Meinung

Zeitenwende – haben wir uns daran schon gewöhnt?

Krieg und Pandemie haben gesellschaftliche Spuren hinterlassen. Aber die Vorgeschichte eruptiver Veränderungen wird oft ausgeblendet.

Energiewende im Eiltempo: Bundeskanzler Olaf Scholz und Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) im Januar 2023 bei der offiziellen Inbetriebnahme des LNG-Terminals in Lubmin an der Ostsee.
Energiewende im Eiltempo: Bundeskanzler Olaf Scholz und Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) im Januar 2023 bei der offiziellen Inbetriebnahme des LNG-Terminals in Lubmin an der Ostsee.dpa

Die Welt von Gestern war eine ohne Hast. So jedenfalls sah es der 1881 in Wien geborene Schriftsteller Stefan Zweig, der sich auf der Flucht vor den Nazis an ein Leben in Sicherheit erinnerte, in dem er aufgewachsen war.

„Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit“, schreibt Zweig. „Wer ein Haus besaß, betrachtete es als sichere Heimstatt für Kinder und Enkel, Hof und Geschäft vererbte sich von Geschlecht zu Geschlecht; während ein Säugling noch in der Wiege lag, legte man in der Sparbüchse oder der Sparkasse einen ersten Obolus für den Lebensweg zurecht (…).“ Ein Lob der Kontinuität?

Stefan Zweig war weder Traditionalist noch naiv. Das Wort Sicherheit war aus dem Vokabular des Flüchtenden gestrichen. Er hielt es mit Sigmund Freud, der in der Zivilisation nur eine dünne Schicht sah, die jeden Augenblick von den destruktiven Triebkräften durchstoßen werden kann. Er habe sich, so Zweig, daran gewöhnen müssen, ohne Boden unter den Füßen zu leben, ohne Recht, ohne Freiheit, ohne Sicherheit.

Den Boden unter den Füßen verloren

Die meisten Leser von Zweigs Jahrhundertbiografie „Die Welt von Gestern“ haben unterdessen das Privileg genießen dürfen, eine verloren geglaubte Sicherheit wiedererlangt zu haben. Aus dem Gefühl der Deutschen, nach einem von ihnen verschuldeten Krieg nach einmal davongekommen zu sein, hat sich das Selbstbewusstsein einer Aufstiegsgesellschaft etabliert, die wirtschaftlich stabil, moralisch gefestigt und in Bündnissen mit guten Partnern ist.

Die Gewissheit, in einer Sekuritätsgesellschaft zu leben, hat inzwischen Risse bekommen. Längst scheint eine Phase der wirtschaftlichen Instabilität eingeläutet, die sich nicht länger mit konjunkturellen Schwankungen erklären lässt, und ein gegen die Ukraine geführter sowie gegen die USA und Europa gerichteter Krieg Russlands hat die Vokabel Zeitenwende keineswegs nur als politische Phrase erscheinen lassen.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat es in Europa keine Erschütterungen gegeben, die sich derart massiv auf die Lebensverhältnisse der Menschen auswirken. „So verschieden“, schrieb Stefan Zweig, „ist mein Heute von jedem meiner Gestern, meine Aufstiege und meine Abstürze, dass mich manchmal dünkt, ich hätte nicht bloß eine, sondern mehrere, völlig voneinander verschiedene Existenzen gelebt.“ Aber ist es tatsächlich angebracht, die Zweig’sche Wahrnehmung, den Boden unter den Füßen zu verlieren, auch für uns Heutige zu reklamieren?

Die männerbündische Schröder-Putin-Verbindung

Es spricht einiges für das Gegenteil. Nach drei Jahren Corona-Pandemie und mehr als einem Jahr Kriegszustand in einem nur ein paar Flugstunden entfernten Land, haben sich Gewöhnung und Verklärung breitgemacht. Eine belastbare Rekonstruktion der Verhältnisse und Reflexion darüber, ob und wie die gegenwärtigen Krisen das Leben der einzelnen beeinflussen, scheinen auch die Wissenschaften nicht produktiv gegen populistische Lesarten anbieten zu können. Die Welt von heute ist erschrocken und zugleich fasziniert von den Erschütterungen, die sie weitgehend blind gemacht hat gegenüber Entwicklungen, die sich über einen langen Zeitraum angebahnt haben.

In ihrem Buch „Die Moskau-Connection“ (C.H. Beck) zeichnen die Journalisten Reinhard Bingener und Markus Wehner den Weg nach, wie Deutschland in die energiepolitische Abhängigkeit Russlands geriet. Es handelt von der klandestinen Netzwerkbildung des aufstrebenden SPD-Politikers Gerhard Schröder in der niedersächsischen Provinz und endet nicht bei der Arglosigkeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel, an den Grundzügen der männerbündischen Schröder-Putin-Verbindung festzuhalten.

Was gesellschaftlich derzeit als Disruption erfahren wird, hat eine sich erstaunlich langsam vollziehende Vorgeschichte, die nicht allein schon dadurch erzählt ist, indem man deren Protagonisten ausmacht und die Schuldigen benennt. Schröders verhängnisvolle Russlandpolitik wurzelt nicht zuletzt in dem Motiv, auf diese Weise der historischen Schuld und den Kriegstraumata gerecht werden zu können. Die Auswirkungen dieser Haltung waren noch in der Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine kurz vor Putins Überfall am 24. Februar 2022 zu spüren. Man könne nicht liefern, so Außenministerin Annalena Baerbock, „wegen unserer Geschichte“.

Der Vorwurf politischer Naivität ist schnell erhoben. Wie die Geschichte weitergeht, wird stark vom Verständnis der Welt von gestern abhängen, über die man sich immer wieder neu verständigen muss, wenn man falschen Gefühlen nicht fahrlässig aufsitzen will.