Dass in ihrer Heimat Krieg ist, hatte Viktoria Günther am frühen Morgen des 24. Februar via Facebook und Instagram erfahren. Während die junge Frau in ihrem Mahlsdorfer Reihenhaus dabei war, ihre kleine Tochter für die Kita vorzubereiten, berichteten Freunde aus der Ukraine in knappen Zeilen von Granatfeuer, Luftangriffen und rollenden Panzern. „Es war ein Schock“, sagt sie und dass seitdem auch in ihrem Leben alles anders sei. Von Zeitenwende spricht sie nicht.
Wir treffen die 35-Jährige in einer Catering-Firma in der Biesdorfer Oberfeldstraße. Auf dem Wirtschaftshof des Unternehmens Beef & Co ist ein großes Zelt aufgebaut. Unter dessen Dach stehen Tische mit Kartons voller Babynahrung, Desinfektionstücher oder Windeln. Viktoria Günther bittet in das kleine Büro der Firma, wo es etwa ruhiger sei. Sie hat die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, trägt Jeans und Hoody, keinen Schmuck und kein Make-up. Vor ihr liegen zwei Handys, deren Displays sie immer wieder checkt. Daneben steht ein Becher mit schwarzem Kaffee. Dann erzählt Viktoria Günther von der Zeit, nachdem in der Ukraine der Krieg begonnen hatte.
Wenigstens denen helfen, die es aus dem Land schaffen
Davon, dass sie ihren 90 Jahre alten Großvater, der in Tscherkassy am Dnepr lebt, sofort nach Deutschland holen wollte. Dass der aber ablehnte, weil er krank sei und die Katze nicht allein lassen könne. Und sie erzählt, dass sie auch ihrem Vater im Südosten des Landes nicht helfen konnte. „Ich fühlte mich so ohnmächtig“, sagt sie. Aber die Ohnmacht hielt nicht lang.
Als die ersten Fernsehbilder von Flüchtlingen zu sehen waren, die mit nichts das Land verließen, und man in Berliner Verwaltungsstuben noch sehr vage mutmaßte, was der Krieg im Osten wohl für die Stadt im Westen bedeuten könnte, nahm die junge Frau ihr Handy zur Hand und brachte von ihrem Mahlsdorfer Wohnzimmer aus mit ein paar Posts auf ihren Social-Media-Kanälen spontan eine Spendenaktion in Gang, die schnell ein beeindruckendes Ausmaß annehmen sollte. „Es war purer Aktionismus“, sagt sie. „Ich wollte was machen und habe überhaupt nicht nachgedacht. Aber es war richtig.“ Wenigstens denen helfen, die es aus dem Land schaffen. Das war ihr Antrieb.

Viktoria Günther, die von allen, mit denen sie zu tun hat, nur Vika genannt wird, lebt seit 23 Jahren in Berlin. Als Zwölfjährige kam sie mit ihrer Mutter aus der Ukraine in die Stadt. Sie ging in Mahlsdorf zur Schule, machte dort das Abitur und studierte danach Eventmanagement. Sie hat in Berlin geheiratet und seit Jahren einen guten Job als Eventmanagerin bei einer großen Fitness-Kette.
Günther spricht ruhig und leise, und ab und zu lächelt sie, was sie weniger blass erscheinen lässt. Sie sagt, dass sie wegen der Aktion zwar Urlaub genommen habe, aber zurzeit dennoch kaum mehr als vier Stunden schlafe. Nur zwischen zwei und sechs Uhr morgens finde sie dafür Zeit. Wie lange schon? „Na, seit drei Wochen“, antwortet sie, und ihr Blick lässt deutlich erkennen, dass die Frage ziemlich dämlich war. „Seit Krieg ist.“
Als sie an jenem Sonnabend vor drei Wochen Berlinerinnen und Berliner darum bat, sie bei „Vika hilft“ zu unterstützen, standen nur wenige Stunden später ihr völlig unbekannte Menschen mit prall gefüllten Taschen an ihrem Gartenzaun. Sie brachten Schlafsäcke und Windeln, Tütensuppen und Hundefutter. „Wildfremde Leute haben mir Geldscheine in die Hand gedrückt“, erzählt Viktoria Günther mit feuchten Augen. „‚Helfen Sie!‘, haben sie sagt.“

Damit hatte die junge Frau nicht gerechnet. Schon am nächsten Tag hatte sich ihr Vorgarten in ein Warenlager verwandelt. Ein Mann aus der Nachbarschaft bot an, die Spenden mit seinem Auto an die 900 Kilometer entfernte ukrainische Grenze zu bringen. „Einfach so“, sagt sie. Bis unter das Dach hatten sie das Auto beladen, die Dachbox mit Windeln vollgestopft. „Das war unser erster Transport“, erinnert sich Viktoria Günther.
Inzwischen ist der Hof des Biesdorfer Caterers das Logistikzentrum der Aktion. Die befreundeten Inhaber der Firma hatten ihr die Nutzung angeboten. Täglich außer sonntags werden dort zwischen 14 und 18 Uhr Spenden entgegengenommen und Touren zusammengestellt. Längst nutzt Günther ihre Erfahrung als Eventmanagerin, um die Sammlung zu lenken.
Etwa 30 bis 40 Helferinnen und Helfer sind mittlerweile abwechselnd im Einsatz. Fast täglich fährt ein Transporter an die ukrainisch-polnische Grenze. Oft sind es sogar mehrere am Tag. Auf dem Rückweg nehmen sie Flüchtlinge mit nach Berlin. 40 Familien waren es bislang, die hier auch bei der Suche einer Unterkunft, einem Kita-Platz oder einer Arbeitsstelle unterstützt werden. Zusammen mit einer ausgebildeten Psychologin aus der Ukraine wird Seelsorge angeboten.
Was von den Menschen benötigt wird, ermitteln die Fahrer vor Ort an der Grenze. Vor allem aber erfährt es Viktoria Günther über ihr weites Netzwerk in der Ukraine. Auf der Website Vikahilft.de werden danach Bedarfslisten veröffentlicht und stetig aktualisiert. Als zu Wochenbeginn die Nachfrage nach Kinderbuggys stieg, weil viele Frauen mit ihren Kindern auf dem Arm über die Grenze kommen, hatten sie in Biesdorf zwei Tage später 30 Buggys zusammen und konnten sie auf die Reise schicken.

Einer der freiwilligen Fahrer ist Anatolij. Ein Ukrainer von Mitte 20, der in Berlin studiert. Er war bereits sechsmal mit einem Miet-Transporter gen Osten unterwegs und fährt auch bis weit in die Ukraine. Sogar bis nach Tscherkassy. Viktoria Günther nimmt ihr Handy und zeigt ein Foto, das ihren Opa mit dem Päckchen seiner Enkelin zeigt. Ihr stehen die Tränen in den Augen. „Wir telefonieren oder schreiben täglich“, sagt sie. Es gehe ihm gut.


