Open Source

Warum das mit der Wiedereinsetzung der Wehrpflicht letztlich keine gute Idee ist

Bevor das Budget für die Bundeswehr weiter wächst oder Dienstverpflichtungen beschlossen werden, sollte man erst mal fundamentale Fragen klären.

Die Flugabwehrraketengruppe der Bundeswehr in Todendorf beim Besuch des Bundeskanzlers Olaf Scholz
Die Flugabwehrraketengruppe der Bundeswehr in Todendorf beim Besuch des Bundeskanzlers Olaf ScholzP. Nowack/imago

Dies ist ein Open-Source-Beitrag. Der Berliner Verlag gibt allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten.


Die Rufe nach einer massiven Aufstockung des Bundeswehrbudgets und einer Wiederbelebung der Wehrpflicht werden in Deutschland immer lauter. Ein „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro wurde schon beschlossen. Einige reden über eine Erhöhung des Wehretats auf drei Prozent der jährlichen Wertschöpfung in Deutschland, noch bevor entsprechende Forderungen aus den USA erhoben wurden. Und zahlreiche Meinungsumfragen und Erhebungen scheinen eine hohe Bereitschaft in weiten Kreisen der Bevölkerung für die Wiederbelebung des Wehrdiensts zu belegen.

Doch bevor der Verteidigungsetat weiter wächst oder weitreichende Dienstverpflichtungen für die Bürger beschlossen werden, sollten fundamentale Fragen geklärt werden: Wird das vorhandene Geld überhaupt effizient genutzt? Und in welchem Verhältnis stünden Kosten und Nutzen der Wiedereinführung der Wehrpflicht?

Boris Pistorius (SPD) beim Besuch des Cyber Innovation Hub der Bundeswehr
Boris Pistorius (SPD) beim Besuch des Cyber Innovation Hub der BundeswehrBernd Elmenthaler/imago

Eine bemerkenswerte Diskrepanz

Im jährlich erhobenen Global Firepower Index (globalfirepower.com) belegt Deutschland 2024 nur Rang 19, was seine militärische Schlagkraft angeht. Die Klagen über mangelnde Verteidigungsfähigkeit haben also ihre Berechtigung. Gleichzeitig steht Deutschland mit mehr als 60 Milliarden Euro an jährlichen Verteidigungsausgaben an siebter Stelle aller Staaten der Welt. Das ist eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen Ausgaben und militärischer Schlagkraft. Sie deutet auf Mängel bei der Mittelbeschaffung und ihrer Verwendung hin.

Der jüngst in den Medien diskutierte Kauf von „zeitgemäßer“ Dienst- und Ausgehbekleidung für 825 Millionen Euro kommt einem in den Sinn. Bei einer Truppenstärke von gut 180.000 Personen sind das immerhin gut 4500 Euro pro Person. Und auch Erinnerungen an Meldungen zur Anschaffung von neuen F35-Kampffliegern aus den USA werden wach. Medienberichten zufolge hat Deutschland mit 286 Millionen Euro etwa 119 Millionen Euro pro Flieger mehr bezahlt als die Schweiz. Das nährt Zweifel, ob ein zu kleines Wehrbudget der Hauptverursacher der geringen militärischen Schlagkraft ist.

Die Situation scheint in den meisten Ländern Europas ähnlich zu sein. Die Summe des Militärbudgets in Europa ist fast doppelt so hoch wie das Budget von Russland. Trotzdem fühlt sich Europa von Russland bedroht und für eine Konfrontation nicht gerüstet. Es liegt die Vermutung nahe, dass das nicht nur an Kaufkraftunterschieden der Länder liegt, sondern dass Gelder ineffizient verausgabt werden, Beschaffungsvorgänge nicht optimiert sind und die strategische Ausrichtung auf moderne hybride Bedrohungen hinterherhinkt.

Ja, vielleicht müssen am Ende die Mittel der Bundeswehr aufgestockt werden. Vor allem aber sollten Planung, Zielorientierung und Organisation der Beschaffung mit den vorhandenen Mitteln verbessert werden.

Europäisch gedacht, gibt es ebenfalls Effizienzreserven im Bereich der Verteidigungspolitik: Militärstrategische Analysen belegen, dass in Verteidigungsallianzen eine zentrale Führungsstruktur einer dezentralen Struktur überlegen ist. Wenn die Nationalstaaten innerhalb einer Allianz unabhängig entscheiden, treten nationale Egoismen auf den Plan. Das gilt zum Beispiel für die Fragen, welche Truppenteile in eine gefährliche, möglicherweise verlustreiche Mission geschickt oder an welchen Fronten mehr militärische Truppen und Material eingesetzt werden sollten.

Kampfflugzeuge vom Typ Tornado, zu sehen im Fliegerhorst in Büchel
Kampfflugzeuge vom Typ Tornado, zu sehen im Fliegerhorst in BüchelChristoph Hardt/imago

Europas Sicherheitslage hat sich dramatisch verändert

Zusammenarbeit und Koordination bei der Beschaffung von Rüstungsgütern und Waffensystemen ist ein zweites Thema. Statt einer fragmentierten Rüstungsbeschaffung mit 17 verschiedenen Panzertypen und einer Vielzahl von Waffensystemen könnte eine koordinierte Beschaffungspolitik in Europa Kosten senken und militärische Schlagkraft steigern. Und eine europäisch abgestimmte Industriepolitik könnte helfen, einzelstaatliche Egoismen bei der staatlichen Förderung der heimischen Rüstungsunternehmen zu überwinden und einen einheitlichen Wettbewerbsrahmen für Rüstungsunternehmen in Europa schaffen.

Konsequent wäre auch eine zentrale europäische Rüstungsexportkontrolle, die sich an klaren und stabilen Kriterien ausrichtet und so mehr Entscheidungskontinuität und Berechenbarkeit gewährleistet, statt die Exportgenehmigungen von den politischen Regierungskoalitionen und Konjunkturen in den Einzelstaaten abhängig zu machen. Das würde die internationale Wettbewerbsfähigkeit dieser Industrie stärken. Und das sollte auch die Kosten der Beschaffung für die europäischen Armeen senken.

Die politischen Rahmenbedingungen und Chancen für ein Zusammenrücken in Europa im Verteidigungsbereich waren in der Vergangenheit nicht gut. Aber Europas Sicherheitslage hat sich dramatisch verändert, besonders weil die USA ihre Prioritäten zunehmend nach Asien verlegen.

Wird die USA im Ernstfall Europa noch verteidigen? Das war stets eine wichtige Frage in der Geschichte der Nato. Diese Glaubwürdigkeitsproblematik verschärft sich, wenn Europa aus amerikanischer Sicht weniger wichtig wird. Unter diesem Druck der geostrategischen Veränderungen könnte sich ein politisches Fenster für eine echte europäische Verteidigungspolitik öffnen.

Panzerbrigade 12 der Bundeswehr beim Gefechtsschießen im Rahmen der Übung „Grand Quadriga 24“ in Litauen
Panzerbrigade 12 der Bundeswehr beim Gefechtsschießen im Rahmen der Übung „Grand Quadriga 24“ in LitauenMaurizio Gambarini/imago

USA hat den höchsten Firepower-Index

Die Forderung nach der Wiedereinsetzung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland ist heute sehr populär. Aber wie tragfähig sind die Argumente dafür?

Der Nobelpreisträger Milton Friedman war ein erklärter Gegner der Wehrpflicht in den USA. In einem Beitrag 1966 fasste er seine Argumente zusammen. Das wichtigste Argument ist ein Plädoyer für bürgerliche Freiheit des Einzelnen – für das freie Verfügungsrecht über die eigene Zeit, das Recht, sich frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort zu wählen, sowie auf freie persönliche und berufliche Entfaltung. Insofern sei es einer der größten Fortschritte der Menschheit, Frondienste und Zwangsarbeit abzuschaffen und den Staat stattdessen durch Geldsteuern zu finanzieren. Heute hat die USA ein Berufsheer und fährt damit anscheinend ganz gut. Ihr Firepower-Index ist jedenfalls der höchste der Welt.

Ein zentrales Argument pro Wehrpflicht in der Diskussion ist, dass Deutschland im Ernstfall nicht über eine ausreichende Soldatenreserve verfüge, um die in den frühen Phasen eines Kriegs Gefallenen zu ersetzen und so einen länger andauernden Konflikt zu überstehen. In den Schlachten der Vergangenheit hatte diese zynisch anmutende Logik sicher ihre Berechtigung. In einer Zeit, in der technologischer Fortschritt auf dem Schlachtfeld zunehmend Soldaten durch autonome oder ferngesteuerte Waffen ersetzt und überflüssig macht, wirkt das Argument überholt und wie ein Rückgriff in längst vergangene Zeiten.

Wehrdienst schwächt das Vertrauen in staatliche Institutionen

Die Kosten einer Wehrpflichtigenarmee sind immens. Der geringe und eher symbolische Sold, der Wehrpflichtigen gezahlt wird, kann darüber nicht hinwegtäuschen. Wenn ein Medizinstudent und angehender Arzt ein Wehrpflichtjahr als Wachhabender ableistet, statt seinen Beruf auszuüben, gehen der Gesellschaft die Leistungen verloren, die er stattdessen als Arzt erbringen würde. Und Personalknappheit für Experten gibt es derzeit nicht nur im Arztberuf. Solche entgangenen hochwertigen Leistungen sind nur einer der Kostenfaktoren bei der Einführung einer Dienstpflicht. Eine Studie des ifo Instituts schätzt, dass die Wiedereinführung der Wehrpflicht bis zu 70 Milliarden Euro jährlich verschlingen könnte.

Ein oft zu hörendes Argument ist auch, dass ein soziales Pflichtjahr Bürgersinn oder demokratische Werte fördere. Wissenschaftliche empirische Studien sind eher geeignet, diese These zu widerlegen. Wehrpflicht ist in autokratischen Systemen häufiger, und in demokratischen Staaten eher seltener anzutreffen. Und Wehrdienst scheint das Vertrauen in staatliche Institutionen eher zu schwächen.

Eine Wehrpflicht wäre ein teures Unterfangen, das weiter umstritten bleibt.
Eine Wehrpflicht wäre ein teures Unterfangen, das weiter umstritten bleibt.Kira Hoffmann/imago

Verblüffendes Ergebnis einer Studie

Vielleicht noch überraschender sind Studien über den Zusammenhang zwischen Wehrpflicht und kriminellem Verhalten. Solche Studien konstatieren teilweise einen „positiven“ Zusammenhang zwischen dem Ableisten von Wehrdienst und kriminellen Aktivitäten.

Eine der methodisch besten Studien ist von den schwedischen Wissenschaftlern Randi Hjalmarsson und Matthew J. Lindquist. Sie nutzen Daten aus der Zeit nach dem Kalten Krieg. Angesichts der geringeren Verteidigungsnotwendigkeiten nach Ende des Kalten Kriegs wurden damals zwar alle jungen Männer gemustert, aber nicht mehr alle positiv gemusterten jungen Männer wurden zum Dienst eingezogen. Wer unter den als geeignet Gemusterten noch seinen Dienst leisten musste, war weitgehend dem Zufall überlassen. So konnte man die Verbrechensraten von denen, die zum Militärdienst herangezogen wurden, mit denen vergleichen, die verschont wurden.

Das Ergebnis verblüfft: Wer den Militärdienst geleistet hatte, für den erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung nach dem Dienst um etwa ein Drittel. Die Erhöhung der Kriminalitätsrate trat primär bei Männern aus sozial schwächeren Schichten auf und betraf Waffen-, Gewalt-, Drogenkriminalität und Eigentumsdelikte. Eine erstrebenswerte Schule der Nation sieht sicher anders aus.

Der Ausbau der Verteidigungsfähigkeit ist zweifellos ein Gebot der Stunde, doch platte Forderungen nach „mehr Geld“ oder „mehr Soldaten“ greifen zu kurz. Die Bundeswehr muss zunächst die vorhandenen Mittel besser nutzen und daraus mehr militärische Schlagkraft erzeugen.

Parallel dazu sollte Deutschland entschlossener auf eine europäische Verteidigungspolitik drängen. Hier ist viel zu gewinnen, und zwar für die Schlagkraft existierender Einheiten, für ein besseres Beschaffungswesen und für eine Verbesserung und Stärkung der Rüstungsindustrie in Europa. Es wäre töricht, die Lehren der Geschichte zu ignorieren und in alte Muster wie die Wehrpflicht zurückzufallen. Deutschlands Sicherheit erfordert Weitsicht – und keine teuren und vorschnellen Symbolhandlungen.

Kai A. Konrad ist Professor und Direktor am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und öffentliche Finanzen in München.

Marcel Thum ist Professor für Finanzwissenschaft an der Technischen Universität Dresden und leitet die Dresdner Niederlassung des ifo Instituts.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.