Ukraine-Krieg

Selenskyj verkündet Gegenangriffe – aber ist das auch die Großoffensive?

Die ukrainische Armee geht laut Selenskyj mit „Gegenoffensiv- und Defensiv-Aktionen“ gegen russische Truppen vor. Doch ob das die angekündigte Gegenoffensive ist, lässt der ukrainische Präsident offen.

Im Rahmen der Verteidigung liefen Gegenangriffe in der Ukraine, sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. 
Im Rahmen der Verteidigung liefen Gegenangriffe in der Ukraine, sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Efrem Lukatsky/AP

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat ukrainische Gegenangriffe entlang der Front bestätigt. In der Ukraine fänden derzeit „Gegenoffensiv- und Defensiv-Aktionen“ gegen die russischen Truppen statt, er werde aber „keine Einzelheiten“ nennen, sagte Selenskyj am Samstag bei einer Pressekonferenz in Kiew. Er ließ damit offen, ob es sich um die schon lange erwartete Großoffensive der Ukraine handelt. Am Freitag hatte Kreml-Chef Wladimir Putin erklärt, die ukrainische Gegenoffensive habe begonnen.

Nach Angaben aus Moskau gab es zuletzt schwere Kämpfe vor allem im Süden der Ukraine. Putin hatte am Freitag vom Beginn der ukrainischen Gegenoffensive gesprochen, die ukrainische Armee habe aber „ihre Ziele nicht erreicht“.

Selenskyj: Ich glaube weder Telegram-Kanälen noch Putin

Selenskyj nannte zu den Entwicklungen an der Front keine Einzelheiten, auf die Frage eines Journalisten zu Putins Bemerkungen sagte er am Samstag aber: „Es ist interessant, was Putin über unsere Gegenoffensive gesagt hat. Es ist wichtig, dass Russland immer spürt, dass es meiner Meinung nach nicht mehr viel Zeit hat.“ Er würde weder Telegram-Kanälen noch Putin glauben, die das Scheitern der Offensive erklärten, sagte Selenskyj. Er sei täglich im Gespräch mit seinen Generälen und die seien „in guter Stimmung“. „Das können Sie Putin so mitteilen.“

Der ukrainische Generalstab hat bislang öffentlich noch nichts zum Beginn der Gegenoffensive mitgeteilt, da die ukrainische Seite Stillschweigen über ihre Großoffensive gelobt hat. Die Offensive wird seit März erwartet. Für ihre Durchführung hat Kiew von westlichen Verbündeten zahlreiche Waffensysteme bekommen, unter anderem deutsche Panzer vom Typ Leopard. Mit der Großoffensive will die ukrainische Führung von Russland besetzte Territorien des eigenen Landes zurückerobern. Zuletzt gab es Berichte über schwere Gefechte im Süden der Ukraine. Russland hat das Nachbarland am 24. Februar 2022 überfallen und hält derzeit rund 20 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets besetzt.

ISW: Ukrainische Angriffe an mindestens vier Frontabschnitten

Nach Angaben des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) hat die Ukraine in den vergangenen Tagen an mindestens vier Frontabschnitten Gegenangriffe durchgeführt. Demnach haben Gefechte in der Nähe der Stadt Bachmut, bei der Stadt Kreminna, im Südwesten der Region Donezk sowie im Westen der Region Saporischschja stattgefunden, hieß es in dem jüngsten Lagebericht vom Freitag (Ortszeit) unter Berufung auf Angaben aus Kiew, Moskau und von russischen Militärbloggern.

Laut dem ISW behaupteten in den vergangenen Tagen russische Militärblogger und Medien „voreilig“, dass die ukrainische Gegenoffensive gescheitert sei. Nachdem Aufnahmen von der Front in Saporischschja mit vom Westen gelieferten beschädigten oder zerstörten Panzern kursierten, hätten einige prominente russische Ultranationalisten behauptet, dass dies auf ein Scheitern einer groß angelegten Gegenoffensive hindeute.

Russische Luftwaffe über der Südukraine ungewöhnlich aktiv

Zum Verlauf der Gefechte gab es widersprüchliche Angaben. Großbritannien geht in einigen Abschnitten von militärischen Fortschritten der Ukraine aus. Während in einigen Gegenden bei Einsätzen in den vergangenen 48 Stunden im Osten und Süden gute Fortschritte erzielt und die erste russische Verteidigungslinie durchbrochen worden sei, gehe es für die Ukrainer anderswo langsamer voran. Genauere Angaben wurden nicht gemacht. Die russische Luftwaffe sei über der Südukraine zudem ungewöhnlich aktiv gewesen, hieß es weiter. Selenskyj hatte in seiner abendlichen Videoansprache am Freitag von „besonders schwierigen Schlachten“ gesprochen.

Beobachter gehen davon aus, dass die ersten Angriffe einer Gegenoffensive Schwachstellen in der russischen Verteidigung aufspüren und Moskaus mögliche Verteidigungstaktik offenlegen sollen, bevor von Kiew größere Teile seiner im Westen ausgebildeten Soldaten und vom Westen erhaltene Waffen in den Kampf geschickt werden.

Odessa: Russischer Drohnenangriff mit drei Toten

Am Samstag sprach Serhij Tscherewaty, Sprecher des Ostkommandos der ukrainischen Armee, lediglich von einem ukrainischen Vorrücken um 1400 Meter rund um die zerstörte Stadt Bachmut im Osten des Landes - deren Einnahme Moskau im Mai vermeldet hatte.

In Odessa gab es ukrainischen Angaben zufolge in der Nacht zum Samstag einen russischen Drohnenangriff mit drei Todesopfern. Demnach zerstörte die ukrainische Luftabwehr alle Drohnen, herunterfallende Trümmerteile trafen jedoch ein Wohnhochhaus, wodurch ein Brand ausgelöst wurde. Neben den drei Toten gab es den Angaben zufolge 26 Verletzte, darunter drei Kinder.

Wasserstand in der Region Cherson sinkt

Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der südukrainischen Region Cherson begann unterdessen der Wasserstand nach ukrainischen Angaben teils zu sinken. 35 Siedlungen auf der rechten Seite des Flusses Dnipro seien noch überflutet, mehr als 3700 Häuser stünden unter Wasser, „aber das Wasser geht allmählich zurück“, erklärte Oleksandr Prokudin, Chef der ukrainischen Militärverwaltung in der Region Cherson, am Freitag.

Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev, schätzte die Kosten der Schäden durch die Staudamm-Zerstörung auf Milliarden. „Städte, Infrastruktur, ganze Industrien müssen wieder aufgebaut werden“, sagte der Diplomat den Zeitungen der Funke Mediengruppe vom Samstag. Nach der Explosion an dem ukrainischen Staudamm hatte die ukrainische Regierung laut Funke einen Antrag auf Soforthilfe beim Bundesaußenministerium gestellt und unter anderem um Tanklaster für die Trinkwasserversorgung, Feuerwehrschläuche, Rettungsbojen, Motorpumpen für Schmutzwasser und Schwimmwesten gebeten.

Der in russisch besetztem Gebiet liegende Kachowka-Staudamm am Fluss Dnipro war in der Nacht zum Dienstag zerstört worden, riesige Wassermassen überschwemmten große Gebiete. Tausende Menschen mussten ihre Häuser verlassen. Kiew und Moskau werfen sich gegenseitig vor, den Staudamm zerstört zu haben.