Nato-Luftraum verletzt

Tusk zu Drohnen: „So nah am offenen Konflikt wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr“

Polen meldet 19 Verletzungen seines Nato-Luftraums durch angeblich russische Drohnen. Einige drangen bis tief ins Landesinnere vor. Premier Tusk warnt vor der gefährlichsten Lage seit Jahrzehnten.

Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hälam Mittwoch t eine Rede bei der Krisensitzung der Regierung.
Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hälam Mittwoch t eine Rede bei der Krisensitzung der Regierung.AP

Polen hat nach eigenen Angaben in der Nacht zum Mittwoch 19 Verletzungen seines Luftraums durch offenbar russische Drohnen registriert. Einige drangen bis tief ins Landesinnere vor, eine sogar rund 250 Kilometer von der Grenze entfernt. Premierminister Donald Tusk sagte bei einer Krisensitzung im Parlament in Warschau, drei der Flugobjekte seien sicher abgeschossen worden, vermutlich auch ein viertes. „Ich habe keinen Grund zu behaupten, wir stünden am Rande eines Krieges, aber eine Grenze wurde überschritten, und es ist unvergleichlich gefährlicher als zuvor“, warnte Tusk. „Diese Situation bringt uns einem offenen Konflikt so nahe wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.“

Erstmals seit Beginn des Ukrainekriegs sollen nach Tusks Worten auch Drohnen direkt aus Belarus in den polnischen Luftraum eingedrungen sein. Minsk wiederum erklärte, einige Flugkörper seien wegen elektronischer Störungen vom Kurs abgekommen und von der belarussischen Luftabwehr über eigenem Gebiet abgeschossen worden. Der belarussische Generalstabschef Pavel Muraveiko betonte, man habe Polen und Litauen zwischen 23 Uhr und 4 Uhr über die Annäherung der Drohnen informiert – was Polen ein rasches Eingreifen ermöglicht habe. Nach Angaben der belarussischen Staatsagentur Belta habe zudem auch die polnische Seite Minsk über Drohnen aus der Ukraine unterrichtet. Diese Angaben konnten zunächst nicht unabhängig überprüft werden.

Als Reaktion beantragte Warschau Konsultationen bei der Nato. Der Nordatlantikrat kam nach Angaben von Diplomaten noch am Mittwoch zu Beratungen nach Artikel 4 des Bündnisvertrags zusammen. Verteidigungsminister Wladyslaw Kosiniak-Kamysz erklärte, polnische Jets hätten ihre Waffen gegen „feindliche Objekte“ eingesetzt, auch Nato-Kampfjets seien gestartet.

Der russische Geschäftsträger in Warschau, Andrej Ordasch, erklärte laut der kremlnahen Nachrichtenagentur RIA Nowosti, Polen habe keine Beweise für die russische Herkunft der abgeschossenen Drohnen vorgelegt. Ordasch war zuvor ins polnische Außenministerium einbestellt worden.

Wohnhaus in Wyryki beschädigt

In der Ortschaft Wyryki in der Region Lublin wurde ein Wohnhaus von Drohnentrümmern getroffen. Das Dach und Teile der Fassade stürzten auf ein geparktes Auto. Verletzt wurde niemand. Polizeisprecher Andrzej Fijołek sagte gegenüber Polsat News, dass es sich um Teile einer russischen Drohne handele. Der Landrat Mariusz Zańko berichtete von Explosionen und Überflügen polnischer Kampfjets. Anwohner seien stark verunsichert, Mitarbeiter des Landratsamts begannen mit der Schadensaufnahme.

Absturz 250 Kilometer von der Grenze entfernt

Neben den Funden im Osten meldeten Behörden auch einen Vorfall tief im Landesinneren. Laut dem öffentlich-rechtlichen Sender TVP World stürzte eine mutmaßliche russische Drohne in der Gemeinde Mniszków ab – rund 250 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt und etwa 140 Kilometer südwestlich von Warschau. Nach Informationen des Portals Epiotrkow soll das unbemannte Fluggerät wegen Treibstoffmangels abgestürzt sein. Es handelte sich demnach um eine Kamikaze-Drohne vom Typ Shahed-136/Geran-2, die im Iran produziert wird. Ein Such- und Sicherungseinsatz in der Region läuft.

Orte mit Drohnenfunden in Polen

Region Lublin (Osten):
  • Wyryki: Drohne/Trümmer beschädigten Wohnhaus, Dach und Fassade zerstört, keine Verletzten.
  • Czosnówka: beschädigte Drohne von Polizei entdeckt, Fund durch Behörden bestätigt.
  • Cześniki: Staatsanwaltschaft meldete Trümmerteile nahe eines Friedhofs, wohl nach 3 Uhr abgeschossen.
  • Wohyń: Drohnenfragmente gefunden, keine Schäden.
  • Wyhalew: Trümmer entdeckt, keine Verletzten.
  • Krzywowierzba-Kolonia: Bewohner beobachteten Abschuss, Wrackteile bestätigt.
  • Polatycze (bei Terespol): leichtes Flugobjekt abgestürzt, wohl unbewaffnet.
  • Majdan-Sielec (bei Zamość): weitere Drohnenteile, Untersuchungen laufen.
Zentralpolen (Woiwodschaft Łódź):
  • Mniszków: Kamikaze-Drohne vom Typ Shahed-136/Geran-2 abgestürzt, rund 250 km von der Grenze entfernt.

Tusk spricht von 19 Luftraumverletzungen

Ministerpräsident Tusk berief noch am Morgen eine Krisensitzung der Regierung ein. Er sagte vorab: „Die Lage ist ernst, und niemand zweifelt daran, dass wir uns auf verschiedene Szenarien vorbereiten müssen.“ Tusk erklärte später im Parlament, in der Nacht habe es mindestens 19 Verletzungen des polnischen Luftraums gegeben. Nach ersten Meldungen über den russischen Angriff auf die Ukraine sei noch am Dienstagabend das Nato-Frühwarnsystem Awacs aktiviert worden. Die Luftraumverletzungen dauerten bis Mittwochmorgen an. Drei Drohnen seien sicher abgeschossen worden, möglicherweise auch eine vierte. Tusk betonte, es handele sich um den ersten Fall, in dem ein erheblicher Teil der Drohnen direkt aus Belarus gekommen sei – und nicht nur aus Versehen aus der Ukraine.

Ukraine: Putin „testet den Westen“

Aus Kiew kam scharfe Kritik an Moskau. Außenminister Andrij Sybiha warf Kreml-Chef Wladimir Putin vor, den Westen „weiter zu testen“ und den Krieg auszuweiten. „Eine schwache Reaktion jetzt wird Russland noch mehr provozieren, und dann werden russische Raketen und Drohnen noch weiter nach Europa hinein fliegen“, warnte Sybiha im Onlinedienst X.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach auf X von einem „neuen Schritt der Eskalation“. Russisch-iranische Shahed-Drohnen hätten im Luftraum der Nato operiert, so Selenskyj.  Es habe sich nicht nur um eine einzelne Drohne gehandelt, „was man noch als Unfall bezeichnen könnte“, sondern um mindestens acht auf Polen gerichtete Angriffsdrohnen. Der Vorfall sei ein „äußerst gefährlicher Präzedenzfall für Europa“.

Polen schließt Flughäfen, Nato-Kampfjets in der Luft

Verteidigungsminister Kosiniak-Kamysz betonte, die Führung der Nato sei unmittelbar informiert worden. Nach Angaben des Einsatzkommandos wurden nicht nur polnische Kampfjets, sondern auch alliierte Flugzeuge alarmiert. Zudem seien bodengestützte Luftabwehrkräfte in erhöhte Bereitschaft versetzt worden. Daten des Portals Flightradar zeigten in der Nacht den Einsatz eines Saab-340-AEW&C-Frühwarnflugzeugs im polnischen Grenzgebiet zur Ukraine.

Mehrere Flughäfen – darunter der internationale Flughafen Warschau-Chopin sowie die Airports in Lublin und Rzeszow – wurden zeitweise geschlossen. Die US-Luftfahrtbehörde FAA sprach von „ungeplanten militärischen Aktivitäten zur Gewährleistung der Staatssicherheit“.

Merz verurteilt Vorfall in Polen

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) verurteilte den Vorfall „auf das Schärfste“. „Russland hat Menschenleben in einem Staat gefährdet, der der Nato und der EU angehört“, erklärte Merz. „Dieses rücksichtslose Vorgehen reiht sich ein in eine lange Kette von Provokationen.“

Auch Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sprach von einer gezielten „Provokation“ durch Moskau, die sich nicht nur gegen Polen, sondern die gesamte Nato gerichtet habe. Mit Verweis auf Angaben aus Polen betonte er, die Drohnen seien offenbar von Belarus aus gesteuert worden.

Kallas: Anzeichen für „absichtliche“ Verletzung des polnischen Luftraums

Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas hat im Zusammenhang mit den Vorfällen in Polen eine vorsätzliche Verletzung des polnischen Luftraums nicht ausgeschlossen. Es gebe „Anzeichen, dass es absichtlich war, nicht aus Versehen“, schrieb Kallas am Mittwoch im Onlinedienst Bluesky. Es handele sich um die „schwerwiegendste Verletzung des europäischen Luftraums durch Russland seit Kriegsbeginn“, fügte sie hinzu.

Nato-Generalsekretär Mark Rutte bezeichnete die Verletzung des polnischen Luftraums einige Stunden später als „absolut rücksichtslos“. Eine vollständige Bewertung des Vorfalls sei noch im Gange. „An Putin richte ich eine klare Botschaft: Beenden Sie den Krieg in der Ukraine. Hören Sie auf, den Luftraum der Alliierten zu verletzen“, so Rutte.

US-Abgeordneter spricht von „Angriff auf Verbündeten“

Zuvor hatte der republikanische US-Abgeordnete Joe Wilson, Mitglied des Verteidigungsausschusses im Repräsentantenhaus, von einem direkten Angriff auf ein Nato-Land gesprochen. Russische Drohnen, die den polnischen Luftraum verletzten, seien „ein Angriff auf einen Verbündeten“, erklärte Wilson.

In den vergangenen Wochen war es bereits mehrfach zu Luftraumverletzungen gekommen. Dabei gab es zwar keine Verletzten, die Regierung in Warschau hatte aber ein härteres Vorgehen angekündigt. Kosiniak-Kamysz erklärte noch am Dienstag, Drohnen könnten künftig abgeschossen werden, wenn dies militärisch vertretbar sei. Der Kommissar für Verteidigung der Europäischen Union, Andrius Kubilius, forderte in einem X-Beitrag, es müsse „dringend eine ‚Drohnenwand‘ entlang der gesamten Ostflanke der EU“ entwickelt werden.

Polen ist als EU- und Nato-Mitglied einer der engsten Unterstützer der Ukraine und ein wichtiger Transitkorridor für westliche Militär- und Hilfslieferungen. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022 rüstet das Land massiv auf und sieht sich selbst zunehmend von Moskau bedroht. Russland und Belarus halten ab Freitag ihr gemeinsames, großes Manöver „Sapad 2025“ (Westen 2025) ab.


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