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Gehörlose Kinder und auch deren Eltern sehen sich nach wie vor mit massiven Barrieren im gesellschaftlichen und schulischen Umfeld konfrontiert. Organisationen und Vereine fordern die Politik daher zum Handeln auf und zeigen, wo die größten Herausforderungen für Betroffene liegen.
Schätzungen zufolge leben in Deutschland etwa 80.000 Kinder mit stark eingeschränktem Gehör. Bis zu 50.000 Kinder und Jugendliche sind auf Gebärdensprache angewiesen.
Wird ein taubes Kind in eine Familie von hörenden Eltern geboren, so bedeutet dies für alle Beteiligten meist einen tiefgreifenden Schock. Nicht nur die Kinder selbst, sondern auch die Eltern, die vielleicht erwarteten, dass ihr Kind die Welt ähnlich wahrnehmen würde wie sie selbst, sehen sich plötzlich mit einer Vielzahl großer Herausforderungen konfrontiert.
„Es gibt derzeit keine unabhängige Beratungsstelle. Oft erfolgt die Beratung der Eltern auch lediglich zum Lautspracherwerb und zur technischen Unterstützung durch Hörgeräte oder Implantate. Beratung zu Gebärdensprache und Gehörlosenkultur ist institutionell nicht vorhanden“, erklärt Ann-Cathrin Wehmeier vom Bundeselternverband gehörloser Kinder.
Dadurch würden viele Eltern bloß darauf vertrauen, dass die technische Unterstützung ihr Kind zum Hören und Sprechen bringt und so das gebärdensprachliche Angebot für ihr Kind vernachlässigen. „Dies führt zu einer Verzögerung der Sprachentwicklung, die in der Pubertät zu Identitätskrisen führen kann“, sagt Wehmeier. Anträge für einen Hausgebärdensprachkurs für das Kind beim Sozialamt zu stellen oder einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung für die Eltern beim Jugendamt abzugeben, entpuppe sich häufig als Mammutaufgabe.

Eltern mit Herausforderungen alleingelassen
„Oft wissen die Ämter gar nicht, dass sie zuständig sind. Und wenn sie es doch wissen, dann leiten sie den Antrag einfach an eine andere Stelle weiter, obwohl sie wissen, dass sie zuständig sind. Das hilft weder den Eltern noch dem Kind“, klagt Wehmeier. Die sprachsensible Phase des Kindes (bis zum vierten Lebensjahr) würde so oft verkürzt werden, sodass das Kind hinsichtlich Spracherwerb die denkbar schlechtesten Voraussetzungen hat. Das betrifft Lautsprache mit Hilfsmitteln und Gebärdensprache gleichermaßen.
„Ungefähr 90 Prozent der hörbehinderten Kinder haben hörende Eltern. Durch unzureichende Information und Austausch mit Betroffenen kommt es bei diesen Kindern erwiesenermaßen oft zu Sprachentzug mit psychischen und physischen Folgen für das Kind“, so Wehmeier. Ein verpflichtendes neutrales Beratungsangebot für Eltern ab dem Zeitpunkt der Diagnose sei daher laut Berufselternverband gehörloser Kinder längst überfällig.
„Taube Kinder werden in unserer Gesellschaft stark benachteiligt und sehen sich auch heute immer noch erheblichen Barrieren im Bildungssystem gegenüber“, sagt Robert Jasko, Referent für Jugendpolitik und Partizipation beim Verein Deutsche Gehörlosen-Jugend. Jasko ist selbst gehörlos und setzt sich mit der Thematik tagtäglich auseinander.
„Das Lehrpersonal verfügt selbst auf Förderschulen nur selten über ausreichende Kenntnisse in der Deutschen Gebärdensprache. Sogar in Regelschulen, die als inklusiv gelten, also darauf abzielen, taube und hörende Kinder gemeinsam zu unterrichten, stoßen taube Kinder auf zahlreiche Herausforderungen“, so der Referent. Zwar würde der Unterricht häufig durch Dolmetscher begleitet, jedoch sind taube Kinder oft die einzigen in ihrer Klasse, die die Welt visuell statt auditiv wahrnehmen. „Dadurch erleben sie den Unterricht anders und sind stark von der Qualität des Dolmetschens abhängig“, so Jasko. Ein Problem, da hierfür aktuell keine offiziellen Qualitätskriterien gelten.

Die Vorstellung, dass ein Kind in einer liebevollen Familie aufwachsen kann und sich dennoch tief einsam fühlt, ist zwar erschütternd, bedeutet für viele taube Kinder aber die Realität. Gehörlose Kinder seien laut Jasko häufig stärker von Depressionen und sozialer Isolation betroffen, obwohl die Ursachen dafür nicht in der Taubheit selbst liegen, sondern in der Art und Weise, wie die Gesellschaft mit der Taubheit umgeht. „Stellen Sie sich vor, Sie sind Teil einer Familie, können aber nicht an den Gesprächen teilnehmen. Ihre Eltern sprechen miteinander, lachen und Sie sehen nur die sich bewegenden Lippen. Für viele taube Kinder ist dies ein ständiges Erlebnis“, sagt Jasko.
Die meisten hörenden Eltern beherrschen keine Gebärdensprache und viele entscheiden sich auch nicht dafür, sie zu lernen, weil ihnen die Tragweite dieser Entscheidung nicht bewusst ist. „Ohne Gebärdensprache bleibt dem tauben Kind aber der Zugang zur Welt seiner Familie verschlossen. Dieser Ausschluss und das Gefühl, nicht verstanden zu werden, führen schließlich oft zu tiefer Einsamkeit und Isolation“, so der Referent.
Gebärdensprache als Schlüssel
Der Schlüssel zur Verhinderung von sozialer Isolation und Depression bei tauben Kindern liegt vordergründig im Zugang zur Gebärdensprache – von Geburt an und ohne Einschränkungen. „Die Gebärdensprache gibt tauben Kindern die Möglichkeit, sich auszudrücken, verstanden zu werden und sich als gleichwertigen Teil ihrer Familie und ihrer Gemeinschaft zu fühlen“, sagt Jasko.
Eltern, die die Gebärdensprache erlernen, schaffen somit eine echte Verbindung zu ihrem Kind. Sie überbrücken den unsichtbaren Riss, der durch den Hörverlust entstehen kann, und schaffen so eine Welt, in der das Kind vollständig teilhaben kann. „Auch die Vernetzung innerhalb der tauben Community, die durch digitale Plattformen und soziale Medien gefördert werden kann, ist ein weiterer wichtiger Ansatz, um die Isolation zu durchbrechen und den Kindern das Gefühl zu geben, Teil einer großen, unterstützenden Gemeinschaft zu sein“, erklärt Jasko.



