Riesige Wassermassen haben durch die Sprengung des Kachowka-Staudamms im Kriegsgebiet der von Russland angegriffenen Ukraine Dutzende Ortschaften geflutet. Das mehr als 60 Jahre alte Wasserkraftwerk und die Staumauer des Dnipro-Flusses im Gebiet Cherson im Süden der Ukraine sind zerstört. Häuser stehen unter Wasser. 80 Orte liegen im Überschwemmungsgebiet. Tausende Menschen müssen gerettet werden. Landwirtschaftliche Flächen für den wichtigen Getreideanbau sind überschwemmt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht von der „größten menschengemachten Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten“.
In der Nacht zum Dienstag um 2.50 Uhr kommt es nach Darstellung aus Kiew zu einer folgenschweren Explosion im Maschinenraum des Wasserkraftwerks nahe der von russischen Truppen besetzten Stadt Nowa Kachowka. Auch der obere Teil der Staumauer des Kachowka-Sees wird zerstört. Wenige Stunden später wirft die Ukraine dem „Terrorstaat Russland“ ein neues Kriegsverbrechen vor und fordert den Westen zu einem noch härteren Vorgehen gegen Moskau auf.
Eine Katastrophe bisher nicht gekannten Ausmaßes
Während Staatschef Selenskyj die Zerstörung des für die Trinkwasserversorgung und für die Landwirtschaft wichtigen Stausees und Kraftwerks mit dem Einsatz einer Massenvernichtungswaffe vergleicht, kämpfen die Menschen mit den Folgen der Flutkatastrophe. In sozialen Netzwerken werden Videos von Rettungsaktionen gezeigt. Helfer tragen Menschen, die nicht laufen können, auf Tüchern aus ihren überschwemmten Wohnungen. Viele sind von der Trinkwasserversorgung abgeschnitten. Es gibt Stromausfälle. Über mögliche Tote und Verletzte ist bis zum Nachmittag noch nichts bekannt.
#Ukraine 🇺🇦: another drone video of the massive flooding as a consequence to the Nova Kachovka dam destruction.
— Thomas van Linge (@ThomasVLinge) June 6, 2023
Many towns, including the city of #Kherson are located downstream from here. pic.twitter.com/oPFaZ7jyAR
Nach mehr als 15 Monaten Krieg sind die Menschen in der Region viel gewöhnt. Doch das ist eine humanitäre Katastrophe bisher nicht gekannten Ausmaßes. Das von Russland völkerrechtswidrig annektierte Gebiet Cherson ist seit Beginn des Krieges am 24. Februar 2022 umkämpft. Zwar hat die Ukraine nach einer erfolgreichen Offensive im vergangenen Sommer die Gebietshauptstadt Cherson zurückerobert. Doch kontrolliert Russland auch nach jener Niederlage weiter den größten Teil des Gebiets.
Weil Russland auch die Hoheit über das Wasserkraftwerk hat, sehen Selenskyj und andere in der Führung in Kiew Russland für den Anschlag in der Verantwortung. „Es ist physikalisch unmöglich, es von außen durch Beschuss irgendwie in die Luft zu jagen. Es wurde von den russischen Besatzern vermint. Und sie haben es in die Luft gesprengt“, sagt Selenskyj. Umgesetzt haben soll die Sprengung nach ersten Erkenntnissen ukrainischer Geheimdienste die 205. Motorisierte Schützeneinheit der russischen Armee.
Gesprengter Staudamm: Kiew sieht „Terroranschlag“ Moskaus
Die Region ist der Brotkorb der Ukraine. Bewässerungssysteme der Landwirtschaft und Agrarflächen sind zerstört. Doch die politische Debatte kreist auch um die militärische Bedeutung der Zerstörung des Kraftwerks. Der Kreml und die russische Militärführung machen ukrainische Saboteure verantwortlich für den „Terroranschlag“, Moskaus zentrales Ermittlungskomitee schickt Fahnder zum Kraftwerk. Auf einem Video der Behörden ist zu sehen, wie Uniformierte sich an dem zerborstenen Damm und dem reißenden Strom ein Bild von der Lage machen.
In Moskau und Kiew zählen derweil die Experten Argumente auf, welche Vorteile die Sprengung des Staudamms für die jeweilige Kriegspartei haben könnte. Russische Militärblogger kommentieren, dass es leicht sei, Moskau für die Tat verantwortlich zu machen. Aber das russische Militär würde sich damit selbst ins Knie schießen. Durch die Fluten aus dem Stausee seien nun befestigte Verteidigungsstellungen auf der russisch kontrollierten Seite des Dnipro-Flusses zerstört und vermintes Gebiet geflutet. Die russischen Truppen seien zum Rückzug gezwungen, hieß es.
Wenn der Stausee ausgelaufen sei, könnten die ukrainischen Streitkräfte über den Dnipro viel einfacher auf die andere Uferseite gelangen, um den Rest des Gebiets Cherson zu befreien, hieß es in einem Blog. Brücken gibt es dort schon nicht mehr. Zudem - darauf weist auch Kremlsprecher Dmitri Peskow hin - gehe es der Ukraine mit der Zerstörung des Damms einmal mehr darum, die Wasserversorgung der nahe gelegenen und von Moskau schon seit 2014 besetzten Schwarzmeer-Halbinsel Krim zu stören.
Schon vor dem Krieg war die Krim, die Kiew im Zuge ihrer Offensive von der russischen Besatzung befreien will, viele Jahre von der ukrainischen Wasserversorgung abgeschnitten. Unterm Strich sei der strategische Nutzen, den Kiew sich mit der Sprengung des Staudamms erfüllen wolle, offensichtlich, heißt es in Moskau.
Selenskyj: Katastrophe bei Cherson wird Gegenoffensive nicht verhindern
In Kiew stoßen solche Erklärungen auf scharfe Kritik. Der Berater des Präsidentenbüros in Kiew, Mychajlo Podoljak, warnt schon früh am Tag davor, russischer Propaganda aufzusitzen. Er sieht das Motiv für den „Terroranschlag“ klar bei Moskau. Offensichtliches Ziel Russlands sei es, unüberwindbare Hindernisse für die geplante ukrainische Großoffensive zu schaffen. Russland versuche, das Ende des Krieges hinauszuzögern, sagt er.
Zugleich heißt es wenig später in Kiew, auf den militärischen Verlauf habe das keinen Einfluss für die Ukraine. Im ukrainischen Fernsehen gibt Podoljak die Linie am frühen Morgen vor, Russland wolle mit dem Anschlag im umkämpften Gebiet Cherson wieder die Initiative im Krieg an sich reißen und die europäischen Staaten einschüchtern. Auch Experten bekräftigen, Russland wolle dem Westen zeigen, dass es keine roten Linien kenne und den Krieg nun auf eine neue Stufe hebe. Ziel Moskaus sei es, den Westen doch dazu zu bringen, auf Kiew einzuwirken, damit es zu Friedensverhandlungen komme.















