Wie spricht man miteinander, wenn das Gespräch überfällig ist? Indem man einfach damit anfängt. Die Idee, eine Rednerliste nach dem Alphabet aufzustellen und dabei nicht wie üblich die Nachnamen, sondern die Vornamen zu sortieren, hatte in der Akademie der Künste am Sonnabend einen besonderen Effekt. Der Dichter Volker Braun wurde zuletzt aufgerufen, dabei hätte er in anderer Zählweise zu den Ersten gehört. Was er sagte, wäre auch für einen Anfang gut gewesen.
Er nahm Bezug auf den Namen der Veranstaltung: „3. Berliner Begegnung“. Wie sich herausstellte, hat er als Einziger der Anwesenden die Treffen eins und zwei miterlebt – vor 41 beziehungsweise 39 Jahren in Ost- und West-Berlin. Damals, nach dem Nato-Beschluss zur Stationierung von Pershing-II-Raketen, habe Lebensgefahr für Europa bestanden, sagte er. Und „eine rückhaltlose Debatte“ war geradezu herausgefordert. Heute, angesichts eines Eroberungskrieges in Europa, „kann nicht richtig geredet werden, da es richtig zu handeln gilt“. Volker Braun hat in seinen Theaterstücken und Gedichten die Frage eines gerechten Friedens zwischen Völkern und in einer Gesellschaft oft thematisiert. Es klang, als versuchte er eine Versöhnung der im Moment Unversöhnlichen im Akademie-Gebäude und darüber hinaus, indem er das „unbändige Wollen“ aller Völker zu berücksichtigen bat.
Andere Themen als der Krieg verpufften
Die Ost-West-„Berliner Begegnungen“ Anfang der 80er trugen den Beinamen „zur Friedensförderung“. Der Zusatz diesmal, bei der öffentlichen Veranstaltung zur Mitgliederversammlung der Akademie der Künste, hieß „Gedanken zur Zeit“. So kamen auch über die Friedensfrage hinausgehende Themen zur Sprache. Sie verpufften.
Als einer der Ersten sprach Aleš Šteger über die Situation des ungarischen Schriftstellerverbandes, dem sämtliche staatlichen Gelder gestrichen worden seien. Er regte an, eine europäische Ombudsstelle gegen die Einschränkung kultureller Freiheit zu gründen. Die Filmregisseurin Helke Sander, die nicht anwesend sein konnte, ließ ein Flugblatt verteilen, das auf Femizide hinweist und auffordert, über den Zusammenhang von Frauenfeindlichkeit und nationalem sowie religiösem Fanatismus nachzudenken. Das Klima kam vor, dessen Schutz im Grundgesetz steht, weshalb die Komponistin Iris ter Schiphorst die Kriminalisierung der Vertreter der „Letzten Generation“ kritisierte.

Das Sprechen über den Krieg zog sich durch den Abend. Der Film- und Theaterregisseur Andres Veiel erzählte von einer Begegnung mit einem aus der Ukraine geflohenen alten Mann, der mit seinen Albträumen in Deutschland nicht zurechtkam und zurück nach Charkiw ging. In die Stadt, wo Veiels Großvater mit der deutschen Wehrmacht einmarschiert war. Damit sei die Frage, was der Krieg mit uns zu tun habe, für ihn keine theoretische mehr gewesen. Denselben Vornamen wie Veiels Gesprächspartner, Leonid, trägt ein viel jüngerer Ukrainer, mit dem der Autor Gustav Seibt über Telegram in Kontakt ist. Er sei von der Krim in die Nähe von Kiew geflohen, sagte Seibt, schreibe von seinen unmittelbaren Erlebnissen, aber auch von seiner Angst davor, dass russische Gesetze dort gelten könnten, wo er lebt. Denn er sei schwul.
Kathrin Schmidt und der Strom für die Ukraine
Neben diesen nachdenklichen Stimmen standen mehrere eher appellierende Redebeiträge, die Verhandlungen zum Stopp des Krieges gegen die Ukraine forderten oder einen Waffenstillstand. „Frieden schließt man mit Feinden“, sagte der Schriftsteller Ingo Schulze. Seine Kollegin Daniela Dahn sprach von einem Krieg der Narrative, sagte einerseits: „Wir müssen entgiften“, führte andererseits die These aus, nach der die USA und die Nato ihren Anteil an der Entwicklung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine hätten.
Kathrin Schmidt fragte einige Buchstaben in der Rednerliste später, ob es sich um einen Stellvertreterkrieg handele und bekam Beifall, als sie behauptete, die Medien würden im Falle Russlands eifrig das Wort „Angriff“ vor das Wort Krieg setzen. „Es soll etwas mit uns gemacht werden durch solche Art Berichterstattung.“ Die Schriftstellerin äußerte ihr Befremden über „unser Außenministerin spielendes Greenhorn“, weil Annalena Baerbock vorgeschlagen hatte, Generatoren aus Lokomotiven für die Notstromversorgung in die Ukraine zu schicken.
Tags zuvor, beim öffentlichen Kongress anlässlich des ersten Treffens des PEN Berlin nach dessen Gründung im Sommer, war die Notstromversorgung für die Ukraine ein Thema außerhalb der Tagesordnung. Der Sprecher der Schriftstellervereinigung, Deniz Yücel, holte zwei Autoren auf die Bühne des Festsaals Kreuzberg. Sie stellten eine Idee vor, wie das Freiwilligennetzwerk des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan unterstützt werden könnte: „Feuerwehrautos für Charkiw“. Rüstwagen von deutschen Feuerwehren könnten im Osten der Ukraine mit ihren Notstromgeneratoren den Menschen helfen, Trinkwassertanks und zusätzliche Hilfsgüter transportieren. Wer online spendet (penberlin.de/spenden), möge das Wort „Feuerwehr“ hinzusetzen; zwei Autos seien bereits reserviert.
Jan Fleischhauer: Beleidigung aushalten
„Der Trick ist zu reden“, war die PEN-Veranstaltung überschrieben. Zu drei Themen kamen je vier Gesprächspartner zusammen, um Tücken der literarischen Arbeit, vor allem aber gesellschaftliche Fragen zu verhandeln. Der Journalist Jan Fleischhauer wünschte sich weniger Angst vor Beleidigungen, dafür gebe es in der deutschsprachigen Publizistik mit Alfred Kerr und Karl Kraus schließlich eine gute Tradition. Auch sein Kollege Ijoma Mangold zeigte sich genervt von einer Empfindlichkeit, die schnell Argumente klassifiziere und einen Sturm der Entrüstung auslöse.
Die Autorin Manja Präkels verwies darauf, dass solche Debatten an vielen Menschen vorbeigingen. Sie berichtete aus ostdeutschen Kleinstädten, wo Leute sich aus Angst vor Ärger mit den Nachbarn nicht mit Flüchtlingen solidarisieren würden oder lieber keine Maske trügen, um nicht dafür beschimpft zu werden. Die kurdische Lyrikerin Meral Simsek, die jetzt auf Initiative des PEN in Berlin ist, sagte, dass Literatur die Erinnerung an Gewalt und Verbrechen wachhalten könne. Sie hat erlebt, wie politisch ihr Schreiben in der Türkei verstanden wird: Die Anklageschrift, die ihr „Propaganda für eine Terrororganisation“ vorwirft, zitiert aus ihren Gedichten.
Die Gespräche waren kurz, aber die Redner nahmen aufeinander Bezug, zwei Moderatorinnen und ein Moderator mühten sich, den Austausch munter zu halten. Das hakte ein bisschen, hatte aber einige Höhepunkte mit echtem Hin und Her der Argumente. Bei der „3. Berliner Begegnung“ mit ihrer Reihung der Sprecher gab es solch einen Austausch vielleicht hinterher, als Leute noch herumstanden oder sich zum Wein an einem Tisch trafen. Während der zweieinhalb Stunden mit angeschalteten Mikrofonen nahm keiner auf den anderen Bezug. Die Einladung, man könne per Handzeichen Zwischenrufe anmelden oder sich nachträglich auf die Sprecherliste setzen lassen, nahm niemand an.
Zwischenrufe bei Svetlana Lavochkina
Der Tiefpunkt war erreicht, als die in Saporischschja geborene, in Leipzig lebende Schriftstellerin Svetlana Lavochkina an der Reihe war. Sie erzählte kurz, dass die Ukraine nicht erst jetzt angegriffen werde, sondern dass bereits das Aushungern durch den Holodomor eine russische Strategie gegen das ukrainische Volk gewesen sei, wie auch der Emser Erlass des Zaren von 1876, der die Verwendung der ukrainischen Sprache im Kaiserreich verbot. Die Ukraine sei heute auf die Unterstützung durch den Westen angewiesen. Und sie, Lavochkina, empfinde „nichts anderes als Ekel“, wenn sie an den Brief prominenter deutscher Intellektueller gegen Waffenlieferungen für die Ukraine denke. Da wurden hämische Zwischenrufe laut, nur drei, vier Stuhlreihen von Lavochkina entfernt. Das war die einzige direkte Reaktion, sonst konnten alle Redner ihre Beiträge ungehindert vortragen. Und die Höflichkeit reichte auch nicht für einen freundlichen Applaus im Anschluss.



