Sie sind traurig, manche sogar entsetzt. Verärgert sind sie alle, die jetzt einen Brief an Karl Lauterbach (SPD) unterschrieben haben. Mehr als 2000 Pflegekräfte des landeseigenen Berliner Klinik-Konzerns Vivantes appellieren darin an den Bundesgesundheitsminister, sie beim Pflegebonus 2022 nicht zu übergehen. Den sollen nämlich nur bestimmte Mitarbeiter von Krankenhäusern und Einrichtungen der Altenpflege erhalten. „Wir möchten gerne wissen, nach welchen Kriterien Karl Lauterbach entschieden hat, den Pflegebonus zu verteilen“, sagt Ümmiye Gül. Sie hat den Brief mit initiiert. Ümmiye Gül arbeitet auf einer psychiatrischen Station im Krankenhaus Neukölln.
Eine Milliarde Euro gibt der Minister aus als eine Art Dankeschön für den Einsatz während der zurückliegenden Monate der Corona-Pandemie. 500 Millionen gehen an Personal in Krankenhäusern bundesweit. Die gleiche Summe wird an Mitarbeiter in der Altenpflege ausgezahlt, verteilt nach einem ähnlichen Schlüssel wie unlängst beim sogenannten Corona-Bonus. Das Bundesgesundheitsministerium berücksichtigt „Krankenhäuser, in denen im Ganzjahreszeitraum 2021 mehr als zehn infizierte Patientinnen und Patienten behandelt wurden, die mehr als 48 Stunden beatmet wurden“. In Berlin sind das 23 Kliniken, darunter die großen kommunalen Träger Vivantes und Charité; aufgelistet hat sie das Institut für das Endgeldsystem im Krankenhaus (InEK).
Bedacht werden lediglich Pflegekräfte und Intensivfachkräfte, wenn sie 2021 mindestens 185 Tage auf einer bettenführenden Station nah an Patienten gearbeitet haben. Andere Beschäftigte gehen leer aus, selbst wenn auch sie einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt gewesen sein mögen: zum Beispiel in Rettungsstellen, in einem OP oder in der Psychiatrie, als Reinigungskraft in einer Covid-Abteilung oder als Pflegeassistentin auf einer Intensivstation. Allein die große Resonanz bei Vivantes, sagt Ümmiye Gül, zeige die Tragweite von Lauterbachs Entscheidung. „Ich kann nicht begreifen, wie man so etwas Demotivierendes machen kann – bei dem Personalmangel, der sowieso herrscht, bei der Infektionswelle im Moment und den Erkrankungen in der Belegschaft.“
Schon die Pandemie hat den Krankenstand erhöht. In Güls Abteilung etwa leiden zwei Kollegen nach wie vor an den Folgen einer Infektion mit Sars-Cov-2, an Long Covid. „Sie haben sich wahrscheinlich auf der Station angesteckt“, sagt die Pflegekraft. Eine Anerkennung für ihren Einsatz bekommen sie nicht. Dabei liege es auf der Hand, sagt Ümmiye Gül, dass das Ansteckungsrisiko im Umgang mit psychisch kranken Menschen hoch sei, da sich nicht alle an Maskenpflicht und Hygienerichtlinien hielten.
Pflegekraft: „Kollegen fragen sich, warum sie noch zur Arbeit gehen“
Wiederholt mussten psychiatrische Stationen vorübergehend geschlossen werden, weil sich dort das Coronavirus ausgebreitet hatte und verhindert werden musste, dass es auf andere Bereiche übergriff. „Trotzdem hatten wir nie einen Aufnahmestopp“, sagt Gül. „Wir haben unseren Versorgungsauftrag erfüllt. Wenn es bei einer Station nicht ging, weil es dort Covid-Fälle gab, hat eine andere Station die neuen Patienten übernommen.“
Eine Spaltung der Belegschaft in diejenigen, die einen Bonus erhalten, und die übrigen Mitarbeiter kann sie bislang nicht erkennen. Obwohl teilweise die absurde Situation entsteht, dass in einer Abteilung beide Seite an Seite arbeiten: etwa auf einer Intensivstation eine Pflegefachkraft zusammen mit einer Pflegeassistentin. Ein fatales Signal, findet Ümmiye Gül: „Denn man hört von Kollegen, dass sie sich fragen, warum sie überhaupt noch zur Arbeit kommen sollen. Sie finden es ungerecht, dass andere Kollegen in diesem Monat 3000 Euro mehr haben als sie selbst.“
Pro Person soll der Bonus bis zu 2500 Euro betragen. Minister Lauterbach hat außerdem Arbeitgeber und Bundesländer dazu anagehalten, die Einmalzahlung aus den eigenen Etats zu erhöhen. Demnach sollen Boni bis zu 4500 Euro in diesem Jahr frei von Steuern und Sozialabgaben bleiben. Angesichts finanzieller Belastungen durch Corona, Energiekrise und Inflation stieß dieser Appell bisher offenbar auf wenig Gegenliebe bei den Krankenhäusern hierzulande.
Selbst wenn sie aufstocken sollten, bliebe es dabei, dass das durch die Pandemie extrem strapazierte Klinikpersonal nach zweierlei Maß gemessen würde. Es bliebe die Gefahr, dass sich die anhaltende Personalflucht weiter verstärkt und der Personalmangel verschärft. Vermutlich auch deshalb können sich die mehr als 2000 Vivantes-Beschäftigten, die das Schreiben an Karl Lauterbach unterstützen, des Wohlwollens ihres Managements gewiss sein. „Die Geschäftsführung steht hinter uns, der Chefarzt und die Pflegedirektion ebenfalls“, sagt Gül.



