Berlin

Eine Reise durch China: Besuch im Naturreservat von Daocheng Yading

Seit dem 1. Dezember 2023 können deutsche Touristen ohne Visum nach China reisen. Damit ist ein erhebliches Hindernis beseitigt.

Touristenführer führen Besucher auf Pferden durch den Yading-Nationalpark
Touristenführer führen Besucher auf Pferden durch den Yading-NationalparkPond5 Images/imago

Es ist nicht anders als in Europa. Das Auto muss man unten stehen lassen, wenn man hoch hinaus will. Zum Vesuv zum Beispiel geht es nur mit dem Bus, den Rest bis zum Krater erledigt man zu Fuß; zum Ätna auf Sizilien geht es auf vier Rädern durch Schlackefelder bis zu einem der zahlreichen Feuerschlünde.

Der Unterschied zum Naturschutzgebiet Daocheng Yading in der Provinz Sichuan besteht allenfalls darin, dass man beim Erwerb des Tickets seinen Ausweis oder Pass am Schalter vorweisen muss. Vermutlich, um die Übersicht zu behalten, wer da alles unterwegs ist und, falls einer verloren geht, man sogleich Name und Adresse des Vermissten weiß.

Die großen grünen Busse starten im Minutentakt, es geht von Yading auf über 4000 Meter hoch. Der Wetterbericht hatte vor dem Abflug in Berlin prognostiziert, in China, in Tibet herrschen bei Regen einstellige Temperaturen. Das erweist sich als falsch. Wir müssen uns wegen der Sonne breitkrempige Mützen überstülpen.

Nicht minder überraschend die Erkenntnis, dass die etwa fünf Millionen Tibeter nicht nur im Autonomen Gebiet Tibet (AGT) leben, das etwa elfmal so groß ist wie die ehemalige DDR, sondern sich auch auf weitere zehn autonome Bezirke und zwei autonome Kreise in den angrenzenden vier Provinzen verteilen.

Blick in einen Ort in der Xiangcheng County.
Blick in einen Ort in der Xiangcheng County.Imaginechina-Tuchong/imago

Derzeit durchqueren wir den Bezirk Garzê, wie er auf Chinesisch heißt, oder dkar mdzes auf Wylie: jener Umschrift, mit der man die tibetischen in englische Buchstaben transkribiert. Doch wir haben es aufgegeben, Namen zu notieren. Das biblische Babylon befindet sich hier: Für jeden gesprochenen Laut gibt es so viele Schreibweisen wie Menschen, die sich anheischig machen, Ortsnamen und Vokabeln in unser Notizheft zu malen.

In einem Straßenimbiss waren wir mit einer jungen Tibeterin am Nachbartisch ins Gespräch gekommen. Ihre Tochter besuche die älteste Gruppe im Kindergarten, erzählte sie. Danach gehe es in die Schule, wo sie schon in der ersten Klasse drei Sprachen zu lernen beginnen: die Muttersprache Tibetisch, Chinesisch und Englisch. Mandarin, also Chinesisch, ist die älteste Zeichenschrift der Welt, seit mehr als 3000 Jahren kommuniziert man auf diese Weise im Reich der Mitte.

Gruppen von Touristen wandern in das Heilige Tal in der Nähe des Milchsees.
Gruppen von Touristen wandern in das Heilige Tal in der Nähe des Milchsees.ond5 Images/imago

Wie sich bei der Begegnung mit buddhistischen Mönchen zeigte, redeten diese die Sprache anders als die Freunde aus Beijing. Sie hatten sichtlich Mühe, einander zu verstehen: andere Begriffe, andere Betonung, andere Bedeutung. Englisch dient also nicht nur der grenzüberschreitenden Kommunikation, sondern auch der Verständigung zwischen den Vertretern der über 90 Ethnien in China. Daher wird diese Sprache nunmehr von Kindesbeinen an unterrichtet.

Ein stetiger kultureller Wandel

Die junge Mutter in der Garküche von Xiang Cheng reagierte bereitwillig auf unsere Fragen. Sie bildete da keine Ausnahme – es ist wahrlich nicht schwer, mit Tibetern ins Gespräch zu kommen. Sie lebe gern hier, sagte sie, unter den Han-Chinesen, denn man schenke ihr mehr Beachtung und Aufmerksamkeit als in Tibet selbst. Außerhalb des Autonomen Gebiets gehöre sie zu einer Minderheit und genieße Privilegien. Die habe man auch in Tibet, natürlich. Aber dort ist man eben unter seines- und ihresgleichen. Privilegien? Die Ein-Kind-Politik zum Beispiel war nie ein Thema, sie galt nur für die Han, welche 97 Prozent der chinesischen Bevölkerung ausmachen. Die Minderheiten unterlagen solchen Einschränkungen nie.

Insgesamt vollziehe sich ein steter kultureller Wandel, sagte sie. Vor Jahrzehnten noch war es etwa bei den Tibetern üblich, dass die Kinder, insbesondere die Mädchen, die Schule vor dem Abschluss verließen. Sie blieben unwissend, verweigerten sich der Moderne. Die Nachkommen dieser Generationen hingegen machten nicht nur Abitur, sondern sie studierten anschließend auch. Nahezu jeder ältere Mann und jede betagte Mutter, die wir sprachen, verwiesen stolz auf die Bildung ihrer Kinder, was immer gleichbedeutend ist mit sozialem Aufstieg.

Blick auf den Chonggu-Tempel.
Blick auf den Chonggu-Tempel.Pond5 Images/imago

Mag sein, dass die Zentralregierung in der Vergangenheit da und dort mit zu großem Nachdruck Bildung und Ausbildung durchsetzen wollte. Doch nicht das Ziel war zu kritisieren, allenfalls die ruppigen Methoden. Als die Volksrepublik 1949 gegründet wurde, konnten weit über 80 Prozent der Chinesen weder lesen noch schreiben. Die Analphabetenquote in Tibet lag noch darüber. Inzwischen meldet Statista, die deutsche Online-Plattform für Statistik, dass 97,2 Prozent der über 15-Jährigen in China lesen und schreiben können. Damit liegt die Volksrepublik über dem weltweiten Durchschnitt und beispielsweise vor den EU-Staaten Portugal und Malta.

Der Bus hat keinen freien Platz mehr. Ich bekomme den Notsitz neben dem Fahrer und genieße die freie Sicht. Die Bremsen quietschen, unablässig kommt die automatische Ansage aus dem Bordcomputer, der „Pilot“ solle vorsichtig und nicht zu schnell fahren. Sobald die zulässige Geschwindigkeit überschritten ist, schlägt die Technik Alarm. Im Land der Gebetsmühlen geschieht dies auch in eben jener Weise.

Ehrlichkeitsmentalität durch ein Punktesystem

Tage später sollten wir noch eine Steigerung erleben. Wir waren bereits zweieinhalb Stunden mit dem Mietwagen unterwegs, als das Handy des Fahrers klingelte. Irgendeine Polizeiwache. Dank digitaler Vernetzung und BDS – das ist das chinesische Satellitennavigationssystem Beidou – wussten die Verkehrswächter, auf welcher steilen Serpentine wir gerade unterwegs waren. Er fahre nun schon 150 Minuten in sehr schwierigem Gelände, ermahnte ihn die Stimme, er müsse eine Pause machen.

„Und wenn nicht?“, fragte ich den Freund hinterm Lenkrad.

Dann gebe es Punkte, sagte er – und fuhr brav an den Straßenrand. Rauchpause, grinste er. Mit ihrem Punktesystem will die Obrigkeit die „Ehrlichkeitsmentalität“ erhöhen, heißt es dazu im chinesischen Beamtensprech. Hierzulande, wo man sich auf den Datenschutz viel zugutehält, rümpft man angesichts solcher Kontrollen überheblich die Nase. Ohne zu bedenken, dass Schufa und andere Überwachungseinrichtungen in Bonitätsfragen kaum weniger aktiv sind. Wir merken’s nur nicht.

Inzwischen wird der Sauerstoff noch knapper, als er bei der Abfahrt unten im Dorf Yading schon war. Ich merke das am Zischen der Flaschen mit Mundstück, die sich viele Touristen auf die Nase pressen. Die Luft enthält hier oben weniger als 60 Prozent des Anteils an Sauerstoff, den wir zu ebener Erde atmen. Es gibt offenkundig eine ganze Industrie, die diesen Umstand als Geschäftsidee nutzt. Auf dem Weg hierher konnte man an jeder Tankstelle und in jedem Laden handliche Flaschen mit dem Aufdruck „Oxygen“ in unterschiedlichen Größen erwerben.

Unser Freund hatte leere Luftsäcke aus Beijing mitgebracht, die er wie viele andere auch an einer medizinischen Station für 20 Yuan, weniger als drei Euro, hatte füllen lassen. Auch er trägt schon Plasteschläuche vorm Gesicht. Und seit Tagen schon wirft er sich mehrmals am Tag rote Pillen ein, die der Höhenkrankheit vorbeugen sollen.

Der höchste Flughafen der Welt: der Airport Daocheng Yading
Der höchste Flughafen der Welt: der Airport Daocheng YadingPond5 Images/imago

Nach einer Dreiviertelstunde hält der Bus an der Station und spuckt die Touristen aus. Vor uns und nach uns passiert Gleiches; Dutzende Busse, aber alle von einem Unternehmen, stoppen. Es herrscht aufgeregtes Gewimmel unter den fast ausschließlich einheimischen Touristen. Ausländer sind die Ausnahme, was auch an der weiten und komplizierten Anreise liegt. Visum, Flugzeug, Bahn, Bus … Wir waren mit der Tibet Airlines auf dem Airport Daocheng Yading gelandet, dem mit über 4400 Metern höchstgelegenen Flugplatz der Welt. Er war nach zweijähriger Bauzeit vor zehn Jahren in Betrieb genommen worden.

Dann geht es zunächst zu Fuß 500 Meter steil bergauf. Links und rechts des Weges stehen Bänke zum Ausruhen, die, je höher wir schnaufend steigen, immer voller werden. Der Prozessionszug dünnt sich zusehends aus. Oben schließlich erwartet uns ein riesiger Talkessel, den schneebedeckte Berge säumen, alle so um die 6000 Meter hoch und den Tibetern heilig. Ein buddhistisches Kloster und den Chonggu-Tempel mit goldenen Zinnen, der malerisch aus dem satten Grün eines bewaldeten Berghanges grüßt, lassen wir rechts liegen.

500 Meter bergauf

Durch die Ebene mäandert ein Flüsschen, die Tourismusbehörde wirbt hier mit der Zeile: „Das letzte reine Land auf unserem blauen Planeten.“ Das letzte? Wollen wir nicht hoffen. Aber umwerfend schön ist es allemal, weshalb die Unesco vor über 20 Jahren es in ihr Konzept „Mensch und Biosphäre“ (MAN) eingebunden hat, ein grenzüberschreitendes Arbeitsprogramm von Natur- und Sozialwissenschaftlern. Damit werden die chinesischen Anstrengungen unterstützt, ökologisch schonend und nachhaltig die Existenzbedingungen der hier lebenden Menschen zu verbessern. Von denen sind 90 Prozent Tibeter. Wenn hier also täglich Tausende Touristen aus allen Teilen des Landes durch die Natur marschieren, kann dies nur geordnet und organisiert erfolgen.

Touristinnen fotografieren sich vor der Szenerie der Berge.
Touristinnen fotografieren sich vor der Szenerie der Berge.Tang Wenhao/imago

Die Wege durchs weite Tal führen kilometerweit über fein gefugte und mit Geländer versehene Holzstege. Stand beim Bau ein Baum im Wege, wurde er nicht gefällt, sondern in den Steig integriert. Die Touristenpisten führen zu mehreren Seen, in deren – natürlich heiligen – Wassern sich die Berge spiegeln. Das größte Gewässer ist der „Milchsee“, und dem Vernehmen nach auch der schönste.

Am Perlsee drehen wir um, nachdem wir minutenlang den vielen, zumeist jungen Menschen zugeschaut haben, wie sie vor der wahrlich gigantischen Kulisse des Mount Chanadorje (in der chinesischen Transkription: Xianuoduoji) sich selbst fotografieren, für Follower und für die Familie. Erstaunlich ist die Bandbreite des Posings, einige strecken alle viere von sich vor dem Stein, auf dem die Zahl 4200 steht. So hoch und so tot, soll das Bild wohl berichten.

Zurück wählen wir einen anderen Weg, dann geht es wieder mit dem Bus nach unten, nach Yading in 4000 Metern Höhe. Wir kehren in einem kleinen Restaurant ein. Vorm Haus fließen ein Bächlein und der Verkehrsstrom. Die Geschäfte scheinen nicht gut zu laufen, wir sind die einzigen Gäste. Der Tourismus käme gerade erst jetzt wieder auf Touren, sagt der Wirt, der nebenher auch noch Sauerstoffflaschen, Getränke und Souvenirs anbietet.

Hinter dem Perlensee eröffnet sich der Blick auf die Bergspitzen.
Hinter dem Perlensee eröffnet sich der Blick auf die Bergspitzen.ingimage/imago

Als der Kredit abgezahlt war und er Geld verdienen konnte, kam die Pandemie, erzählt der Wirt. Seine Kollegen links und rechts seien in dieser schrecklichen Zeit pleitegegangen, er hätte von seinen Reserven gelebt. Die anderen hatten offenbar keine, nun stehen ihre Räume leer und zum Verkauf. An der Wand hängen die Konterfeis von Mao und Deng Xiaoping. Und wo ist der Dritte? Xi sei für ihn ein Mann des Übergangs, sagt der Restaurantbesitzer trocken.

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Der Mann nimmt kein Blatt vor den Mund. Das tat niemand, mit dem wir hier sprachen. Die Jahrmillionen alte Umgebung erzeugt wohl eine handfeste Demut, indem sie offenbart, wie winzig der einzelne Mensch ist.

Wir verlassen das Dorf Yading, in welchem angeblich nur 30 Familien zu Hause sind, nicht gerechnet die vielen Hotels und Pensionen. Yading heißt auf Tibetisch Ort, der der Sonne zugewandt ist. Im Autoradio kommt die Meldung, dass im ganzen Land 359 Millionen Menschen an diesem langen Wochenende zwischen Mondfest und Nationalfeiertag unterwegs sind, in den Großstädten sei der Verkehr zum Erliegen gekommen. Hier oben sind die Straßen ziemlich leer. Noch.

Tipps der Autoren für Reisende nach Daocheng Yading (nun ohne Visum möglich): https://www.chinareisen.com/destination/daocheng-yading/; Tel. 0086 28 8503 0959 und info@chinareisen.com; https://www.evaneos.de/china/reisen/orte/5210-nationalpark-yading/, Tel. 089 380 389 82; https://de.topchinatravel.com/chengdu/wie-palnt-man-eine-reise-nach-daocheng-yading.htm, Tel. 0086-773-2885326 und sales@topchinatravel.com

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