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Magdeburg und die Frage, ob unser Rechtsstaat seiner zentralen Aufgabe noch gerecht wird

Der Anschlag von Magdeburg ist auch Zeugnis staatlicher Überforderung. Ein Appell zur Rückbesinnung auf das, was im Inneren unserer Gesellschaft wirklich zählt.

Überreste eines Polizeiabsperrbandes am Zugang zum Weihnachtsmarkt in Magdeburg. Vier Tage vor Heiligabend war hier ein Mann mit einem Auto in die Besucher gerast. Es gab fünf Tote und mehr als 200 Verletze.
Überreste eines Polizeiabsperrbandes am Zugang zum Weihnachtsmarkt in Magdeburg. Vier Tage vor Heiligabend war hier ein Mann mit einem Auto in die Besucher gerast. Es gab fünf Tote und mehr als 200 Verletze.Rebsch/dpa

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Unsere Gesellschaft ist leider erneut Opfer eines grausamen Anschlags geworden, der uns alle erschüttert zurücklässt. Das Entsetzen ist umso größer, da der Täter in kein bekanntes Schema zu passen scheint und sich keinem Muster zuordnen lässt. Je nach Lesart oder politischer Agenda wird er als „Rechter“ beschrieben, der mit der AfD sympathisierte, auf X Geert Wilders bewunderte und sich als radikaler Zionist inszenierte.

Andere wiederum sehen in ihm trotz seines offensichtlichen Hasses auf den Islam einen verkappten Islamisten, der sich angeblich der „Taqiya“ bediente – einer vermeintlich religiös legitimierten Verschleierung seiner „wahren“ Gesinnung.

Schließlich halten viele die Wahnsinnstat von Magdeburg für die Tat eines tatsächlich Wahnsinnigen – die zunehmend wirren Beiträge des Täters in den sozialen Medien lassen die Vermutung einer wahnhaften Entwicklung durchaus plausibel erscheinen.

Restrisiko bei fast jeder medizinischen Entscheidung

In den Medien wird seitdem – wie auch nach ähnlichen Anschlägen in der Vergangenheit – betont, dass es keine restlose und endgültige Sicherheit geben kann und dass solche Taten, die keinem bisher bekannten „Terrorschema“ entsprechen, kaum zu verhindern sind. Aus meinem Berufsalltag als Internist ist mir das Problem der fehlenden endgültigen Sicherheit sehr gut bekannt – das Damoklesschwert Restrisiko schwebt über (fast) jeder medizinischen Entscheidung.

Die Konsequenz daraus darf aber nicht sein, eine fatalistische Haltung einzunehmen, gemäß dem Motto: „Es wird schon nichts passieren.“ Im Gegenteil: Gerade angesichts möglicher nicht vorhersehbarer Risiken gilt es, gründliche Vorkehrungen zu treffen, um eben diese Restrisiken zum Wohle des Patienten möglichst zu minimieren. Übertragen auf unsere gesamtgesellschaftliche Realität stellt sich daher die Frage: Wird unser Rechtsstaat seiner zentralen Aufgabe gerecht und tut er alles, um das Restrisiko solcher nicht nach Schema F vorhersehbaren Wahnsinnstaten zu minimieren?

Um noch einmal die Brücke zur Medizin zu schlagen: Unsere Gesellschaft verändert sich in vielerlei Hinsicht, das ist auch im medizinischen Berufsalltag tagtäglich spürbar. Syrische Geflüchtete mit Spuren grausamer Folter durch das Assad-Regime sind in deutschen Notaufnahmen ebenso anzutreffen wie syrische Baathisten, die vor den Gräueltaten des IS geflohen sind. Möglicherweise werden beide von einem Arzt mit syrischen Wurzeln behandelt, der im besten Fall durch seine Arbeit sachlich und empathisch die Errungenschaften unseres modernen Sozial- und Rechtsstaates repräsentiert. Im ungünstigeren Fall treffen Geflüchtete aus Westasien oder der Ukraine ohne Sprachkenntnisse auf unterfinanzierte und zunehmend marode öffentliche Strukturen mit überlastetem Personal.

Diese Bilder mögen überspitzt gezeichnet sein; die beschriebenen „Migrationshintergründe“ sind fast beliebig austauschbar. Sie spiegeln aber die Herausforderungen unserer heutigen Realität wider. Eine der Kehrseiten dieser „Komplexitätsmedaille“ ist leider die nur schwer zu begreifende Tat von Magdeburg. Wie gehen wir als Gesellschaft mit dieser neuen Komplexität um?

Plüschtiere, Kerzen und Blumen finden sich am zentralen Gedenkort für die Opfer des Anschlags vor der Johanniskirche in Magdeburg.
Plüschtiere, Kerzen und Blumen finden sich am zentralen Gedenkort für die Opfer des Anschlags vor der Johanniskirche in Magdeburg.Rebsch/dpa

Wir zeigen eine widersprüchliche Haltung

Nach solchen Anschlägen und Angriffen auf unser Land heißt es oft zu Recht, dass „importierte Konflikte“ nicht auf deutschem Boden ausgetragen werden dürfen. Das ist ein berechtigtes, ja sogar imperatives Argument, das leider nie zu Ende gedacht wird: Tut der Staat denn alles in seiner Macht Stehende, um solche Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen? Setzt sich der deutsche Staat mit aller Kraft dafür ein, globale Konflikte zumindest einzudämmen, wenn er sie schon nicht verhindern kann?

Leider zeigt unser Staat, zeigen wir hier eine widersprüchliche Haltung: Einerseits schwingt sich Deutschland zur Speerspitze einer weltweiten Militarisierung auf, die Hunderttausende Opfer produziert – Opfer, die in letzter Konsequenz als Geflüchtete wieder bei uns landen.

Auf der anderen Seite vernachlässigt unser Staat auch noch die probaten Mittel, um sich im Inneren vor den globalen Auswirkungen dieser grenzenlosen Militarisierung zu schützen. Wenn wir als Gesellschaft die Tatsache hinnehmen, dass der Etat für das, was gemeinhin euphemistisch als „Verteidigung“ bezeichnet wird, um mehr als das Zehnfache höher liegt als die Ausgaben für die Bundespolizei, dann brauchen wir uns alle über den totalen staatlichen Kontrollverlust (wie Moritz Eichhorn es in seinem Artikel in der Berliner Zeitung vom 21. Dezember 2024 treffend beschrieb) nicht wundern.

Warum ist der Etat für die „Verteidigung“ um ein Vielfaches höher als der für die Bundespolizei?
Warum ist der Etat für die „Verteidigung“ um ein Vielfaches höher als der für die Bundespolizei?Kaiser/dpa

Nur die Spitze des Eisbergs

Die Wahnsinnstat von Magdeburg war leider nur eine der Spitzen dieses Eisberges namens staatlicher Kontrollverlust, der sich nicht nur im Totalversagen der Sicherheitsbehörden manifestiert. Dieser umfassende Kontrollverlust zeigt sich auch in maroden, einstürzenden Brücken, verrottenden Schulgebäuden oder chronisch überlasteten Behörden mit unzumutbaren Wartezeiten.

Um hier noch ein letztes Mal ein Bild aus Medizin zu bemühen: Jeder Patient mit einem Herzinfarkt erwartet von einem anständigen Arzt, dass er sich sachlich, vernünftig und einfühlsam dem drängenden Problem im Inneren des Patienten widmet und sich in der Akutsituation nicht wie ein Getriebener im Äußeren verliert.

Lassen Sie uns alle gemeinsam dafür Sorge tragen, dass unser Staat seinen Blick wieder vorrangig nach innen richtet und sich um das kümmert, was seine originären Aufgaben sind: innere Sicherheit, Daseinsvorsorge und gesellschaftlicher Frieden. Unfrieden und die Vernachlässigung seiner Bürger gehören ganz sicher nicht zu seinen Aufgaben in dieser immer komplexer werdenden Realität.

Faraz Ahmad ist gebürtiger Berliner. Nach verschiedenen Station im In- und Ausland arbeitet er derzeit als Internist und Notarzt in einer kleinen Klinik im Süden von Baden-Württemberg. Ein Freund von ihm ist Chirurg am Uniklinikum Magdeburg, versorgte nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt zahlreiche Schwerverletzte.

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