Mujtaba Rahman, der Geschäftsführer der Europa-Abteilung bei der Eurasia Group, einer Beratungsfirma für politische Risikoanalyse, hat in einem Gastbeitrag bei Financial Times die Regierung von Olaf Scholz (SPD) scharf kritisiert.
Der deutsch-französische „Motor“, der sechs Jahrzehnte lang das Herzstück der EU gewesen sei, sei zusammengebrochen, schreibt Rahman. „Der größte Übeltäter ist die neue Regierung in Berlin.“
Warum? Bundeskanzler Olaf Scholz kümmere sich nur um die Einheit seiner Koalition und die deutsche Wirtschaft, argumentiert der Politologe. Wenn Scholz den Kopf hebe, um in die Welt außerhalb Deutschlands zu blicken, dann meistens über den Atlantik, aber nicht nach Paris oder Brüssel. Schon allein die Europa-Rede von Scholz vom vergangenen August in Prag bestätige das: Der deutsche Kanzler erwähnte darin Frankreich nur am Rande.
Analyst: Ohne FDP wird die Regierung von Olaf Scholz fallen
Deutschland sei dagegen in der Europa-Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron an der Sorbonne 2017 sechsmal erwähnt worden, vergleicht Mujtaba Rahman. Scholz’ größtes Problem ist nach Rahmans Einschätzung, dass die kleinste Partei seiner Koalition, die FDP, ums Überleben kämpft, nachdem sie seit der Bundestagswahl im September 2021 aus drei Landtagen rausgeflogen ist. Auch bei den Wahlen in Bayern und Hessen in diesem Herbst riskiere die FDP eine Niederlage, prognostiziert der Analyst. Um die Unterstützung der Wähler zurückzugewinnen, seien die Freien Liberalen zu Grundprinzipien zurückgekehrt, also zu kompromisslosen Positionen zu Europa, Finanzpolitik und Klimaschutz.
Ohne die Liberalen würde die Scholz-Regierung fallen, erwartet Rahman. Auch eine neue Mehrheit werde Scholz angesichts der aktuellen Kräfteverhältnisse im Bundestag nicht zustande bringen können. Das erkläre die Abwehrhaltung von Scholz’ Europa-Agenda und auch, warum er dem Verbrenner-Verbot der EU ab 2035 die Unterstützung seiner Regierung entzog, obwohl es in Brüssel als beschlossene Sache galt.
Ohne Scholz’ Willen keine von den USA und China unabhängige EU?
Auch Macron sei nicht frei von Schuld, gibt der Autor des Artikels zu. Der französische Staatschef neige dazu, vom Drehbuch abzuweichen, wie seine viel kritisierten jüngsten Kommentare zu Taiwan zeigten. Macron hatte etwa bei seinem Besuch in China in der letzten Woche für eine unabhängigere Rolle Europas gegenüber den USA und China plädiert und gefordert, dass Europa in der Taiwan-Frage kein „Mitläufer“ sein dürfe. Die Rede hatte auch der SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius als unglücklich kritisiert.
Auch Macron könne heuchlerisch sein, so Mujtaba Rahman. Er beschwerte sich etwa über deutsche Energiepreissubventionen – sprich die Strom- und Gaspreisbremse –, nachdem Frankreich 100 Milliarden Euro für eigene Subventionen ausgegeben hatte.
Es habe auch in der Vergangenheit Probleme zwischen Berlin und Paris gegeben, merkt der Politologe an, zum Beispiel, als Bundeskanzler Gerhard Schröder und Präsident Jacques Chirac nach einem Streit über die EU-Agrarpolitik im Jahr 1999 mehrere Monate lang kaum miteinander gesprochen hätten. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Präsidenten Nicolas Sarkozy und François Hollande hätten als Partner einen schlechten Start gehabt, was sich später aber zu einer „fruchtbaren Ehe“ entwickelt habe.
Neue Kälte zwischen Berlin und Paris „etwas Grundlegendes“
Doch die gegenwärtige Kälte in den deutsch-französischen Beziehungen spiegele etwas Grundlegenderes wider, befürchtet der Analyst. Deutschlands neue Machtstruktur scheint seiner Ansicht nach desinteressiert oder unwillig zu sein, europäisch zu denken. Ohne diesen Willen habe Macron wenig Hoffnung, seine Vision eines „souveränen“ Europas zu verwirklichen – diplomatisch unabhängig von den USA, ohne dabei von China abhängig zu werden.
Dieser Zusammenbruch würde bereits die EU-Agenda beim Klimaschutz untergraben, argumentiert Mujtaba Rahman. Er lasse Zweifel an der Reform des EU-Finanzrahmens und am Stabilitäts- und Wachstumspakt, schaffe weniger Vorhersagbarkeit für Investoren in Bezug auf die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen in den europäischen Volkswirtschaften mit hohem Defizit und hoher Verschuldung. Und er werfe grundlegendere Fragen zu den strategischen Prioritäten der EU auf, insbesondere angesichts des Amtsantritts einer neuen EU-Kommission nach den Wahlen zum Europäischen Parlament im nächsten Jahr. Die heikelsten Probleme werden demnach eine mögliche Erweiterung der EU um Moldawien, den Westbalkan und die Ukraine sowie die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf den Haushalt und die Regierungsführung betreffen.
Zum Schluss warnt Mujtaba Rahman: Fortschritte in diesen Fragen werden ohne Angleichung zwischen Paris und Berlin schwierig, wenn nicht sogar unmöglich sein. In Europa könne nichts Wesentliches passieren, wenn sich seine beiden größten Volkswirtschaften nicht einig seien.





