Das vorzeitige und noch nicht amtliche Wahlergebnis von 49,5 Prozent war bis vor wenigen Tagen das Bestcase-Szenario für Recep Tayyip Erdogan. Mit der eindeutigen Mehrheit im Parlament für sein Cumhur-Bündnis aus AKP und MHP, hat Erdogan auf die Komastelle genau das bekommen, was sein Innenminister Soylu ihm noch vor der Auszählung prophezeit hatte.
Denn das Auseinanderfallen von Regierung und Parlament dürfte vielen Türken nicht sonderlich attraktiv erscheinen und sie zurück in die Arme von Erdogan treiben. So verwundert es nicht, dass der amtierende Präsident das Ergebnis nahezu stoisch annimmt und in aller Ruhe die zweite Runde einläutet.
Die Opposition hingegen scheint wie paralysiert und nicht zu verstehen, was gerade vor sich geht. Hat Erdogan aus seiner damaligen Überreaktion auf den knappen Wahlausgang in Istanbul 2019 gelernt? Er hatte nichts unversucht gelassen, um seinen knapp unterlegenen Kandidaten Yıldırım doch noch durchzuboxen. Ohne jeden Beweis, wie wir heute wissen, sprach er damals von Wahlmanipulationen. Unverhohlen setzte er seinen ganzen Einfluss auf die oberste Wahlbehörde YSK ein, um die Wahlen wiederholen zu lassen. Es endete mit einem Fiasko und bescherte ihm seine bisher größte Niederlage.
Über 20.000 Wahlurnen sollen nicht von der Opposition besetzt gewesen sein
Inzwischen ist Erdogans Einfluss auf die YSK noch größer, hat er doch einen Getreuen, dessen Bruder übrigens als oberster Rechnungsprüfer des Landes fungiert, an die Spitze befördert. Die Entscheidungen der YSK sind endgültig und nicht anfechtbar. Erdogan, dem man in jungen Jahren eine beinahe professionelle Fußballerkarriere als Stürmer andichtet, hätte den knapp vor der Torlinie liegenden Ball reinwürgen können, ja müssen. Woher kommt diese plötzliche Besonnenheit?
Erdogan stand mit dem Rücken zur Wand. Er braucht ein eindeutiges Ergebnis und somit einen Befreiungsschlag, von dem sich die zuletzt erstarkte Opposition nicht so schnell erholen kann. Kemal Kılıçdaroğlu hatte vieles richtig gemacht und ein Bündnis geschmiedet, das viele für unmöglich gehalten hatten. Große Teile der Opposition haben sich zusammengerafft und sich viele Fehler aus der Vergangenheit verziehen. Nun steht aber ein Vorwurf im Raum, der, sollte er sich bewahrheiten, so ungeheuerlich und unverzeihlich erscheint, dass man es kaum glauben mag.
Über 20.000 der über 200.000 Wahlurnen seien nicht von der Opposition besetzt gewesen, weshalb man hierüber keine Wahlniederschriften habe und somit auch keinen Widerspruch einlegen konnte. Dies habe man systematisch ausgenutzt und durch viele kleine Manipulationen das Ergebnis zugunsten Erdogans verändert. So behaupten es zumindest immer mehr türkische Journalisten.
Ganz abwegig scheinen diese Vorwürfe nicht zu sein, wenn der einflussreiche CHP-Abgeordnete Gürsel Tekin Fehler einräumt und darum bittet, dass man ihm die Aufsicht über die anstehenden Stichwahlen übertragen möge. Es habe zudem große Probleme mit der IT gegeben, weswegen der zuständige Parteifunktionär Onursal Adıgüzel seines Amtes enthoben wurde. Der immer noch in Haft sitzende ehemalige Vorsitzende der kurdischen HDP geht sogar einen Schritt weiter und behauptet, dass die vermuteten Wahlmanipulationen seit Jahren und systematisch betrieben werden. Durch die Blume gibt er zu verstehen, dass die Opposition und vor allem die CHP tatenlos dabei zuschaut.
Wahlmanipulation war in der Türkei immer wieder Thema
Das Thema Wahlmanipulation in der Türkei ist also nicht neu und war immer wieder Thema im Wahlkampf, wofür die Opposition und insbesondere die CHP zurecht gescholten wurde. Nach der letzten oben genannten Kommunalwahl schien das Problem aber gelöst worden zu sein. Ekrem İmamoğlu, der jetzige CHP-Bürgermeister von Istanbul, und die Vorsitzende der Istanbuler CHP, Canan Kaftancıoğlu, hatten Ihre Wahlhelfer gut im Griff. Sie konnten der Öffentlichkeit anhand lückenloser Wahlniederschriften stündlich verlässliche Zahlen präsentieren und somit die Manipulationsversuche erfolgreich abwehren. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu stellte daraufhin ihren Dienst ein, um nicht den Sieg der Opposition verkünden zu müssen.
Auch diesmal ist İmamoğlu, der ein wichtiger Motor im Wahlkampf war, am Wahlabend mehrmals vor die Kameras getreten. Verlässliche Zahlen hatte er diesmal aber nicht parat. Die eigens hierfür gegründete oppositionelle Nachrichtenagentur ANKA konnte stundenweise gar keine Zahlen liefern, so dass die oppositionellen Medien auf dem Trockenen saßen. Sie mussten notgedrungen die Zahlen von YSK und Anadolu verkünden. Erdogans Stimmenanteil begann bei knapp 60 Prozent und fiel stetig bis auf 49,5 Prozent. Im Gegenzug konnte man eine stetige Zunahme der Stimmen für Kılıçdaroğlu beobachten. Die Stimmen des ultranationalistischen dritten Kandidaten Sinan Oğan schienen hingegen den ganzen Abend bei 5,3 Prozent einbetoniert zu sein.
Was sich zunächst als schlechte Nachricht anhört, könnte sich aber doch noch zum Guten wenden. Schürt es doch erhebliche Zweifel an dem uneinholbaren Vorsprung Erdogans. Es hängt also alles von der Frage ab, ob es die Opposition schafft, die Wahlurnen diesmal nicht aus dem Auge zu verlieren.
Adem Türkel ist Wirtschaftsjurist und Politikwissenschaftler. Er war einige Jahre selbstständiger Handwerker und kennt den Fachkräftemangel aus eigener Erfahrung. Er arbeitet mit geflüchteten Azubis und kümmert sich auch um deren Aufenthaltsstatus.




