Rechtsextreme Anschläge

Anschlagsserie in Neukölln: Angeklagter vom Vorwurf der Brandstiftung freigesprochen

Der Angeklagte im Prozess um die Neuköllner Anschlagsserie wurde zwar wegen Sachbeschädigung verurteilt, das Gericht war aber nicht vollständig von seiner Schuld überzeugt. Warum nicht? 

Die Angeklagten im Gericht.
Die Angeklagten im Gericht.dpa

Im Prozess nach der rechtsextremen Anschlagsserie in Neukölln ist einer der beiden Hauptangeklagten am Donnerstag vom Vorwurf der Brandstiftung freigesprochen worden. Die Richterin Ulrike Hauser begründete ihre Verurteilung mit den Worten, das Gericht habe sich nicht mit der erforderlichen Sicherheit von der Schuld des Angeklagten Tilo P. überzeugen können. Demnach sei nicht festzustellen gewesen, ob sich der 39-Jährige in der Nacht zum 1. Februar 2018 in der Nähe der Tatorte aufgehalten habe. 

Anhand der Reaktionen der Prozessbeobachter, die am letzten Tag des Prozesses gegen Tilo P. im Saal B 129 des Amtsgerichts Tiergarten anwesend waren, war schwer zu sagen, ob die Urteilsverkündung sie überrascht hat oder nicht. Man hört mehrere erschrockene Atemzüge, das Geflüster von „Freispruch“ für diejenigen, die zu spät von der Pause zurückkamen. Aber gleichzeitig hatten genau solche Beobachter während des gesamten Prozesses immer wieder davor gewarnt, dass er so enden könnte: wegen nicht überzeugender Beweise und Verdachtsmomenten gegen die Vorgehensweise des Berliner Landeskriminalamts und des Verfassungsschutzes in diesem Fall.

Bis zum letzten Tag der Verhandlungen gegen Tilo P. sagten Zeugen sowohl in seinem Fall als auch in dem von Sebastian T. gemeinsam aus, dem P. bei der Brandstiftung und den Schmierereien Beihilfe geleistet haben soll, so war die Behauptung der Staatsanwaltschaft. Allerdings wurde der Angeklagte vom Amtsgericht Tiergarten wegen Sachbeschädigung in acht Fällen zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen à 30 Euro – also insgesamt 4500 Euro – verurteilt. In drei Fällen seien zudem Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verwendet worden. Der Prozess gegen Sebastian T. wird am 4. Januar fortgesetzt.

Generalstaatsanwaltschaft forderte dreieinhalb Jahre Haft

Die Generalstaatsanwaltschaft hatte für Tilo P. zuvor dreieinhalb Jahre Haft gefordert. Sie warf ihm vor, gemeinsam mit einem mutmaßlichen Komplizen Brandanschläge auf die Autos zweier Männer verübt zu haben, die sich politisch gegen Rechtsextremismus engagieren. Er habe die Opfer vor den Taten ausgekundschaftet und „Schmiere gestanden“. Zudem soll der Angeklagte im August 2017 gemeinsam mit dem 36-Jährigen rechtsextreme Parolen sowie das Konterfei von dem NS-Kriegsverbrecher und Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß sowie SS-Runen an mehreren Orten gesprüht haben.

Die beiden Männer werden der rechtsextremen Szene zugeordnet. Der Jüngere war einst in der NPD, der Ältere zeitweise AfD-Mitglied. Die Verhandlungen gegen sie sind die ersten im Fall des sogenannten Neukölln-Komplexes: Mit den rechtsextremen Brandanschlägen an 23 Autos, Hass-Parolen und Bedrohungen in Neukölln beschäftigt sich gerade ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses.

Einer der Betroffenen der zwei Brandanschläge vom 1. Februar 2018 war Ferat Kocak, ein Mitglied der Linkspartei und des Berliner Abgeordnetenhauses. Als Nebenkläger war er mit seiner Anwältin Franziska Nedelmann auch im Saal anwesend, als die Beweisaufnahme der Generalstaatsanwaltschaft sowie die Schlussverträge und Urteilsverkündung vorgelesen wurden. Nedelmann erklärte, wie Kocak seine Mutter und seinen Vater aus der gemeinsamen Wohnung in Sicherheit gebracht habe, als er in den frühen Morgenstunden des 1. Februar sein brennendes Auto bemerkt habe. Ein Feuerwehrmann soll Kocak gesagt haben, wenn das Feuer nur fünf Minuten länger ungehindert gebrannt hätte, hätte es auf das Haus übergegriffen und ihn und seine Eltern eingeschlossen.

Kritik an LKA und Verfassungsschutz

Nedelmann wies die Vorwürfe des Verteidigers Mirko Röder zurück, Kocak habe nur die Nebenklage eingeleitet, um seine politische Sache voranzutreiben. Erstens, weil dies bedeutete, dass Kocak von dem Angriff nicht schwer getroffen worden war. Im Gegenteil: Kocak befinde sich noch immer in psychiatrischer Behandlung wegen des Traumas, das er durch den Angriff erlitten habe, und seine Mutter habe nur wenige Wochen später einen Herzinfarkt erlitten und sei seitdem zu verängstigt gewesen, das Haus zu verlassen.

Außerdem sei es auch „naiv“ zu denken, man könnte den Angriff nicht als politisch einstufen; schließlich habe das Gericht aus abgehörten Telefonaten und Nachrichten zwischen Tilo P. und Sebastian T. gehört, wie sie wiederholt rassistische Ausdrücke in Bezug auf Kocak verwendeten, etwa „Kanake“ oder „Hurensohnbastard“. Nedelmann äußerte auch Kritik an Beamten des LKA sowie des Verfassungsschutzes; verdächtiges nachrichtendienstliches Material über die angebliche Verfolgung von Kocak durch die beiden Angeklagten sei bereits zwei Wochen vor dem Anschlag bekannt gewesen, aber nicht beachtet worden, sagte sie und erinnerte das Gericht daran, dass mehrere der Beamten, die in dem Prozess als Zeugen auftraten, selbst wegen rassistischer Äußerungen und Handlungen vor Gericht antworten mussten.

Der Staatsanwalt legte mehrere weitere Auszüge aus dem Schriftverkehr zwischen den beiden Angeklagten vor, aus denen hervorging, wie sie die Aufenthaltsorte und Handlungen ihrer Opfer besprachen. Außerdem wurde kurz nach der Tat ein Foto von Kocaks Auto auf Tilo P.s Computer entdeckt. Mirko Röder argumentierte jedoch in seinem Schlussvortrag, dass diese kein „objektives Beweismaterial“ darstellten und nicht verwendet werden konnten, um P. direkt mit dem Verbrechen der Brandstiftung in Verbindung zu bringen. „Eine Unschuldsvermutung gilt nicht für Tilo P., weil er aus der rechten Szene kommt“, sagte er – ausgerechnet den Pressebänken zugewandt.