Julius erzählt gerade von Yin und Yang, als meine Mitbewohnerin ins Wohnzimmer kommt. Wir sitzen in unserer Treptower Altbauwohnung bei einem Tee zusammen, die Sonne scheint durchs offene Fenster. Er hält kurz inne, als ob er nicht genau weiß, ob es klug sei, jetzt weiterzureden. Yin und Yang, fährt er fort, seien die beiden gegensätzlichen Prinzipien, die nur gemeinsam ein harmonisches Ganzes ergeben. Deswegen sei es von der Natur so gewollt, dass Männer erobern, entdecken und für Sicherheit sorgen. Die „natürliche Neigung“ von Frauen sei es, Kinder zu erziehen und das Haus zu hüten. Und überhaupt: „Männer sollten für ihre Männlichkeit wieder mehr Anerkennung bekommen.“
Julius heißt eigentlich nicht Julius. Er ist 26 Jahre alt, programmiert gerne und sitzt also viel vor dem Bildschirm. Seine kurzen braunen Haare sehen immer so aus, als wäre er gerade aufgestanden, er trägt meist unauffällige Kleidung, Jeans, T-Shirt, Brille. Als ich ihn das erste Mal traf, räumte er unsere Wohnung auf, nach einer Party, bei der er gar nicht mitgefeiert hatte. Ich hatte das Gefühl, er suche einfach Anschluss. Er wirkte freundlich, aber irgendwie verloren, oder „lost“, wie man sagt. Aber sagt man das nicht über viele in Berlin?
Rauswurf nach zwei Wochen
Wie genau es begann, weiß keiner mehr, aber wir hatten überlegt, ein Hochbett in die Speisekammer einzubauen und Julius hatte gerade Streit mit dem Besitzer seiner Wohnung. Doch wir entschieden, dass wir zu dritt schon genug in der WG seien. Wir wussten noch nicht, dass er eigentlich schon damals obdachlos war und in einem Zelt im Wald übernachtete.
Dann traf ich Julius das erste Mal allein. Er erklärte mir etwas übers Programmieren, über Computer, wirkte geduldig und angenehm zurückhaltend. Ich erinnerte mich, dass er vor kurzem verzweifelt vor unserer Tür stand und nach dem Hochbett fragte. In unserer Vierzimmerwohnung gibt es ein Wohnzimmer mit einer großen Couch, und meine Mitbewohnerin und ich planten, zwei Wochen in der Türkei zu verbringen. So war genug Platz, Julius suchte nur eine einmonatige Übergangslösung. Deshalb setzte ich mich in der WG für ihn ein und wir boten ihm an, zwei Wochen auf der Couch und zwei in einem der Zimmer zu verbringen.
Was Julius nicht wusste: Er war in einer WG mit drei Feministinnen gelandet. Als er nach ein paar Tagen von Jägern und Sammlerinnen und dem Mutter-Instinkt erzählte, bat meine Mitbewohnerin um ein WG-Gespräch. Das Gespräch dauerte mehrere Stunden, wir liefen durch den Plänterwald. Sie sagte, dass sie während unseres Urlaubs auf keinen Fall zwei Wochen allein mit ihm in der WG bleiben wolle.
Ich stellte mir in diesen Tagen viele Fragen: Muss man Sexismus in der eigenen Wohnung ertragen? Ist das nicht der Rückzugsort, den man sich so gestalten darf, dass man sich wohl fühlt? Muss ich trotzdem mehr Verständnis haben für seinen Standpunkt, vielleicht lernen, warum er zu diesem Ergebnis kommt? War Julius nicht auch ein schüchterner Nerd, der schlicht mehr Kontakte im richtigen Leben außerhalb seines Computerbildschirms brauchte? Können wir ihn nicht zum Nachdenken bringen oder an seinem Weltbild rütteln?
Julius wirkt nicht gewaltbereit. Aber einem Mann mit einer solchen Einstellung zu Frauen die Meinung zu sagen und weiterhin mit ihm zusammenzuwohnen, erschien auch mir riskant. Von den meisten Männern denkt man, sie würden niemals gewalttätig. Und trotzdem wurden in Deutschland im Jahr 2021 stündlich dreizehn Frauen Opfer von partnerschaftlicher Gewalt. Keine von uns war mit ihm einmal zusammen, aber ich konnte meine Mitbewohnerin verstehen und unterstützte sie gegenüber der dritten Mitbewohnerin. Sie hätte ihn bleiben lassen, da ihr Julius hauptsächlich leid tat.
Mächtige Fronten
Plötzlich war diese Spaltung der Gesellschaft, von der man immer so hört, in meinem Zuhause. Auch ich umgebe mich sonst vor allem mit Menschen, die so ähnlich denken wie ich. Anderen begegne ich kaum noch, die unterschiedlichen Ansichten haben Brücken abbrechen lassen und ich habe auch zugelassen, dass der Graben zur anderen Seite immer größer wurde.
Andererseits: Julius' Argumente waren schwach. Er sagte, dass die Macht im Patriarchat nicht so eindeutig verteilt sei. Frauen hätten auch Macht über Männer, weil Männer Frauen begehren. In den vergangenen Jahren wollten wenige Frauen mit Julius Sex haben, er sagt sogar, dass die Zurückweisungen sehr geschmerzt hätten. Und ja, es könnte sein, dass er deshalb so über Männer und Frauen denke. Vielleicht, sagte er, hasse er Frauen sogar.
Er selbst hatte nur eine Freundin, an die er noch oft denken müsse. Überhaupt wirkte er oft traurig. Mir fiel dann ein, dass die Yin/Yang-Diskussion ihren Anfang nahm, als er von seinen Eltern erzählte. Der Vater war selten da, viel arbeiten, doch Julius gab seiner Mutter die Schuld für die Scheidung. Ist es nicht die Aufgabe des Mannes, für die Familie zu sorgen? So begann es eigentlich. Er selbst hat also gelitten unter diesen Zuständen, die er jetzt propagiert.
Für Julius sei ein traditionelles Eheleben für Frauen eher entlastend. Und so ganz unrecht hat er nicht. Zwar dürfen Frauen heute wählen gehen und in Chefpositionen Überstunden machen, doch zu Hause sind sie trotzdem noch für die Kindererziehung und die Wäsche zuständig. Aber eine Rolle rückwärts hilft nicht bei der Hausarbeit und bringt Frauen um ihre Unabhängigkeit. Für Julius bedeutete die Trennung seiner Eltern auch viel seltener Kontakt zum Vater, der sich distanziert hat, statt weiterhin Verantwortung zu übernehmen. Seine Familie wurde auseinandergerissen und ist es immer noch. Und jetzt werfen wir ihn aus der Wohnung.
Als wir am Ende des Spaziergangs angelangt waren, fällt uns dreien auf, wie weit wir noch von einer Gleichberechtigung entfernt sind, egal ob wir ihn aus der WG werfen oder nicht. Julius werde seine Meinung so schnell nicht ändern, auch wenn er jetzt zwei Wochen woanders wohnen muss, wird nichts besser für ihn. Er hatte gesagt, dass der „Zeitgeist“ oder der „Mainstream“ ihm das Wort verbieten. Wahrscheinlich, so seine Befürchtung, werden wir sowieso bald in einem Matriarchat leben.




