Vor einigen Tagen hat mein Kollege Sören Kittel zwei Fälle dokumentiert, die ich ganz unabhängig voneinander symptomatisch für diese Stadt empfinde. Sie stehen für eine irgendwie befremdlich-komische Atmosphäre, die mittlerweile von einer Menge Leute in meinem Umfeld wahrgenommen wird und die ich vor ein paar Jahren noch nicht so empfunden habe. In dem einen Fall zeigte ein Mann den Hitlergruß vor dem Hotel Adlon am Pariser Platz. Der Mann reckte unbehelligt von fotografierenden Passanten den Arm in die Höhe, bis die Polizei eintraf. Der 26-jährige Mann gestand, den Hitlergruß gezeigt zu haben. Aber: Er habe gar nicht gewusst, dass dieser verboten sei. Warum er das tat, blieb unklar. So weit, so bescheuert.

In dem anderen Fall gerieten ein FreeNow-Fahrer und Radfahrer so in Streit, dass die Auseinandersetzung im Krankenhaus endet, zumindest für den Radfahrer, der von dem Autofahrer absichtlich angefahren wurde. Bei beiden Fällen kann man natürlich einfach mit den Schultern zucken und sie damit abtun, dass das eben so ist in einer Großstadt. Idioten gibt es überall und dass Autofahrer und andere Verkehrsteilnehmer sich aneinander abarbeiten bis hin zur körperlichen Auseinandersetzung, ist nun wirklich kein exklusives Berlin-Problem.
Gefühlte Sicherheit, mangelnde Sauberkeit
So würde ich es in der Regel auch machen: Lesen und vergessen. Beziehungsweise unter „obskures Stadtleben“ abheften. Das mag ignorant klingen, dient aber meinem Selbstschutz, den man in einer Stadt wie Berlin sicherlich braucht. Doch in der letzten Zeit fällt mir das nicht mehr so leicht wie früher. Das mag daran liegen, dass auch ich in der Pandemie dünnhäutiger geworden bin. Das ich weniger resilient bin gegenüber dem alltäglichen Bullshit, der uns allen widerfährt. Gegenüber dem gezeigten Mittelfinger im Straßenverkehr, der Unfreundlichkeit im Supermarkt, der Langsamkeit im öffentlichen Bereich und vielleicht den Querelen im Privaten.
Oder aber: All diese Fälle häufen sich. Der Streit, die Randale, der Dreck und der Frust in dieser Stadt haben zugenommen. Ich habe schon öfters über den Berliner Verkehr geschrieben, über die Probleme unterschiedlicher Verkehrsteilnehmer, über das selbstherrliche Verhalten von Lastenradfahrern und die Aggressivität zwischen Auto- und Radfahrern, über Ecken, die wirken, als ob man sie irgendwie sich selbst überlassen habe und das alltägliche Miteinander, das roher wird. Über so eine Egal-Haltung gegenüber dem Eigentum und der Meinung anderer.

Was mich an Berlin konkret nervt und was sich ändern sollte, damit diese Stadt lebenswert bleibt:
Nimmt man nur einmal den Tourismus. Ich finde, dass Berlin mittlerweile als Feriendestination in erster Linie von sauffreudigen Hostelgruppen, Clubtouristen und Bierbike-Spaßvögeln angesteuert wird. Die Hauptsache scheint zu sein, dass möglichst viel Geld hiergelassen wird. Wofür, spielt offenbar eine untergeordnete Rolle. Wer einmal einen Abend in Mitte oder in Friedrichshain auf der Straße war, der weiß, wovon ich rede: grölende Junggesellenabschiede, Pubcrawler und Ballermanntruppen dominieren in vielen Ecken das Partybild an einem durchschnittlichen Wochenende. Vordergründig herrscht gute Laune, unterschwellig spürt man Aggression, die jederzeit kippen kann. Bilde ich mir das ein?
Wenn dem nicht so ist, ergeben sich daraus zwei weitere Aspekte, die Berlin zu einer anstrengenden Stadt machen: Sicherheit und Verschmutzung. Zum einen das Gefühl, sich in einem wenig sicheren Raum zu bewegen, in einer Metropole, in der die Gewaltausbrüche gegen Andersdenkende, Andersfühlende in den vergangenen Jahren zugenommen haben. Vielleicht ist das aber auch dem Umstand geschuldet, dass sich diese Gruppen emanzipieren und mehr Raum in dieser Stadt für sich beanspruchen, was durchaus wünschenswert ist. Der andere Aspekt ist die zunehmende Verschmutzung Berlins, die sicherlich nicht den Betrieben wie der BSR oder Grün Berlin geschuldet ist.
Der große Graben
Es ist einfach eine zunehmende „Scheißegal“-Haltung der Menschen in dieser Stadt. Seien es die Besucher, seien es die Bewohner. Viele Menschen behandeln diese Stadt wie eine Art Open-Air-Müllkippe, für die sie keinerlei Verantwortung tragen. Ein bisschen wie Mittelklasse-Teenager, die sich darauf verlassen, dass Mutti schon hinter ihnen aufräumt. Die, wo sie gehen und stehen, einfach alles liegen- und fallenlassen. Irgendjemand räumt den Mist ja schon weg. Was natürlich ein Irrtum ist, denn das „Wegräumen“ kostet die Stadt jedes Jahr eine riesige Summe, die natürlich anderswo wieder reingeholt wird. Zu kurz gedacht.

Ein anderes Problem, mit dem sich Berlin nun schon seit Jahren herumplagt und das aktuell zu den am schwersten zu bewältigenden gehört, ist der Verkehr. Die Stadt befindet sich in einer brutalen Verkehrswende, weg vom Auto, das mit fossilen Brennstoffen angetrieben wird, hin zu alternativen Fortbewegungsmitteln, Elektro-Autos, einem leistungsstärkeren ÖPNV und natürlich dem Fahrrad, der ökologischen Alternative zu allem.

Leider, und das zeigt auch der oben erwähnte Fall exemplarisch, gibt es einen großen Graben, ein großes Missverständnis darüber, wem der öffentliche Raum zuvorderst gehört: Autofahrer gegen Radfahrer gegen Fußgänger und so weiter. Alle drei Gruppen beanspruchen die Stadt für sich und alle drei gehen davon aus, dass ihre jeweilige Art der Mobilität die richtige ist. Sprich: die, für die alle anderen Platz zu machen haben.
Jedenfalls fühlt es sich oft so an, wenn man beobachtet, mit welchem Hoheitsanspruch auf den Straßen und Bürgersteigen sich diese Gruppen zueinander verhalten. Hier gilt das Recht des Stärkeren, am Ende steht der Fußgänger als Leidtragender gegenüber Rädern und Autos. Und Fahrradfahrer logischerweise gegenüber Autos jedweder Art.
Was dieser Stadt, man kann es nur wiederholen, guttun würde, wäre ein Umdenken ihrer Bürgerinnen und Bürger, ihrer Besucherinnen und Besucher hin zu mehr Respekt und Achtung, zu einem freundlicheren Miteinander im alltäglichen Leben. Anders wird Berlin seinen vermeintlichen Status als weltoffene Metropole nicht halten können.







