythen keineswegs einfach Lügen oder Irrtümer sind, wie es ein verbreiteter Sprachgebrauch nahelegt. Mythen sind auch nicht einfach alle „konstruiert“, zumindest nicht in derselben Weise. Ein Mythos ist vielmehr unabhängig von seinem Faktengehalt eine sinnstiftende Erzählung.

Damit er sich erfolgreich in einer Gesellschaft etabliert, muss zwar auch an seine faktische Richtigkeit geglaubt werden, die Faktizität ist jedoch sekundär gegenüber seiner Sinnstiftungsfunktion. Wenn es einem Mythos gelingt, ein vitales Sinnbedürfnis einer Gesellschaft zu befriedigen, dann sind seine Erfolgschancen hoch.

Selbst Fidel Castro war ein Anhänger

Das gelingt vor allem dann, wenn Mythen eben nicht einfach nur „konstruiert“ und „von oben“ oktroyiert sind, sondern wenn sie gleichsam „spontan“ und „von unten“ entstehen. Der Churchill-Mythos gehört in diesem Sinne eindeutig zu den spontan entstandenen Mythen, man kann seinen Ursprung recht genau datieren, nämlich auf den Mai und Juni 1940, als Churchills Führungshandeln die britische Bevölkerung inspirierte.

Darauf beruht der narrative Kern des Churchill-Mythos, welcher lautet: Churchill hat 1940 Großbritannien und die gesamte freie Welt vor der nationalsozialistischen Tyrannei gerettet. Dieser Kern mag aus Sicht der Geschichtswissenschaft so undifferenziert oder gar falsch sein, wie er will, seine Wirkung hängt davon nicht ab. Denn dieser narrative Kern bringt ein tatsächliches Erleben der Kriegsgeneration prägnant zum Ausdruck.

Aber natürlich gab es auch „Macher“ des Churchill-Mythos. Allen voran Churchill selbst, aber auch die „Churchillians“, jene Autoren und Multiplikatoren, die den Churchill-Mythos nach dem Zweiten Weltkrieg aus Begeisterung oder als Auftragsarbeit öffentlich propagierten. Es gelang ihnen, um den narrativen Kern herum eine narrative „Hülle“ zu erschaffen, die aus Churchill eine überlebensgroße, dabei aber sympathisch-nahbare Figur machte, an der alles interessant und besonders schien: der Whisky trinkende, Zigarre rauchende, merkwürdige Hüte tragende und das Victory-Zeichen machende, nie um einen kernigen Spruch verlegene Staatsmann bot einen enormen Wiederkennungswert und ein hohes Identifikationspotenzial.

Mann mit Hut und Victory-Zeichen
Mann mit Hut und Victory-ZeichenDB/dpa

Dieses Churchill-Bild und die zugehörige Erzählung sprengten von Anfang an den nationalen Rahmen und die politischen Lagergrenzen. Der vielleicht überraschendste Anhänger des Churchill-Mythos war Fidel Castro, der Mitte der 1960er-Jahre einem verblüfften sozialistischen Studenten erklärte, dass Churchills Kolonialismus vollkommen unerheblich sei angesichts seiner großen Leistung, Hitler und den Faschismus besiegt zu haben. Außerdem, so fügte Castro hinzu, könne man von Churchill lernen, wie eine kleine Insel sich gegen einen großen Aggressor erfolgreich zur Wehr setzt.

Fehlbar und dadurch auch sympathisch

Der Antifaschismus und das Underdog-Motiv überzeugte so manchen Linken von Churchill, während die Rechte eher von Churchills Führungsstärke und unbeugsamem Patriotismus angezogen war. Besonders interessant allerdings ist die liberale Churchill-Verehrung, nach der Churchill erstens ein Vorkämpfer der Freiheit sei und zweitens der westlichen Welt nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs den Glauben an den Fortschritt zurückgegeben habe.

Ende der Neunzigerjahre vertrat der liberale Churchill-Verehrer Christian Graf von Krockow außerdem die Auffassung, dass Churchill der passende Held für die Demokratie sei. Churchills Schwächen und Fehler seien nämlich so unübersehbar, dass niemand Gefahr laufe, aus Churchill einen makellosen Superhelden zu konstruieren, wie es einer totalitären Heldenverehrung entspreche.

Dieses Argument griff 2014 auch Boris Johnson auf, der in seiner Churchill-Biografie erklärte, dass „Winston“ für alle diejenigen ein Vorbild sei, die wie Churchill in der Schule schlechte Leistungen zeigten, die Erwartungen ihrer Eltern nicht erfüllten oder mit Depressionen zu kämpfen hätten. Churchill wird damit zu einem normalen, fehlbaren und damit sympathischen Menschen, mit dem man sich in all seinen Brüchen auch identifizieren kann. Mit der Betonung von Churchills Volksnähe gab Johnson außerdem die Stoßrichtung vor für eine vierte Variante des Churchill-Mythos, nämlich die populistische, die Churchill als Vertreter des Volkes gegen das „Establishment“ in Stellung bringt. Dieser Erzählung zufolge setzte sich Churchill 1940 gegen eine korrupte politische Elite durch, die bereit war, Frieden mit Hitler zu schließen, und verhalf so dem wahren Volkswillen zur Geltung.

Ein gebrochenes Vorbild

Diese Idee spielte im Brexit-Wahlkampf eine große Rolle, und sie liegt auch jener berühmt-berüchtigten U-Bahn-Szene im Film „Darkest Hour“ (2017) zugrunde, in der Churchill sich von der Normalbevölkerung in seiner unbeugsamen Haltung bestärken lässt und sich damit am Ende gegen die eigene Partei durchsetzt. Im Brexit-Wahlkampf beriefen sich zwar auch die „Remainers“ auf Churchill, der schließlich für die europäische Einigung eingetreten sei, aber die populistische Version erwies im Mythenkampf um Churchill als stärker.

Einen zwiespältigen Ruf genießt Winston Churchill heutzutage, wie man auch an den immer wieder auftauchenden Schriftzügen auf seiner Statue in London sehen kann.
Einen zwiespältigen Ruf genießt Winston Churchill heutzutage, wie man auch an den immer wieder auftauchenden Schriftzügen auf seiner Statue in London sehen kann.Jonathan Brady/dpa

Kritik am Churchill-Mythos ist so alt wie der Churchill-Mythos selbst, doch bislang konnte sie ihm relativ wenig anhaben. Das gilt sowohl für die linke Kritik an Churchill als Feind der Arbeiterklasse und Vertreter eines unmenschlichen Kolonialismus, als auch für die rechte Kritik an Churchill, der 1940 das Empire aufs Spiel gesetzt und es am Ende verloren habe. Solche Kritik ruft bis heute regelmäßig die nach wie vor gut vernetzten „Churchillians“ auf den Plan, die ihren Helden gegen die Vorwürfe verteidigen und die Kernnarration des Churchill-Mythos auf diese Weise im kollektiven Gedächtnis präsent halten. Zwar ist in den letzten Jahren im Zeichen des Postkolonialismus eine deutliche Zunahme der Churchill-Kritik zu beobachten.

Ob diese den Churchill-Mythos an sein Ende bringen wird, bleibt aber abzuwarten. Konkrete Aktualisierungen wie im Zuge der Brexit-Debatte und des Russland-Ukraine-Krieges sind weiterhin an der Tagesordnung. Vielleicht behalten daher die Liberalen Recht, dass Churchill nicht trotz, sondern wegen seiner Makel und sogar seiner Verbrechen für die demokratische „westliche“ Welt ein geeignetes Vorbild abgibt, ein gebrochenes Vorbild nämlich, wie es für freiheitliche Demokratien angemessen ist.

Jedenfalls haben bisher weder die Kritik an Churchills Anti-Appeasement noch die Kritik an seinem Imperialismus und Rassismus den narrativen Kern des Churchill-Mythos in seiner internationalen gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit erheblich beeinträchtigen können. Der Churchill-Mythos scheint so sehr mit der Heldenerzählung des „Westens“ im 20. Jahrhundert verwoben, dass ein Ende des Churchill-Mythos wohl nur denkbar wäre, wenn auch die westliche Heldenerzählung selbst zum Ende kommen sollte.

Benjamin Hasselhorn hat Geschichte, evangelische Theologie und Erziehungswissenschaften studiert (2004-2008), wurde an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit über die politische Theologie Wilhelms II. zum Dr. theol. promoviert (2011) und an der Universität Passau mit einer Arbeit über den Historiker Johannes Haller zum Dr. phil. (2014). Seit 2019 ist er Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, hat dort 2024 mit einer Arbeit über Geschichtsmythen unter besonderer Berücksichtigung des Churchill-Mythos habilitiert.

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