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Uranmunition in der Ukraine – trotz Gefahr für Leben und Gesundheit?

Trotz Gefahr für die Gesundheit möchte die britische Regierung Uranmunition in die Ukraine liefern. Unser Autor sieht diese Entscheidung kritisch.

Rishi Sunak, Premierminister von Großbritannien, schaut zu, wie Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, einem Soldaten die Hand reicht, während eines Treffens mit ukrainischen Truppen, die auf einer Militäranlage für die Steuerung von Panzern des Typs Challenger-2 ausgebildet werden sollen. 
Rishi Sunak, Premierminister von Großbritannien, schaut zu, wie Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, einem Soldaten die Hand reicht, während eines Treffens mit ukrainischen Truppen, die auf einer Militäranlage für die Steuerung von Panzern des Typs Challenger-2 ausgebildet werden sollen. Andrew Matthews/dpa

Am 26. März 2023 veröffentlichte das britische Verteidigungsministerium einen Dokumentarfilm über den Ausbildungsabschluss ukrainischer Panzerbesatzungen an Challenger-2-Panzern. 14 dieser Panzer gehen in die Ukraine. Zum Training gehörte, wie der Autor Phil Miller auf Declassified UK am 27. März enthüllte, auch Übungsgranaten für abgereicherte Uranmunition.

In einer Filmszene liegt ein Exemplar in blauer Farbe neben anderen Panzergranaten auf einem Tisch. Sie trägt die Aufschrift „inert“, was darauf hindeutet, dass es „nur“ eine Nachbildung ist. Delikat aber bleibt, dass auch ein amerikanischer Ausbilder dabeisteht. Mit der Ankündigung der britischen Regierung, Uranmunition in die Ukraine zu liefern, wurden die deutschen Medien zeitgleich mit dem Beipackzettel versorgt, internationale Gremien hätten keine „langfristigen“ gesundheitlichen Auswirkungen von abgereichertem Uran dokumentiert.

Dabei setzte die Nato 1999 diese Munition beim Krieg gegen Restjugoslawien in A-10-Bombern mit verheerenden Folgen ein, die bis heute nicht geächtet sind. Bereits die Wehrmacht suchte nach Möglichkeiten, die Durchschlagskraft ihrer Geschosse durch eingelagerte Materialien zu erhöhen, die schwerer als Eisen sind. Da die deutsche Atomforschung noch keine nennenswerten Abfälle kannte, experimentierte man mit Wolfram.

Ganz anders die Situation im Golfkrieg 1991. Längst gab es in den USA genügend Uran-238 aus der Uranaufbereitung für die Energiegewinnung, ja die militärische Verwendung wurde eine willkommene Entsorgungsalternative zur Lagerung auf Deponien. Über 300 Tonnen, so heutige Schätzungen, wurden 1991 im Irak großflächig gegen Panzer verschossen.

Es war der in einem Bagdader Krankenhaus tätige deutsche Arzt Prof. Dr. Dr. Siegwart-Horst Günther, der früh zunehmende Missbildungen mit dem Uranoxidstaub in Verbindung brachte. Als Präsident der Hilfsorganisation Das gelbe Kreuz international betreute er nach dem Zweiten Golfkrieg zwischen 1991 und 1995 Kinder, die an einer bis dahin unbekannten Krankheit litten und häufig starben.

Er konnte früh den Nachweis erbringen, dass abgereichertes Uran Symptome einer Schwermetallvergiftung verursacht und durch akutes Versagen von Leber und Niere zum Tode führt. Oder der Betroffene an Leukämie, anderen Krebsarten oder Aids-ähnlichen Symptomen erkrankt. Durch die radioaktive Schädigung der Ei- und Samenzellen gibt es auch Missbildungen in der folgenden Generation.

Uranoxidpartikel schädigen Knochenmark

Wegen der Einfuhr eines solchen Urangeschosses für weitere Untersuchungen in deutschen Laboren wurde Günther sogar verhaftet und einige Tage in einer Zelle eingesperrt, in der er einst bei der Gestapo als Mitglied der Widerstandsgruppe um Stauffenberg schon einmal saß. Das konfiszierte Geschoss wurde dem Berliner Hahn-Meitner-Institut übergeben. Auch die Experten von IPPNW wiesen früh darauf hin, dass Uran-238 hauptsächlich ein Alphastrahler und chemisch giftig ist.

Zerstörte gepanzerte iranische Fahrzeuge im Euphrat-Tal während der Operation Desert Storm, 1991
Zerstörte gepanzerte iranische Fahrzeuge im Euphrat-Tal während der Operation Desert Storm, 1991Everett Collection/imago

Durch Einatmen und mit Wasser gelangen Uranoxidpartikel in den Körper. Sie schädigen zuerst das Knochenmark und Lymphsystem. Leukämie und bösartige Vergrößerungen der Lymphknoten entwickeln sich. Die Teilchen wandern auch ins Gehirn, in die Nieren und in die Hoden. Und weil sie beim Durchschlagen der Panzerung durch die Verbrennungshitze hart wie Keramik werden, sind sie unlöslich und zerstören im Körper über Jahre mit ihrer Alphastrahlung die Erbinformationen der Zellen.

Zum ersten Mal setzte die Nato 1999 in Jugoslawien Uranmunition ein. Während des 78-tägigen Krieges wurden 31.000 Uran-Projektile mit etwa zehn Tonnen abgereichertem Uran an über 80 Orten abgeschossen. Vor allem in Südserbien und Kosovo. Bereits am 22. April 1999 machte die ARD-Sendung „Monitor“ darauf aufmerksam.

Auch die RBB-Umweltfernsehreihe „Ozon“ untersuchte in mehreren Beiträgen die Folgen. Schwedische und schweizerische Laboratorien wiesen unabhängig voneinander nach, dass solche 30-Millimeter-Geschosse auch Spuren von Plutonium enthalten. Getroffen wurden zum Beispiel vier Orte im Südosten Serbiens bei Vranje: die Dörfer Borovac, Bratoselce und Reljan und der mit einer Radarstationen gespickte Berg Pljačkovica.

Sieben von acht Arbeitern, die damals dort drei Wochen lang Bombenreste wegräumten, starben Jahre danach qualvoll. Wissenschaftler der Universität Thessaloniki stellten fest, dass in Makedonien die radioaktive Belastung nach dem Krieg auf das Achtfache anstieg. Dies sei eine schlimmere Umweltkatastrophe als die Folgen der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl.

Zunahme von Krebserkrankungen in Serbien

Auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Heidi Lippmann-Kasten, Dr. Winfried Wolf und der Fraktion der PDS bezüglich einer deutschen Beteiligung antwortete Ende Juni 1999 die Bundesregierung: „Die Bundesregierung war nicht an Gesprächen über den Einsatz von Munition beteiligt, da solche Gespräche nicht stattgefunden haben. Beschaffung, Auswahl und Einsatz von Munition ist Angelegenheit eines jeden einzelnen Mitgliedsstaates. Die Bundesregierung besitzt keine Munition mit abgereichertem Uran.“ (Drucksache 14/1296)

Im Januar 2001 trat Verteidigungsminister Scharping mit jener verlogenen Selbstsicherheit vor Wissenschaftler, mit der er schon das Bombardement auf Belgrad angefeuert hatte: Nach „allen vorliegenden Erkenntnissen“ sei die mit Uran abgereicherte US-Munition als strahlende Substanz genauso „vernachlässigbar“ wie ihre toxische Wirkung. Eindrücklich konnte 2007 und 2010 der deutsche Filmautor Frieder F. Wagner mit seinen aufrüttelnden Dokumentationen unter dem Titel „Deadly Dust“ erschütternde Gegenbeweise vorlegen.

Inzwischen sind mehr als zwei Jahrzehnte nach dem im Nachhinein von Ex-Bundeskanzler Schröder als „völkerrechtswidrig“ bestätigten Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien vergangen. In Serbien hat aggressiver Krebs bei Jung und Alt in den letzten Jahren epidemische Ausmaße angenommen. Das Land steht in Europa weit vorn. Schon lange hatten mutige Ärztinnen und Ärzte wie der Krebsspezialist Professor Slobodan Čikarić und die Leiterin der Belgrader Neurochirurgie, Professor Danica Grujičić, auf die explodierende Krebsrate und Sterblichkeit aufmerksam gemacht.

Bereits 2018 warnte Čikarić aus Belgrad, abgereichertes Uran entfalte erst nach zwei Jahrzehnten seine größte Wirkung. Und auch die Spätfolgen der Giftwolken aus den gezielt bombardierten Chemieanlagen von Pančevo sind noch lange nicht exakt erforscht. Die allgemeine Latenzzeit, so die Studien der serbischen Mediziner, beträgt etwa sieben Jahre. Deshalb registrierte Čikarić ab 2006 einen sprunghaften Anstieg von Leukämie und Lymphdrüsenkrebs um fast 60 Prozent. 

Eine ältere Frau steht weinend neben den Trümmern zerstörter Häuser am Mittwoch, 28. April 1999, in Surdulica, etwa 250 Kilometer südlich von Belgrad, nachdem das Dorf bei einem Nato-Luftangriff getroffen wurde.
Eine ältere Frau steht weinend neben den Trümmern zerstörter Häuser am Mittwoch, 28. April 1999, in Surdulica, etwa 250 Kilometer südlich von Belgrad, nachdem das Dorf bei einem Nato-Luftangriff getroffen wurde.Vladimir Vetkin/dpa

Viele Kinder betroffen

Bei Kindern, so beobachtete Frau Professor Danica Grujičić, die schon viele Tumore operiert hatte, stieg die Zahl bösartiger Erkrankungen des Blutes und des Gehirns seit 1999 kontinuierlich an. Allein zwischen 2001 und 2010, so Schätzungen, starben durch das abgereicherte Uran über 10.000 serbische Bürger. Wegen Schädigung des Erbgutes werden zudem auch in nächsten Generationen missgebildete Kinder zur Welt kommen.

Während im Jahr 1998 von rund 18.900 krebskranken Serben etwa 12.160 starben, gab es 2005 bereits über 24.300 Erkrankungen und rund 14.000 Todesfälle. Innerhalb eines Jahrzehnts stieg die Krebsrate bis 2015 auf 38.000 Erkrankte und über 21.800 Verstorbene jährlich. Dafür, so die Mediziner, können weder Rauchen noch schlechte Arbeitsbedingungen in Industriegebieten die Ursache sein. Ein serbischer Anwalt bereitet deshalb derzeit eine Klage gegen die Nato vor

Bis heute häufen sich Zusammenbrüche des Immunsystems mit ansteigenden Infektionskrankheiten, schwere Funktionsstörungen von Nieren und Leber, aggressive Leukämien, Mehrfachkrebs, Störungen im Knochenmark, genetische Defekte, Missbildungen, Frühgeburten und Aborte bei Schwangeren wie nach der Tschernobyl-Katastrophe. In einem verzweifelten Appell schlug im Mai 2018 der Arzt und Vorsitzende des Gesundheits- und Familienausschusses, Darko Laketić, der Belgrader Nationalversammlung vor, endlich eine Experten-Kommission zu bilden. Eine unabhängige, die alle Folgen der Nato-Angriffe mit abgereichertem Uran und auf die Chemiebetriebe untersucht.

Die Wissenschaftler in der serbischen Parlamentskommission bekamen bald Hilfe aus Italien, wo die Angst vor dem „Balkan-Syndrom“ längst öffentlich war. Durch die Arbeit ähnlicher Kommissionen hatte man dort seit 2005 4000 Fälle amtlich erfasst, in denen italienische Soldaten erkrankten, nachdem sie in zahlreichen Auslandseinsätzen, auch im Kosovo, mit abgereichertem Uran Kontakt hatten. 300 Soldaten starben daran.

Der Leiter der italienischen Kommission, Gian Piero Scanu, erklärte sich bereit, die Serben mit diesen offiziellen Erkenntnissen zu unterstützen. Politiker in Serbien sowie in den anderen DU-verseuchten Ländern des Nahen und Mittleren Ostens haben lange Zeit die Bevölkerung bewusst nicht informiert. Zu groß war der politische und wirtschaftliche Druck des Westens. Der in Serbien lebende deutsche Psychologe und Buchautor Dr. Rudolf Hänsel hält die Londoner Pläne für Lieferungen von Munition mit abgereichertem Uran nach Kiew für zynisch. Auch, weil sie am Vorabend des Jahrestages des Beginns der Nato-Bombardierung Jugoslawiens angekündigt wurden.

Hartmut Sommerschuh lebt als Autor in Potsdam. Von November 1989 bis 2003 war er Redaktionsleiter, nach der Zusammenlegung von SFB und ORB zum RBB bis 2016 verantwortlicher Redakteur der Umweltfernsehreihe „Ozon“.

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