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Sucht und Depressionen: Warum ich Sido und anderen Promis dankbar bin

Der Rapper Sido spricht offen über mentale Gesundheit. Unser Autor meint: Er ist ein gutes Vorbild. Zeit, dass die Medien das reflektieren.

Sido, 2022
Sido, 2022Vitali Gelwich

Als ich zum ersten Mal das Wort HipHop mit Musik assoziierte, war ich in der vierten Klasse. Ich weiß es noch ganz genau. An einem der heißesten Tage des Jahres erlaubte mir mein Vater, seinen Rechner zu plündern und ich suchte wie von der Tarantel gestochen nach Videos von den damals größten YouTubern Deutschlands: Y-Titty. Unter den vielen Song-Parodien gab es unter anderem auch eine mit dem Titel „Versaute Bilder im Kopf“. Inspiriert wurde das Video vom damals größten Song von Sido: „Bilder im Kopf“.

Ich glaube, ich war nie ein wirklicher Sido-Ultra, dafür bin ich vielleicht zu spät geboren. Ich weiß aber, dass ich den „Arschficksong“ durch mein Zimmer hätte schallen lassen, wenn ich damit, zu dem Zeitpunkt, als ich ihn kennenlernte, noch jemanden hätte schocken können. Trotzdem hat Sido mein Leben begleitet.

Zuletzt wurde mir das bewusst, als ich ihn durch einen Zufall live sah, in Freiburg, auf einem Festival, bei dem er nicht einmal der Main Act war, bei dem ich eigentlich kurz davor gewesen war, mir statt seiner Show eine andere anzusehen. Ich hatte über Bekannte mitbekommen, dass er in einer Klinik gewesen war, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Öffentlichkeit darüber sprach.

Als Sido auf die Bühne kam, wusste ich sofort, dass ich mir das nicht von ganz hinten ansehen konnte. In der zehnten Reihe stand ich neben meinem besten Freund, der nicht verstand, warum ich bei jedem Song heulen musste. Bei der einen Hälfte, weil sie mich an eine andere Zeit erinnerte und bei der anderen, weil ich sie nach unser beider Klinikaufenthalt irgendwie anders betrachtete.

Sido hatte eine fantastische Präsenz, teilte sich einen Joint mit einem Typen aus der ersten Reihe, fackelte mit seinen Flammenwerfern die halbe Main Stage ab und spielte seinen Song „Mein Testament“ in einer orchestralen Version. Am Ende dieser Show war ich fertig mit der Welt, fertig mit den Nerven, euphorisiert, niedergeschlagen, nostalgisch und zukunftsgewandt, kurz, ich empfand Katharsis.

„Stigmatisierung und Vorurteile“: Beiträge über Sido in den Medien

Als ich Sido bewusst kennenlernte, hatte er schon aufgehört, in seinem Block Analsex zu haben, oder jedenfalls sang er nicht mehr darüber. Er schlug keine österreichischen Moderatoren mehr, vielleicht, weil er zu diesem Zeitpunkt die Anonymität seiner Maske aufgegeben hatte. Stattdessen veröffentlichte er das Album „30-11-80“ mit Songs wie „Papa, was machst du da“ oder „Liebe“ oder „Einer dieser Steine“. Ein „super-intelligentes Drogenopfer“ (S.I.D.O.) mit Gefühlen. Danach sein Album „VI“ mit „Astronaut“, dessen Text sich mir erst bei besagtem Konzert, sieben Jahre später, richtig erschloss.

Vor einer knappen Woche wurde mir ein Video in den Feed gespült. „Sido über Kokain, Scheidung, Therapie, Entzugsklinik & Vaterkomplexe“. Eines dieser Interviews, bei denen ich nicht sofort draufklickte, bei denen ich wusste, dass ich mir Zeit und Ruhe nehmen wollte, um es anzuschauen. Das war auch gut so. Im Großen und Ganzen zieht sich Sido in diesem Interview nackt aus. Er streift sogar seine Tattoo-Ärmel ab und das alles ohne „Des Kaisers neue Kleider“-Scham. Vielmehr waren es für mich 56 Minuten und 57 Sekunden komprimierter Weisheit, Selbstreflexion und Schmerz.

Am meisten berührte mich seine Erzählung über die Erfahrungen in der Gruppentherapie. Nicht nur, weil ich sie teilte und auch ich vorher eine wahnsinnige Angst vor diesem Format hatte. Sido sagt: „Auf einmal sitzt du da in so einer Gruppe von Menschen, die ganz andere Probleme haben als du, aber trotzdem hörst du dich in denen (…).“

Als er das sagte und ich vor meinem Fernseher saß, erinnerte ich mich an genau dieses Gefühl, mehr noch, der Mann aus dem Kasten löste dieses Gefühl sogar erneut bei mir aus. Sido sprach von einem Erlebnis nach einem Kendrick-Lamar-Konzert, als er deprimiert in seine Wohnung zurückkehrte und sich selbst für sinnlos und wertlos hielt, weil er dieses „Level“ niemals erreichen würde. Ironischerweise empfinde ich dieses Gefühl, wenn ich Sido live spielen sehe.

Mein zweiter Kontakt mit diesem Interview kam neun Tage später zustande. Bei meinen Eltern auf der Couch sah ich einen Beitrag aus der Vox-Sendung „Prominent“. Sie machte mich sehr wütend. Der Beitrag reproduzierte genau das, was Sido in diesem Interview so dankenswerter Weise umgangen hatte: Stigmatisierung und Vorurteile. Zu einem Audio-Kommentar Stock-Bilder von langen, fensterlosen Gängen, einem leeren Stuhlkreis.

Aus dem Interview wurde zitiert, nicht aber die Passagen über generationsübergreifende Traumata oder die Aufarbeitung von Vaterkomplexen, nein, zitiert wurde, dass Sido „als Vater versagt habe“ und sich in Kombination mit seinem Drogenmissbrauch „sexuell ziemlich stark ausgelebt“ habe. Googelt man „Sido Entzug“ sind zwei der drei ersten Suchergebnisse „Sido: Schock-Beichte! (…)“ und „Sorge um sein Leben: Kool Savas bewegte Sido zum Entzug“. Vip.de titelt „(…) Sidos Drogen-Exzesse zerstörten seine Ehe mit Charlotte Würdig“.

Medien-Framing: Sex und Ehekrise statt mentaler Gesundheit

All diese Zitate, dieses Framing weg vom Thema mentaler Gesundheit und hin zum Aufreger Sex, Ehekrise und Schock sind auf zwei Ebenen widerwärtig: Zum einen werden Aussagen verdreht, verkürzt, aus dem Kontext gerissen oder schlicht handwerklich schlecht zitiert. Zu keinem Punkt sagte eine der beiden Parteien in der Scheidung, dass die Sucht-Erkrankung „seine Ehe (…) zerstörte“.

Auch sagt er zwar, das Gefühl zu haben, als Vater zu versagen, erklärt aber auf Nachfrage des Moderators, dass er damit meine, nicht mehr jeden Tag bei seinen Kindern sein zu können. Dieser Aufzählung könnte ich bei jeder Yellow-Press-Meldung über Sido noch einen Punkt hinzufügen, überraschend sollte diese Kritik jedoch für niemanden sein.

Mir ist der zweite Aspekt in diesem Fall jedoch wichtiger: In diesem Sensationsfeuerwerk geht die eigentliche, die wirklich wichtige Botschaft des Interviews, der Lieder und der öffentlichen Person fast verloren. Sido spricht über die Auseinandersetzung mit den eigenen Problemen – nicht nur das, er spricht über Selbstreflexion im Allgemeinen. Sido spricht über die heilende Wirkung eines Schrittes, den sich viele Menschen mit psychischen Problemen jeden Tag nicht trauen. In dem Interview fordert er indirekt die Angehörigen auf, den Erkrankten bei der Suche nach Hilfe zu helfen.

Er will vielleicht ein schlechtes Vorbild sein, doch in diesem Moment ist er ein verdammt Großartiges. Die Stigmatisierungen und Vorurteile lenken nicht nur davon ab, sie lassen diesen Aspekt nicht nur weg, sie verkehren ihn ins Gegenteil. Sie stellen einen Mann dar, der sich mit sich selbst auseinandersetzt und nun vor den Scherben seines Lebens stünde. Sie stellen Hilfe bei psychischer Erkrankung nach wie vor als den langen, fensterlosen Gang dar, von dem einige wenige traurige Existenzen betroffen sind, und nicht als das, was es ist. Ein gut diagnostizierbarer Zustand, für den es viele geeignete Hilfsangebote gibt.

Es ist wichtig, öffentlich über mentale Gesundheit zu sprechen

Ich schätze es sehr, in einer Welt zu leben, in der Sido offen über seine mentale Gesundheit spricht. Genauso, in einer Welt zu leben, in der es Kurt Krömer tut. Oder Sahra Wagenknecht oder Judith Holofernes oder alle anderen, die das Thema in Gänze ins Licht rücken. Ich unterstelle all diesen Menschen, dass der Grund für ihr Tun selten Selbstdarstellung ist, sondern das Bedürfnis, mit genau diesen Vorurteilen aufzuräumen.

Nicht, weil dieses Bild von psychischer Erkrankung – nämlich dass die Betroffenen schwach sind, sich nur mal zusammenreißen müssten – an sich gefährlich ist. Dieses Denken ist wissenschaftsfern, mit Sicherheit sogar dumm. Die Gefahr liegt darin, dass ich als Erkrankter ständig in der Versuchung bin, diesen Mist selbst zu glauben. Mir einzureden, dass ich einfach nur willensschwach sei. Mir vielleicht doch keine Hilfe zu suchen.

Mein Lieblingslied von Sido ist schon seit Jahren „Schlechtes Vorbild“: „Ich bin all das, wovor deine Eltern dich immer gewarnt haben. Doch ich hab Geld, hab Frauen, hab Spaß und du musst immer noch Bahn fahren. Ich bin ein schlechtes Vorbild, na und, wer sagt, was schlecht ist? Ich passe nicht in dein Konzept, egal, mir geht es prächtig.“

Doch wie ich es oben schon gesagt habe, hat Sido für mich in dieser Hinsicht seine Street Credibility verloren. Sido war für Hunderte deutsche Rappende ein Vorbild, hat Türen in den Mainstream geöffnet. Sagt selbst „Ich bin der Vater von diesem Rap-Game“. Retrospektiv kann man sagen, dass man sich einen schlechteren Genre-Vater hätte aussuchen können. Egal was er selbst sagt, für mich als Musiker und als Erkrankter macht er seinen Job als HipHop-Papa gut.

Marlon Mommert ist 19 Jahre alt und lebt in Berlin-Köpenick. Unter dem Künstlernamen Hutmacher und mit der Band CÖPE veröffentlicht er Musik.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.