Für die meisten Jugendlichen ist es ein wichtiges Erlebnis, zum ersten Mal eine längere Zeit von zu Hause wegzukommen. Vielleicht ist es ein Auslandsjahr, vielleicht ist es auch der erste Umzug. Eine neue Erfahrung, die die Identität prägt. Auch ich hatte so eine Zeit. Ich war jedoch nicht für drei Monate in den Vereinigten Staaten oder in meiner frisch möblierten WG in Prenzlauer Berg. Den letzten Jahreswechsel verbrachte ich in einer psychosomatischen Klinik.
Über die Klinik zu sprechen bedeutet für mich auch, über Depression zu sprechen. Für diesen Text ist es wichtig zu wissen, dass ich im letzten Jahr die bis dato schwerste depressive Episode meines Lebens erlebte. Ich hatte zwar schon Erfahrungen mit diesen Phasen, aber so sehr hatte es mich noch nie aus dem Leben genommen.
Aus diesem Grund brach ich, und das bereits zum zweiten Mal, im Herbst des Jahres 2021 mein Abitur ab. Es verschlug mich nach mehreren Monaten Wartezeit vor einen Stahlbetonbau im Berliner Umland. Es war ein frischer Morgen im Dezember, und ich war wahrscheinlich ungefähr so aufgeregt wie ein Schüler vor seiner ersten Endjahresprüfung.
An dieser Stelle muss ich anmerken, das ich mich für einen relativ aufgeklärten jungen Mann halte, wenn es ums Thema psychische Gesundheit geht. Doch die Tage vor besagtem Morgen verliefen trotzdem zäh wie Honig, und immer wieder flackerten Szenen aus Stanley Kubricks Film „Clockwork Orange“ über mein inneres Auge, in dem ein Jugendlicher einer brutalen Therapie unterzogen wird. Würde ich fixiert, meine Augen aufgesperrt und mir ein Mittel eingeflößt werden? Gab es Betten oder doch nur Zwangsjacken? In dieser Zeit wurde mir klar, dass, obwohl ich mich schon seit mehreren Jahren mit psychischer Krankheit und Gesundheit auseinandersetze, diese Stereotype, Ressentiments und Schreckensbilder in mir waren und meine Angst vor dem Unbekannten stärkten.
Telefonseelsorge: Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichen Sie rund um die Uhr Mitarbeiter, mit denen Sie Ihre Sorgen und Ängste teilen können. Auch ein Gespräch via Chat ist möglich. telefonseelsorge.de
Kinder- und Jugendtelefon: Das Angebot des Vereins Nummer gegen Kummer richtet sich vor allem an Kinder und Jugendliche, die in einer schwierigen Situation stecken. Erreichbar montags bis sonnabends von 14 bis 20 Uhr unter 11 6 111 oder 0800 – 111 0 333. Am Sonnabend nehmen die jungen Berater des Teams Jugendliche beraten Jugendliche die Gespräche an. nummergegenkummer.de.
Muslimisches Seelsorge-Telefon: Die Mitarbeiter von MuTeS sind 24 Stunden unter 030 – 44 35 09 821 zu erreichen. Ein Teil von ihnen spricht auch Türkisch. mutes.de
Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention: Eine Übersicht aller telefonischen, regionalen, Online- und Mail-Beratungsangebote in Deutschland gibt es unter suizidprophylaxe.de.
Mit „VIP in der Psychiatrie“ von der Band K.I.Z. auf den Ohren betrat ich, meiner Furcht zum Trotz, am zweiten Tag im Dezember das besagte Gebäude. Ich ließ meinen Blick durch die großen Fenster über die Kiefernwälder schweifen. Nach einer kurzen Führung und einer umfassenden medizinischen Untersuchung wurde mir mein Zimmer gezeigt.
Plötzlich die Angst: Darf ich hier nicht mehr raus?
Eine der Schwestern erklärte mir: „Sie dürfen das Gelände vorerst nicht alleine verlassen. Nach 22 Uhr muss jeder auf seinem Zimmer sein, dann werden die Häuser verschlossen.“ Ein Satz, der mir einen kalten Schauer den Rücken hinauftrieb. „Wie meinen Sie ‚Das Haus nicht verlassen‘? Bedeutet das, ich darf hier nicht mehr raus?“
Der Schreck war mir wohl anzusehen, denn sie lächelte und sagte: „Nein, nein. Sie befinden sich momentan im Aufnahme-Status. Später dürfen Sie natürlich auch das Gelände verlassen. Wenn Sie eine Belastungserprobung beantragen, können Sie sogar bis zu sieben Tage außerhalb der Klinik verbringen.“ „Das heißt, dann darf ich auch abends raus, so lange ich will?“ „Nein, die Schließzeiten bleiben gültig.“
Diese Unterhaltung ist ein gutes Beispiel für die Konfrontation mit den eigenen Klischees. Manche waren völliger Quatsch, zum Beispiel die viel besungene Zwangsjacke. Andere Ressentiments bestätigten sich, allerdings hatte jedes einzelne einen absolut nachvollziehbaren Grund. Die Schließzeiten zum Beispiel sollen den Patienten oder die Patientin dazu anhalten, einen geregelten Schlaf-Rhythmus zu finden, etwas, das bei so gut wie allen psychischen Erkrankungen kaum mehr möglich ist.
Ich schlief in meiner Zeit vor der Klinik so gut wie gar nicht. Ein bis zwei Stunden pro Nacht, mehr war einfach nicht drin. Die Kombination aus der Ruhe der Umgebung, der täglichen Therapie und auch der Gewissheit, das ich ab 22 Uhr nichts mehr verpassen würde, half, das Problem sehr schnell in den Griff zu bekommen.
Die Mitpatienten sind so wichtig wie die Therapie
Viel unsicherer als die Regeln der Institution jedoch machte mich der Gedanke an die Mitpatienten. Das lag zum einen an den Vorurteilen, die sich in mein Unterbewusstsein geschlichen hatten, und zum anderen an der häufig mit Depressionen verbundenen sozialen Angst, die ich im Laufe meiner Erkrankung immer weiter unbewusst kultiviert hatte.
An meinem ersten Tag schlich ich, verschreckt von den vielen neuen Eindrücken, einen Gang vor meinem Zimmer auf und ab und bemerkte einen Gruppenraum, in dem eine völlig durchmischte Ansammlung von Menschen vor einem alten Fernseher saß und den Zapfenstreich zu Ehren der heutigen Altkanzlerin Merkel schaute. Der Tisch war voll mit Süßkram, das Licht gedimmt, es hatte etwas von einem Familienabend auf der Couch. Nachdem ich zum dritten Mal unschlüssig vor dem Raum hin- und hergelaufen war, winkte mich ein Mann herein. Ich dachte, ich wäre niemandem aufgefallen.
Nach ungefähr einer Stunde hatte ich mich einigermaßen akklimatisiert. Was nun folgte, war die wichtigste Lektion, die ich für die folgenden dreieinhalb Monate bekommen sollte. In einer Depressionsklinik darf gelacht werden. Laut. Viel. Herzhaft. Es darf natürlich auch geweint werden. Aber eben auch gelacht.
Und noch etwas wurde schnell klar. Die anderen Patientinnen und Patienten sind ungefähr so wichtig wie die Therapien und die Umgebung. In einer meiner ersten Gruppentherapien sagte ich, dass ich Minderwertigkeitskomplexe hätte, alle anderen seien schließlich so viel älter, würden bereits seit Jahrzehnten mit der gleichen Krankheit kämpfen, und ich käme mit meinen 18 Jahren bereits herein wie das Leiden Christi.
Schnell wurde jedoch klar, dass an diesem Ort wie an kaum einem anderen das Alter, die Herkunft und das wie auch immer geartete Vermögen keine Rolle spielten. Ich tröstete Männer, die mindestens dreimal so alt waren wie ich. Frauen, die dem Alter nach meine Mutter hätten sein können, sagten mir, das sie meine Erfahrungen teilen. Man verstand einander auf Anhieb. Die Isolation, das Nichtverstehen, dem sich der an Depressionen Erkrankte im Alltag häufig gegenübersieht, konnte an diesem Ort nicht existieren. Da jedem, den man begegnet, klar ist, dass es einem prinzipiell nicht so gut geht, bedarf es nicht vieler Worte, man schaut einander an, erkennt sich.
Ich habe in der Klinik keine Leidensgenossen gefunden, sondern Freunde. Ich habe Bekanntschaften geschlossen. Manche sind schon kurze Zeit nach der Entlassung wieder im Sande verlaufen, manche pflege ich noch heute.
Ich fürchtete mich vor der Hilfe. Tut das nicht!
Doch warum erzähle ich das alles? Weil diese Welt eine ist, die vor der Öffentlichkeit verborgen ist. Weil sie es sein soll. Ich erzähle es auch, weil sich um das Unbekannte die meisten Missverständnisse ranken, um das Unverständliche die meisten Vorurteile. Derjenige, der der Hilfe bedarf, darf sich nicht aufhalten lassen, auch wenn es noch so viel Angst macht, denn der Schritt in eine Klinik war einer der schwersten, die ich jemals gemacht habe.
Ein Telefonat mit einem langjährigen Freund hallt noch immer nach. Auf die Frage, wo ich stecke, erklärte ich, das ich den vergangenen Monat in einer Klinik verbracht hätte. Er wisse ja, mir gehe es manchmal nicht so gut, ich wolle mich erholen. Nach ein paar weiteren Sätzen verabschiedete er sich mit den Worten: „Dann noch einen schönen Urlaub.“
Zuerst war ich wütend, dann schlugen meine Gefühle in Freude um. Nicht jeder kann und muss verstehen, was das Anstrengende, das Aufreibende an so einem Aufenthalt ist. Eines ist jedoch Fakt: In eine psychosomatische Klinik zu gehen, bedeutet, sich selbst einzugestehen, dass man sein Leben nicht mehr alleine im Griff hat. Dass die Momente, in denen man vor der Krankheit wortwörtlich in die Knie geht, überwiegen.
Dieses Eingeständnis ist für jeden Erwachsenen und Erwachsenwerdenden eine bittere Pille. Doch wenn man diesen Punkt erreicht, an dem man den eigenen Abwasch nicht mehr schafft, an dem man nicht mehr aus dem Bett steigen kann oder nur noch, um sich zu betrinken, ist der Aufenthalt in einer Klinik das Einzige, was noch Besserung verspricht. Denn Depression ist kein Hirngespinst.
Die Krankheit Depression betrifft circa 5,3 Millionen Menschen im Jahr in Deutschland und kostet sie mehr Kraft, als sich das Menschen, die nie betroffen waren, vorstellen können. Ich fürchtete mich vor der Hilfe. Ich fürchtete mich vor dem Leben. Ich kann jeden, dem es ähnlich geht, nur bitten: Tu das nicht.
Ich weiß nicht, ob ich lieber in Amerika gewesen wäre. Schon in meinem vorherigen Text habe ich beschrieben, dass ich mir ungefähr vorstellen kann, wie meine Geschichte ausgegangen wäre: unter dem Tresen oder vor einem Zug. Mein Aufenthalt in der Klinik hat mir wohl das Leben gerettet. Dass ich auf dieses Risiko gern verzichtet hätte, steht außer Frage. Aber ich war krank. Die WG in Prenzlauer Berg rennt mir nicht weg.
Marlon Mommert lebt in Köpenick. Für die Behandlung seiner Erkrankung hat er sein Abitur unterbrochen. Unter dem Künstlernamen Hutmacher macht er nebenbei Musik.
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