Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist am Mittwoch nach Berlin gereist. Bilder zeigten seine Autokolonne am Vormittag zunächst auf dem Weg ins Regierungsviertel durch Berlin. Scharfschützen haben sich derweil am Kanzleramt und Potsdamer Platz positioniert – auch die Wasserpolizei ist auf der Spree im Einsatz.
Im Kanzleramt kam Selenskyj am Mittag mit Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) zusammen. Bei einer anschließenden gemeinsamen Pressekonferenz sagte Merz, Deutschland werde die Ukraine bei der Beschaffung weitreichender Waffen unterstützen. Dabei werde es „keine Reichenweitenbeschränkungen geben“ und „die Ukraine kann sich damit vollumfänglich verteidigen, auch gegen militärische Ziele außerhalb des eigenen Staatsgebiets“, fügte Merz hinzu. Die Waffen sollen in Deutschland oder der Ukraine produziert werden. Dies sei der Beginn einer neuen Form der militärisch-industriellen Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern, die erhebliches Potenzial berge. Einer direkten Frage zu möglichen Taurus-Lieferungen wich Merz aus.
Russland warf Merz wegen der Zusage weiterer Unterstützung für die Ukraine Kriegstreiberei vor. Der Bundeskanzler provoziere mit seinen Äußerungen die Weiterführung des Kriegs, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. „Das ist nichts anderes als der Versuch, die Ukrainer dazu zu zwingen, weiterzukämpfen“, sagte er. Dies sei „sehr unverantwortlich“ - Berlin torpediere damit auch die Bemühungen, eine diplomatische Lösung für den Konflikt zu finden.
Außenminister Johann Wadephul wies den Vorwurf scharf zurück. „Wenn es jemanden gibt, der über Kriegstreiberei nicht reden darf, dann ist es (Kremlsprecher Dmitri) Peskow, weil er und sein Regime nicht nur das verbal macht, sondern tatsächlich einen rechtswidrigen, völkerrechtswidrigen Krieg betreibt“, sagte der CDU-Politiker nach einem Gespräch mit seinem US-Kollegen Marco Rubio in Washington. Er fügte hinzu: „Und deswegen lassen wir uns von ihm in keiner Weise belehren.“

Deutschland sichert Ukraine Militärhilfe im Wert von fünf Milliarden Euro zu
Die Bundesregierung sagte der Ukraine insgesamt fünf Milliarden Euro für weitere militärische Unterstützung zu. Mit den Geldern solle einerseits die am Mittwoch angekündigte Produktion weitreichender Waffen durch die Ukraine finanziert werden, teilte das Bundesverteidigungsministerium mit. Teil des Pakets seien auch „weitere Munitionspakete für verschiedene Waffensysteme“ und zusätzliche „Landwaffensysteme und Handwaffen“.
Hinzu komme die Finanzierung von Instandsetzung-Einrichtungen in der Ukraine sowie die Herstellung medizinischer Ausrüstung durch die Ukraine, hieß es weiter. Das Ministerium verwies zudem darauf, dass die Ukraine mit dem deutschen Rüstungskonzern Diehl einen Vertrag unterzeichnet habe, „in dem die Lieferung von Luftverteidigungssystemen und entsprechender Munition vereinbart“ wurde.
Die Finanzierung des Unterstützungspakets erfolge durch Mittel, die der Bundestag bereits bewilligt hat, hieß es weiter. „Die teils direkten Investitionen in die ukrainische Rüstungsindustrie und die Kooperationen der Rüstungskonzerne“ seien „erklärtes Ziel der Bundesregierung“. Damit könne „eine langfristige und nachhaltige Stärkung der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit und eine Nutzung verfügbarer Kapazitäten in der Ukraine erreicht werden“.
Merz schließt Inbetriebnahme von Gaspipeline Nord Stream 2 aus
Selenskyj erklärte zudem, der ukrainische Verteidigungsminister, der das ukrainische Verhandlungsteam in Istanbul leitete, habe mit dem Leiter des russischen Verhandlungsteams telefoniert. Was genau besprochen wurde, war zunächst unklar.
Merz schloss eine Nutzung der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 für Gaslieferungen aus Russland aus. Seine Regierung werde „alles tun, damit Nord Stream 2 eben nicht wieder in Betrieb genommen werden kann“. Angesichts der massiven Angriffe Russlands auf die Ukraine werde Deutschland den Druck auf Russland weiter erhöhen, so der Kanzler. Ziel müsse es sein, „die Kriegsmaschine Moskaus zu schwächen“. Gleichzeitig gehe es aber auch darum, „den Weg für Verhandlungen“ über eine Waffenruhe zu öffnen.
Die Nord-Stream-Pipelines waren für den Transport von russischem Gas nach Deutschland gebaut worden. Sie standen im Mittelpunkt geopolitischer Spannungen, als Russland die Gaslieferungen über Nord Stream 1 stoppte - mutmaßlich als Reaktion auf die westlichen Sanktionen angesichts des russischen Einmarsches in die Ukraine. Nord Stream 2 ging nie in Betrieb. Bei Explosionen, deren Ursache bis heute ungeklärt ist, waren dann Ende September 2022 die unter der Ostsee von Russland nach Deutschland verlaufenden Gasleitungen Nord Stream 1 und Nord Stream 2 beschädigt worden.

Über den geplanten Besuch Selenskyjs in Berlin hatten in den vergangenen Tagen mehrere Medien berichtet, obwohl solche Reisen aus Sicherheitsgründen in der Regel möglichst bis zuletzt geheim gehalten werden. Eine offizielle Bestätigung gab es erst wenige Stunden vorher. „Bei dem Besuch wird es um die deutsche Unterstützung der Ukraine und die Bemühungen um einen Waffenstillstand gehen“, teilte Regierungssprecher Stefan Kornelius am Morgen mit.

Merz sorgt für Verwirrung: Debatte um Taurus-Lieferungen flammt auf
Merz hatte am Montag gesagt, es gebe „keinerlei Reichweitenbeschränkung mehr für Waffen“ und auf entsprechende Absprachen mit europäischen Verbündeten und den USA verwiesen. Damit hatte er für Wirbel gesorgt, weil zunächst unklar war, inwiefern es sich dabei um eine neue Maßnahme handelte. Aus Russland kamen wütende und teils hämische Reaktionen.
Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter hatte die Bundesregierung daraufhin aufgefordert, Lieferungen des Taurus-Marschflugkörpers mit einer Reichweite von 500 Kilometern zu veranlassen. Es sei nun „allerhöchste Zeit, endlich an Taurus auszubilden und das System zu liefern“, sagte er der Augsburger Allgemeinen vom Mittwoch. Der Taurus könne „zumindest in Teilen eine Entlastung bringen und somit die Zivilbevölkerung in der Ukraine schützen, wenn das System in größerer Zahl geliefert wird“.
Merz’ Aussage sei „faktisch nicht relevant für Deutschland“. Deutschland liefere bislang gar keine weitreichenden Waffensysteme, die Aussage habe damit keine praktischen Folgen für die Ukraine. Der Raketenwerfer Mars II hat eine Reichweite von 85 Kilometern, die Panzerhaubitze 2000 hat eine Reichweite von 35 Kilometern. Kiesewetter forderte die Bundesregierung auf, echte Konsequenzen zu ziehen. Merz wollte eigentlich öffentlich nicht mehr detailliert über Waffenlieferungen an die Ukraine informieren.
Ukrainekrieg: Russland zieht Zehntausende Soldaten zusammen
Derweil halten die Kampfhandlungen zwischen Moskau und Kiew an. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums überzog die Ukraine Russland in der Nacht auf Mittwoch mit massiven Drohnenangriffen. Insgesamt seien fast 300 ukrainische Drohnen abgefangen worden. Selenskyj meldete zudem einen Truppenaufmarsch Moskaus an der Front in der ukrainischen Region Sumy. Russland habe mehr als 50.000 Soldaten zusammengezogen und bereite sich auf eine Offensive in der Region vor, erklärte der ukrainische Präsident.
Nach Selenskyjs Treffen mit Merz steht ein Treffen mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für 15.15 Uhr im Schloss Bellevue auf dem Programm. Es ist der vierte Besuch Selenskyjs in der deutschen Hauptstadt seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine vor mehr als drei Jahren – und der erste seit dem Amtsantritt der neuen Bundesregierung. (mit dpa/AFP)


