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Das Gesundheitssystem in Gaza bricht zusammen – und Deutschland schaut weg

Hungernde Kinder, Angriffe auf Kliniken: Die humanitäre Krise in Gaza nimmt kein Ende. Unsere Autorin, selbst Ärztin, ist bestürzt über das Zögern der Bundesregierung.

Ein Krankenwagen fährt durch die Trümmerwüste von Beit Lahia im Norden des Gazastreifens.
Ein Krankenwagen fährt durch die Trümmerwüste von Beit Lahia im Norden des Gazastreifens.Mohammed Alaswad/dpa

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Der zweieinhalbjährige Saraj wurde am 25. Februar dieses Jahres von einer israelischen Bombe getroffen, während er mit seinen zwei Brüdern an einer Nahrungsmittelausgabestelle wartete. Seine Brüder wurden getötet, zusammen mit acht anderen Kindern und drei Frauen. Saraj erlitt schwere Schädel-Hirn-Verletzungen und wurde mehrfach operiert, er verlor ein Auge. Derzeit befindet er sich im Al-Aqsa-Krankenhaus in Deir al-Balah. Er kann nicht selbstständig laufen und essen, spricht nicht und schreit viel. Er braucht dringende Maßnahmen zur Rehabilitation sowie weitere chirurgische Eingriffe, um das verbleibende Auge zu retten. Seine Eltern versuchen verzweifelt, über soziale Medien die Evakuierung von Saraj zu beschleunigen. Er sollte am 19. August nach Jordanien evakuiert werden. Die israelische Koordinationsbehörde (COGAT), verantwortlich für zivile Angelegenheiten in den besetzten palästinensischen Gebieten, sagte die Evakuierung unter der Angabe von Sicherheitsgründen in letzter Minute bis auf Weiteres ab.

Nach Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) müssen mehr als 15.000 Patienten dringend evakuiert werden, da sie im Gazastreifen nicht mehr versorgt werden können. Über 50.000 Patienten wurden zusammen mit ihren Familien in Ägypten aufgenommen, viele weitere wurden nach Jordanien evakuiert. Das öffentliche Gesundheitssystem dort ist großem Druck ausgesetzt, auch sind nicht alle Möglichkeiten für spezialisierte Behandlungen vorhanden. In Deutschland indessen wurden bisher nur zwei Kinder behandelt, auf Druck von NGOs und der Zusage entsprechender Krankenhäuser. Die Bundesregierung übt weiterhin Zurückhaltung.

Mittlerweile haben mehrere Städte – Bonn, Köln, Düsseldorf, Leipzig und Kiel – Bereitschaft geäußert, schwerkranke Kinder aufzunehmen. Staatsministerin Serap Güler (CDU) ordnete dies als Wahlkampftaktik ein.

Verletzte Palästinenser werden nach einem israelischen Angriff in das Al-Aqsa-Krankenhaus gebracht.
Verletzte Palästinenser werden nach einem israelischen Angriff in das Al-Aqsa-Krankenhaus gebracht.Ali Jadallah/imago

Keine Medikamente, keine Betten, kein Wasser

Die Bedingungen in Gazas Krankenhäusern sind katastrophal. Es gibt nicht genügend Material zur Wundversorgung, Desinfektion, Sterilisierung von chirurgischem Instrumentarium. Essenzielle Medikamente wie Antibiotika, Insulin, Schmerzmittel und Blutkonserven sind kaum verfügbar.

Die WHO berichtet, dass die Bettenauslastung der noch funktionierenden Krankenhaustationen zwischen 200 und 300 Prozent liegt. Die Einfuhr von Strom und Treibstoff für Generatoren und die verbliebenen Rettungsfahrzeuge wird von Israel kontrolliert und ist völlig unzureichend. Die Zerstörung der Wasserversorgung und Müllentsorgung und das enge Zusammenleben der oft mehrfach vertriebenen, um ihr Leben fürchtenden Familien in improvisierten Unterkünften ermöglichen die rasche Ausbreitung von Krankheiten.

Verletzte sowie akut und chronisch Kranke aller Altersgruppen wie Diabetiker, Nieren- und Krebskranke sowie Risikoschwangere und Neugeborene können nicht mehr ausreichend versorgt werden. Sie sterben an vermeidbaren Komplikationen, akut in der Notaufnahme, zusammen mit vielen anderen, die chronisch schwerkrank und schwerstverletzt sind und stationärer Behandlung bedürfen.

Mittlerweile steigt auch die Anzahl der Menschen, die an Mangelernährung leiden oder verhungern, täglich. Allein im Juli wurden mehr als 12.000 Kinder als akut unterernährt eingestuft. Das medizinische Personal arbeitet seit 23 Monaten am Rande seiner Kräfte, auch viele Ärzte und Pfleger hungern. Am 22. August bestätigten mehrere Organisationen der Vereinten Nationen (UN) eine Hungersnot im nördlichen Teil des Gazastreifens. Bei von Hunger geschwächten Menschen, insbesondere Kindern, führen auch leichte Erkrankungen schnell zum Tod.

Ein dreijähriger Junge, der an schwerer Unterernährung, Lebervergrößerung, Knochenerweichung, Niereninsuffizienz und schweren Brustinfektionen leidet, wird im Nasser-Krankenhaus in Chan Yunis behandelt.
Ein dreijähriger Junge, der an schwerer Unterernährung, Lebervergrößerung, Knochenerweichung, Niereninsuffizienz und schweren Brustinfektionen leidet, wird im Nasser-Krankenhaus in Chan Yunis behandelt.Abdallah F.s. Alattar/imago

All dies geschieht, während spezialisierte Teams vor Ort eine umfassende und sofortige humanitäre Hilfe gewährleisten und die Verteilung der Hilfsmittel vornehmen könnten, die vor den Grenzübergängen in Hunderten von Lastwagen in der prallen Sonne warten. Stattdessen fährt Israel mit amerikanischer Unterstützung fort, Nahrungsmittel durch eine externe Firma zu verteilen, die den Prinzipien humanitärer Hilfe zuwiderläuft.

Täglich werden dabei hungernde Menschen von der israelischen Armee erschossen, die UN notierte Anfang August 1400. Über 11.000 wurden verletzt und überfordern die verbleibenden Kapazitäten der medizinischen Versorgung. Zusätzlich wurden mehrere Menschen beim Abwurf von Lebensmitteln aus der Luft tödlich verletzt.

Die WHO notierte bis August dieses Jahres 772 Angriffe auf medizinische Einrichtungen. Dabei kamen mehr als 900 Menschen zu Tode. Weniger als die Hälfte der Krankenhäuser und 38 Prozent der Kliniken zur primären Gesundheitsversorgung, zu denen auch die des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNWRA) gehören, sind nur noch teilweise funktionsfähig. Spezialisierte Kliniken wie Gazas einziges Krankenhaus zur Behandlung von Krebserkrankungen, das Turkish Hospital, und die benachbarte medizinische Fakultät wurden von der israelischen Armee zerbombt.

Angriffe auf Ärzte und Ambulanzfahrzeuge

Die UN berichten von über 1500 getöteten Ärzten und Pflegekräften, darunter auch Fachärzte. Am 23. März wurde die Wohnung der Familie der Kinderärztin Alaa al-Najar bombardiert. Ihr Ehemann, auch er Arzt, und neun ihrer zehn Kinder starben durch Verbrennungen und schwere Verletzungen. Am 3. Juli wurde einer der zwei verbliebenen Kardiologen, Marwan Sultan, mit seiner Familie gezielt in einer „sicheren Zone“ im Westen von Gaza-Stadt getötet. Am 13. Juli wurde der erfahrenste Chirurg Gazas, Ahmed Qandil, Mitglied der Europäischen Gesellschaft für Trauma und Notfallchirurgie, durch eine Drohne auf dem Nachhauseweg vom Al-Ahli-Krankenhaus getötet.

Die Ruinen des Al-Shifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt
Die Ruinen des Al-Shifa-Krankenhauses in Gaza-StadtOmar Al-Qattaa/AFP

180 Ambulanzfahrzeuge wurden teilweise oder vollständig zerstört, oft durch gezielten Beschuss. Am 23. März dieses Jahres erschossen israelische Soldaten 15 Rettungskräfte im Einsatz und verscharrten ihre Leichen sowie die klar markierten Krankenwagen. Die Anzahl verschleppter und ohne Anklage in Haft befindlicher Ärzte und Pflegekräfte in israelischen Gefängnissen wird auf über 300 geschätzt.

Das Gesundheitssystem im Gazastreifen wurde und wird von der israelischen Regierung und Armee gezielt zerstört, durch fortlaufende Bombardierungen, Inhaftierungen und Angriffe auf medizinisches Personal sowie durch die extremen Beschränkungen für die Einfuhr lebenswichtiger medizinischer Geräte und Produkte, auch Baby- und therapeutischer Spezialnahrung. All dies wird regelmäßig von den UN und Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen dokumentiert. Medizinische Einrichtungen und medizinisches Personal unterliegen dem Schutz durch humanitäres Völkerrecht, so auch Kranke und Verletzte. Die israelische Regierung und Armee haben gegen dieses Recht vielfach verstoßen und fahren ungehindert fort, es zu missachten.

In deutschen Medien wird über die Deutungshoheit von Fotos schwer kranker und unterernährter Kinder gestritten wird, während täglich Dutzende Kinder sterben. Sie werden durch Bomben, Schüsse an Lebensmittelausgabestellen oder durch Luftabwürfe getötet, verhungern oder erliegen schweren Verletzungen, die spezieller chirurgischer Eingriffe bedürfen, und für die es keine Materialien oder Fachkräfte mehr gibt. Chronisch kranke Kinder, die an Nierenschwäche oder Leukämie leiden, können nicht mehr behandelt werden. Jede Verzögerung bringt sie dem Tod näher. Unicef schätzt die Anzahl der Kinder, denen eine oder mehrere Gliedmaßen amputiert werden mussten, auf über 1000. Es gibt keine prosthetische oder rehabilitative Versorgung. Über 40.000 Waisen irren auf Suche nach Schutz durch die Schutthalden. Die psychologischen Auswirkungen auf die Menschen im Gazastreifen, besonders auf die der Kinder, sind kaum vorstellbar. Tausende Familien wurden fast oder vollständig ausgelöscht.

Ein Kind wartet in Gaza-Stadt an einer Essensausgabe.
Ein Kind wartet in Gaza-Stadt an einer Essensausgabe.Majdi Fathi/imago

Jeden Tag sterben Menschen, weil die Versorgung zusammenbricht

Mittlerweile hat die israelische Armee über eine Million Menschen in Gaza-Stadt zur Räumung aufgerufen. Für viele behinderte und kranke Menschen, die in Krankenhäusern oder von ihren Familien versorgt werden, ist dies unmöglich. Hunderte von Kindern befinden sich in den verbleibenden Kinderabteilungen, viele von ihnen müssen intensivmedizinisch versorgt oder beatmet werden.

An jedem Tag, an dem Israel ungehindert mit der Zerstörung des Gazastreifens fortschreitet, sterben Menschen, weil sie nicht behandelt werden können, hungern oder verletzt sind. Während ich dies schreibe, erreichen mich Handyaufnahmen aus dem Nasser-Krankenhaus, bei dessen wiederholter Bombardierung am 25. August 20 Menschen getötet wurden – darunter Rettungskräfte und Journalisten.

Die Bundesregierung muss die Situation so benennen, wie sie ist: Israel steht im Verdacht, schwere Kriegsverbrechen gegen die palästinensische Zivilbevölkerung zu begehen und bricht weiterhin täglich internationales Recht. Deutschland hat sich im Grundgesetz der Unteilbarkeit der Menschenrechte verschrieben sowie der Einhaltung internationalen humanitären Rechts und den Genfer Konventionen.

Von uns Ärzten werden Selbstverpflichtung und berufliche Befähigung verlangt – um Leben zu schützen, Leiden zu lindern und unser eigenes Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Ich erwarte auch von meinen Interessenvertretern und Berufsverbänden das klare Benennen dessen, was geschieht. Die Bundesärztekammer konnte sich bisher nicht dazu durchringen. Dafür schäme ich mich, auch gegenüber palästinensischen Ärzten, die in Deutschland tätig sind, und Kollegen aus Ländern des Nahen Osten und Afrika, die nicht verstehen, warum Deutschland sich nicht aktiv für die leidende palästinensische Zivilbevölkerung, insbesondere die Kinder, einsetzt.

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Für mich als deutsche Ärztin, die von 2007 bis 2011 in den besetzten palästinensischen Gebieten tätig war, ist die Haltung der Bundesregierung angesichts der extremen Gewalt gegen die palästinensische Zivilbevölkerung nicht nachvollziehbar. Sie verstört mich und rüttelt an meiner tiefen Überzeugung, dass unser Land auf der Seite der internationalen Ordnung, der Menschenrechte und der Schwächsten steht, für die ich mich im Rahmen meiner internationalen Tätigkeit stets eingesetzt habe.

Katja Schemionek ist Ärztin für Allgemeinmedizin und Globale Gesundheit. Sie ist seit 20 Jahren in Ländern Afrikas, Zentralasiens und im Nahen Osten tätig. Für die WHO arbeitete sie von 2007 bis 2011 auch in den besetzten palästinensischen Gebieten.

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