Der Präsident der Bundesärztekammer hat angesichts der Arzneimittelknappheit Flohmärkte für Medikamente vorgeschlagen. Es helfe jetzt nur Solidarität, sagte Klaus Reinhardt. Das ist leichter gesagt als getan. Als Apotheker in einer der größten Apotheken Berlins bekomme ich die Mangelsituation tagtäglich zu spüren. Die Lage ist so dramatisch wie nie zuvor. Bei diesen Wirkstoffgruppen gibt es Lieferengpässe oder Lieferdefekte, das heißt: Präparate sind derzeit nicht erhältlich.
Betroffen sind Fieber- und Schmerzmittel für Kinder in jeder Form: Säfte, die Paracetamol oder Ibuprofen enthalten; außerdem Zäpfchen, Antibiotika-Säfte, aber auch generell für Kinder Antibiotika wie Cotrimoxazol, Sultamicillin, Cephalexin, Penicillin, Amoxicillin und Amoxicillin mit Clavulansäure.
Auch für Erwachsene werden Erkältungsmittel knapp wie Hustenstiller mit Codein, Schleimlöser mit N-Acetylcystein, Ambroxol, Nasensprays, Halsschmerztabletten wie Dolo Dobendan.
Kritisch ist die Lage bei Herz- und Blutdruck-Präparaten, also Bisoprolol und Candesartan sowie Cholesterinsenker mit Rosuvastatin.
Diabetes-Medikamente wie Ozempic fehlen. Der Mangel wurde ausgelöst durch einen Social-Media-Hype. Dort wird verbreitet, dass man mit diesem Präparat abnehmen kann. Es wird vielfach missbraucht, ohne dass Diabetes vorliegt. Teilweise legen Kunden Rezepte für unterschiedliche Dosierungen gleichzeitig vor, was auf diesen Missbrauch hindeutet.
Mangel herrscht auch an Magen-Darm-Medikamenten wie Pantoprazol, Butylscopolamin, aber auch an simplen Elektrolyt-Mischungen.

Warum entsteht diese dramatische Situation?
Apotheken müssen auf alternative Wirkstoffe ausweichen. Es kommt zu einem Dominoeffekt. Fällt ein Hersteller oder ein Wirkstoff aus, entsteht beim nächsten Hersteller, beim nächsten Wirkstoff zusätzliche Nachfrage. Entspannung ist kaum in Sicht.
Arzneimittel-Engpässe gibt es immer wieder. Früher wurden diese durch Qualitätsmängel bei einzelnen Rohstoffen ausgelöst. So gab es vor einigen Jahren einen Skandal um Valsartan: Die Herstellung wurde damals verändert, es entstanden wahrscheinlich krebserregende Nebenprodukte. Bei Heparin kam es zu Problemen. Es handelt sich um ein Naturprodukt, auf dessen Herstellung sich die Schweinepest negativ auswirkte.
Das Grundproblem bleiben die Lieferketten, von denen wir uns abhängig machen, um Kosten zu sparen. Heutzutage sind wir weitestgehend abhängig von der Produktion der Arzneistoffe in China und Indien. Man könnte von einem globalen Monopol dieser Länder sprechen. Dieses System ist jedoch kollabiert, unter anderem wegen der Corona-Pandemie und des Ukraine-Kriegs. Indien zum Beispiel verhängte zu Beginn der Pandemie ein Exportverbot für viele Arzneistoffe wie Paracetamol.
China legte seine Produktionsstätten lahm, verhängte Stromsperren. Grund war eine strenge Zero-Covid-Politik. Zusätzlich stockte die Ausfuhr, weil Häfen stillgelegt wurden. Wie fragil diese Lieferketten sind, zeigte sich, als das Containerschiff „Ever Given“ im Suezkanal havarierte und die Wasserstraße lange Zeit blockierte. Den Patienten, den Apotheken-Kunden in Deutschland mag das nicht auffallen, denn die Ware wird meistens hierzulande verpackt. Nur weil eine deutsche Adresse auf dem Umkarton steht, heißt das bei weitem noch nicht, dass das Produkt in Deutschland oder vielleicht noch in Europa hergestellt wurde.
So mag das Drama für viele überraschend kommen: Nirgends ist mehr ein Warenfluss spürbar. Obendrein ist der Pharmamarkt hoch optimiert. Es wird nur so viel produziert, wie man vorher glaubte absetzen zu können. Das macht das System anfällig für nicht planbare Situationen. Etwa den Ausfall eines Herstellers.
Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. Denn es ist nicht so, dass es für jedes Produkt eine eigene Maschine gibt. Ein Maschinensystem stellt mehrere Produkte in einem fest getakteten System her. Ist die Produktion eines Wirkstoffs beendet, werden die Maschinen gereinigt, eine Kreuzverunreinigung ausgeschlossen. Dann wird der nächste Wirkstoff hergestellt. Möchte ein Hersteller plötzlich mehr von einem Wirkstoff herstellen, muss er ganze Produktionslinien umplanen.
Apotheker: System wird durch immensen Kostendruck getrieben
Getrieben wird das System durch den immensen Kostendruck im deutschen Gesundheitssystem. So handeln die Krankenkassen mit den Herstellern nachträgliche Rabattvereinbarungen aus. Hierdurch wird viel Geld gespart, doch leider zu selten auf Qualität geschaut. Billig ist nicht immer gut. Natürlich haben die Lieferverträge mit China oder Indien auch einen Vorteil, denn diese Verträge beinhalten Strafen, wenn es zu Unregelmäßigkeiten kommt. Ob solche Vertragsstrafen aber jemals umgesetzt wurden, ist ein großes Geheimnis.
Der Kostendruck zeigt sich deutlich bei Medikamenten für Kinder, womit auch kindgerechte Darreichungsformen gemeint sind. Denn vor allem für die aktuell am schwersten betroffenen Kinderarzneimittel wird zu wenig bezahlt. Kinder können und wollen bis zu einem gewissen Alter keine Tabletten schlucken, die für den Massenmarkt am schnellsten und einfachsten hergestellt werden können. An dem Preis für Tabletten orientiert sich leider aber unser System, es orientiert sich an Festbeträgen. Es nimmt die billigste Darreichungsform, hieran müssen sich alle übrigen Präparate messen lassen. Dass ein Saft nicht nur eine aufgelöste Tablette ist, sondern viel Know-how rund um Rezeptur und Herstellung erfordert, geht dabei unter.
Paracetamol ist zum Beispiel ein sehr bitter schmeckender Arzneistoff. Diesen unangenehmen Geschmack zu übertünchen, ist schwierig. Oder die vielen Antibiotika-Säfte: Auch hier sind es nicht nur zermahlene Tabletten, die einfach mit Wasser aufgegossen werden. Amoxicillin etwa hat einen sehr unangenehmen Geruch. Damit dieser nicht wahrgenommen wird und Kinder trotzdem das wichtige Antibiotikum nehmen, müssen gute Zusatzstoffe vermengt werden.

Zudem dürfen die Pulver über die Lagerungszeit nicht klumpen oder verkleben. Sie müssen leicht bleiben und sich schnell im Wasser verteilen. Auch dies erfordert mehr Hilfsstoffe. Und kostet mehr Geld, zumal die Glasflaschen mehr Volumen einnehmen und auch schwerer sind, was eben erhöhte Transportkosten nach sich zieht.
Erschwerend kommt hinzu, dass unsere sogenannten Festbetragspreise sich an einem Stand von vor mehr als zehn Jahren orientieren. Die allgemeine Inflation wird durch dieses System ausgeblendet. Mit welchem Recht eigentlich? Preiskontrolle schön und gut, aber sollten uns ethisch und ökologisch sauber hergestellte Medikamente nicht etwas mehr wert sein? Sollten wir nicht auch etwas unabhängiger werden und ein echtes globales Netz an vielen unabhängigen Produktionsstätten in verschiedenen Ländern haben? Ein robustes und mehrfach abgesichertes Netz?
Einige Hersteller haben ihre Preise aufgrund der Energiekrise über den Festbetrag angehoben, sodass für sonst zuzahlungsbefreite Kinderarzneimittel nun Mehrkosten anfallen. Eltern sind irritiert und verärgert darüber – aber noch glücklich, dass sie überhaupt das dringend benötigte Antibiotikum für ihr Kind bekommen. Aktuell erhalten die Apotheken dann auch wieder von vielen Seiten mehr oder weniger gut gemeinte Ratschläge. Denn zunächst wird daran erinnert, dass wir ja einen Vorrat anlegen sollen. Zu solcher Vorratshaltung sind wir schon von Gesetzes wegen nach Paragraf 15 der Apotheken-Betriebsordnung verpflichtet. Wie aber sollen wir diesen Vorrat aufrechterhalten, wenn es keine Ware mehr gibt?
Festzuhalten bleibt: Das gesamte Personal der Apotheke arbeitet aktuell mit Hochdruck an Lösungen, damit sie Patienten und Patientinnen noch versorgen können. Es überlegt sich gemeinsam mit Ärzten und Ärztinnen Alternativen. Wir Apotheker telefonieren pausenlos, bauen neue Verbindungen auf, holen Informationen ein. Und nebenbei müssen wir einen reibungslosen Betrieb gewährleisten. Alles muss fein säuberlich dokumentiert werden. Nirgends gibt es Entlastung von der Bürokratie.
Weiterhin müssen wir über ein Jahr bangen und zittern, dass uns unsere Lösungen nicht noch wegretaxiert werden – also die Krankenkassen sich weigern, Zuschläge oder Erstattungen zu zahlen – und wir auf den Kosten sitzen bleiben. Eine Retaxation, bei den Praxen als Regress bekannt, ist eine Beanstandung der Versorgung von Patienten aufgrund möglicher Fehler. Die Krankenkassen finden Fehler, damit sie kein Geld für erbrachte Leistung zahlen müssen.
Die Probleme wegen gravierender Lieferengpässe sind hausgemacht. Um sie zu lösen, bedarf es eines langen Atems und eines kontinuierlichen politischen Willens.
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