Wie viele Menschen in Berlin inzwischen aufs Zweirad umgestiegen sind, kann man nicht nur an vollen Radwegen in Mitte, Neukölln, Friedrichshain oder Kreuzberg ablesen, man kann es auch messen. Im Jahr 2021 kamen die offiziellen Radzählstellen der Stadt auf 19,3 Millionen Radfahrerinnen und Radfahrer. Zwei Jahre zuvor waren es noch 18 Millionen gewesen.
Die Pandemie und das weit verbreitete Homeoffice sorgten zwar für ein paar Dellen in der Statistik, aber inzwischen fahren wieder mehr Berliner mit dem Rad – und nach dem Ende des 9-Euro-Tickets sind die Fahrradwege noch einmal deutlich voller geworden. Aktuell jedenfalls haben die 19 Zählstellen für dieses Jahr bereits fast 16 Millionen Radler registriert. Besonders viel Radverkehr herrscht demnach an der Jannowitz- und der Oberbaumbrücke.
Doch nicht nur dort trifft man sie an, diese nervigen Radfahrer-Typen. Jeder kennt sie, weil sie einem auf Berlins Straßen immer wieder begegnen. Die einen rasen, als müssten sie das Zeitfahren der Tour de France gewinnen, die anderen sind mit allem beschäftigt, nur nicht mit dem hauptstädtischen Straßenverkehr. Wer täglich mit dem Rad zur Arbeit pendelt, der kann sich eigentlich nur wundern, dass nicht noch viel mehr Unfälle passieren. Auf diese Nerv-Radler jedenfalls könnten wir getrost verzichten.
1. Der Tour-de-France-Teilnehmer
Nicht alle scheinen es zu wissen: Man kann in Berlin weder das Gelbe noch das Grüne Trikot gewinnen, und auf der Greifswalder Straße findet auch nicht die Schlussetappe der Tour de France statt. Dennoch macht der Berliner Renn-Radler gern einen auf Zeitfahren und treibt die Durchschnittsgeschwindigkeit, die beim Fahrradfahren für gewöhnlich bei 10 bis 25 km/h liegt, gewaltig nach oben.
Man erkennt diesen Typ Radfahrer nicht nur am Affenzahn, mit dem er an allen anderen vorbeirauscht. Auch die Kleidung ist entsprechend: Man trägt einen schnittigen, ultraleichten Helm mit linienförmigem Design, die Augen sind hinter einer halbrandlosen Brille versteckt, der athletische Körper wird mit eng anliegenden Trikots und farblich abgestimmten Radhosen betont, die Trinkflasche in der Halterung gelegentlich lässig mit einer Hand zum Mund geführt. Gefahren wird natürlich auf der Straße und nicht beim kriechenden Plebs auf dem Radweg – wo kämen wir denn da hin?

Wichtig sind auch der Gesichtsausdruck und die passende Gesamtanmutung: Man schaut ausschließlich nach vorn, ist dabei hoch konzentriert, lässt sich von nichts ablenken. Lächeln ist natürlich verboten. Manch einer scheint sich im monatelangen Jan-Ullrich-Lookalike-Training einiges beim Profi abgeschaut zu haben: ein verwegenes Äußeres, gleichförmige Gestik und Mimik, die keinen Schluss auf den Gemütszustand zulassen.
Nur: In Berlin heißt der Gegner nicht Lance Armstrong, sondern LKW und Lichtzeichenanlage. Spätestens an der nächsten roten Ampel ist Schluss mit dem Tour-de-France-Gefühl – und der Mann im Trikot wirkt auf einmal ganz schön albern. Das wäre gar nicht so schlimm, wenn nicht viele dieser Turbo-Rennradler auch eine anständige Beleuchtung und regelkonformes Fahren für lässlich hielten. Vorfahrt? Was für Schwächlinge!
2. Die Schleichkatze
Das Gegenteil des Möchtegern-Profisportlers ist nicht weniger nervig. „Auch Kriecher sind ein Verkehrshindernis“, pflegte mein Vater früher zu sagen, wenn wir auf der Autobahn fuhren und ein 80-km/h-Zuckler mal wieder die linke Spur nicht frei machte. Die Tirade von nachfolgenden Schimpfwörtern lasse ich jetzt mal weg – aber das eine oder andere ist mir hinter dem Radfahr-Typus Schleichkatze auch schon rausgerutscht.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich fahre selber eher langsam und werde oft überholt. Aber die Schleichkatze ist mit so viel Bedacht und Vorsicht unterwegs, dass sie quasi auf der Stelle tritt. Die Geschwindigkeit liegt im nicht messbaren Bereich. Getoppt wird das dann nur noch, wenn der Trödler an einer roten Ampel an allen auf Grün wartenden Radlern, die ihn vorher überholen mussten, links vorbeifährt, um sich oberschlau vorne wieder einzufädeln. Dann beginnt das Spiel von vorn – und alle regen sich auf.

Alle bis auf die Schleichkatze. Sie hat die Ruhe weg, ist mit sich und der Welt im Reinen und versteht überhaupt nicht, wo das Problem liegt. Das Leben ist schön – genau wie ihr Hollandrad aus dem Kreuzberger Szeneladen.
3. Die Plaudertasche
Neulich fuhr auf meinem zehn Kilometer langen Arbeitsweg eine Fahrradfahrerin vor mir, die ungelogen eine halbe Stunde in ihr Telefon ratschte. Gut, sie trug ein Headset, aber sie telefonierte dermaßen laut, dass am Ende mindestens zehn weitere Radfahrer Bescheid wussten, in welchem Mitte-Restaurant sie am Abend zuvor gespeist hatte, was es zu essen gab und warum sich ihre Nachbarn, die Patrizia und der Benedikt aus dem Seitenflügel, nach zehn Ehejahren trennen.
Nicht nur, dass das niemanden interessiert, es lenkt auch alle Verkehrsteilnehmer ab. Am meisten wohl die Plaudertasche selbst. Undenkbar, dass sie neben ihrem Redeschwall noch in der Lage sein könnte, auf akute Situationen zu reagieren oder Umgebungsgeräusche wahrzunehmen.

Muss man wirklich schwatzen, wenn man in einer aufmerksamkeitsfordernden, rasanten Stadt wie Berlin auf dem Rad sitzt? Auch viele Paare finden: ja! Das ist dann die Steigerung der alleinfahrenden Plaudertasche: die Babbelbande im Doppelpack. Da wird nebeneinander gefahren und genüsslich kaffeegeklatscht, händchengehalten und angebandelt. Konzentration und Tempo lassen immer weiter nach, bald bewegen wir uns im Schleichkatzenbereich. Alle anderen können sehen, wo sie bleiben – oder wie sie überholen.
4. Der Bullerbü-Träumer
Berlin ist nicht Bullerbü, das sollten inzwischen alle verinnerlicht haben. Oder? Ausgerechnet auf Radwegen scheinen sich einige Menschen nicht von der schönen Utopie verabschieden zu wollen. Besonders an heißen Sommertagen treten sie gern in Erscheinung, der Bullerbü-Träumer beziehungsweise die -Träumerin, die die Ostseestraße mit einem beschaulichen Küstenradweg verwechseln und sich auf der Prenzlauer Allee schon in der Uckermark wähnen.
Da flattert das lange Kleidchen zwischen den Speichen herum, die nackten Füße rutschen in Flip-Flops hin und her, das Haar darf von Helmen und sonstigem Sicherheitsschnickschnack gänzlich unbelastet in der Berliner Luft wehen. Wie bei Lisa, Lasse und Bosse auf dem schwedischen Dorf, wo es nur drei Höfe gibt und ganz viel Natur. Widewidewitt, bis einer abrutscht und stürzt.
5. Der Rad-Rambo
Jeder kennt ihn und hat schon seine leidvollen Erfahrungen mit ihm machen müssen: dem Rad-Rambo, wahlweise auch Rüpelradler, Kampfradler oder Vollhonk genannt. Er ist der König der Straße, der absolutistische Herrscher über seine Kampfzone. Für ihn gelten keine Regeln, keine Gesetze und keine roten Ampeln. Die Bremsen an seinem Rad sind nur Staffage und Absteigen ist nie eine Option.

Da wird sich zwischen Autos und Bussen hindurchgedrängelt, bis es kracht. Und wehe, es stellt sich ihm einer in den Weg, dann hagelt es Fäuste und Mittelfinger, mindestens. Jeder Zebrastreifen wird überfahren, egal ob Rollator-Rentner oder Kinderwagen im Weg sind, auch Fußwege sind zum Radeln da, wenn’s schneller geht oder man abkürzen kann. Platz machen müssen immer die anderen.
Am schlimmsten sind die Rad-Rambos, die sich passend zum Fahrstil auch noch das angemessen aggressive Zweirad zugelegt haben. Stichwort Fatbikes, jener Trend also, der bedauerlicherweise einst aus Amerika nach Europa rüberschwappte. Auch auf Berliner Straßen sieht und vor allem hört man sie gelegentlich, diese Mountainbikes mit den extradicken Reifen, die vielleicht auf Schlammpisten in den Rocky Mountains ihren Zweck erfüllen, aber sicher nicht im Stadtverkehr. Mir kam neulich ein Fatbike-Fahrer auf dem Radweg entgegen, er fuhr in einem Mordstempo in die falsche Richtung und machte keine Anstalten, mir auszuweichen. Hilfe!
6. Der Ranwanz-Radler
Corona hat es uns gelehrt: Abstand ist besser. Auf dem Fahrrad galt diese Regel übrigens auch schon in vorpandemischen Zeiten. Den distanzlosen Ranwanz-Radler aber interessiert das herzlich wenig. Es gibt ihn in zwei Ausführungen. Der erste Typ startet sein Zu-nahe-komm-Manöver beim Überholvorgang. Er passiert nichtsahnende Radler mit derart knappem Abstand, dass sich die Lenker fast berühren. Gern hat er auch nur ungefähr 0,0003 Sekunden mehr auf dem Tacho und klebt dann die ganze Zeit an einem dran. Furchtbar!
Der zweite Typ ist der, der sich vor der roten Ampel noch in einen Pulk von Wartenden schieben muss. Natürlich will er ganz vorn an der Startlinie sein und keinen Millimeter hintanstehen. Diese Konstellation führt dann dazu, dass der Ranwanzer seinem Nachbarn fast auf der Stange sitzt. Hauptsache, er kommt als Erster weg, sobald die Ampel umschaltet. Gefühlte Zeitersparnis solcher Aktionen: 0,0003 Sekunden.

Leider legt die Straßenverkehrsordnung zwar fest, dass man beim Überholen anderer Radfahrer einen ausreichenden Abstand einhalten muss. Was ausreichend ist, ist nicht genauer festgeschrieben. Schade.
7. Der dunkle Ritter
Bald wird es abends wieder deutlich früher dunkel. Das ist betrüblich, umso mehr für Herbst- und Winterradler. Denn nicht nur halten sich längst nicht alle an die Beleuchtungsvorschriften, manche kombinieren zum fehlenden Rücklicht auch noch schwarze Kapuzenpullis, schwarze Rucksäcke ohne Reflektoren, graue Jogginghosen und anthrazitfarbenes Schuhwerk.
Der dunkle Ritter ist schlichtweg nicht zu sehen, eine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer und für sich selbst. Die entsprechenden Polizeimeldungen lassen nicht lange auf sich warten: Im Januar wurde ein 33-jähriger Radfahrer bei einem Verkehrsunfall in Moabit schwer verletzt. Er war gegen 19.30 Uhr ohne Licht auf dem Radweg an der Siemensstraße unterwegs und kollidierte erst mit einer LKW-Tür und dann mit einem Auto. Der LKW-Fahrer, der die Fahrertür geöffnet hatte, um auszusteigen, hatte den Dunkelradler schlicht übersehen.





